L 2 U 30/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 27 U 816/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 30/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. April 1998 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Verletztenrente trotz zuvor gewährter Abfindung gegen die Beklagte hat.

Die im Jahre 1929 geborene Klägerin erhielt zunächst aufgrund des Bescheides vom 28. Mai 1973 von der Beklagten eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v.H. wegen der Folgen eines am 14. Juli 1971 erlittenen Arbeitsunfalls. Nachdem der Facharzt für Chirurgie Dr. C im Auftrag der Beklagten am 20. März 1974 die Klägerin begut-achtet hatte, stellte die Beklagte - dem Ergebnis des Gutachtens folgend - die Rente mit nicht angefochtenem Bescheid vom 24. April 1974 mit Wirkung vom 1. Juni 1974 mit einer MdE von 25 v.H. neu fest. Es sei in den Verhältnissen, die für die Feststellungen der bisher gewähr-ten Rente maßgebend gewesen seien, eine wesentliche Änderung eingetreten. Der Verren-kungsbruch des linken Knöchelgelenks sei knöchern fest komplett verheilt, es bestünden keine Zysten mehr und die Beugehinderung des linken Kniegelenks habe sich gebessert. Mit Be-scheid vom 28. Januar 1986 fand die Beklagte auf Antrag der Klägerin die Verletztenrente gemäß § 604 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf Lebenszeit ab.

Mit einem am 11. April 1996 eingegangenen Schreiben vom 4. April 1996 beantragte die Klä-gerin bei der Beklagten zum wiederholten Male die Wiedergewährung ihrer Verletztenrente wegen einer Verschlimmerung der Unfallfolgen. Durch die Fußverletzung habe sich ihr Ge-sundheitszustand derart verschlechtert, dass sie nicht mehr laufen könne.

Nach Einholung eines Befundberichts des die Klägerin behandelnden Arztes für Allgemeinme-dizin Dr. K vom 3. Juni 1996 veranlasste die Beklagte auf Empfehlung des Beratenden Arztes für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. St vom 26. Juni 1996 eine Nachuntersuchung der Klägerin durch den Chirurgen Dr. M bei der Unfallbehandlungsstelle der Berufsgenossenschaften e.V.

Mit Bescheid vom 21. November 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1997 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Aus dem Gutachten von Dr. M vom 21. Oktober 1996 gehe hervor, dass als wesentliche Unfallfolgen nur noch eine unvoll-ständige Versteifung des linken Sprunggelenks, eine Spitzfußstellung des linken Sprunggelenks mit indirekter Verkürzung des linken Beines, eine geringe Verschmächtigung der linken Bein-muskulatur mit Muskelkraftminderung sowie eine Verdickung des linken Sprunggelenks vor-liege. Von Seiten des Gutachters werde die MdE weiterhin mit 25 v.H. eingeschätzt. Der Gut-achter habe jedoch den Befund nicht mit dem letzten maßgeblichen Vorgutachten vom 20. März 1974, sondern mit einem Gutachten vom 30. Oktober 1975 verglichen. Daraufhin sei der Beratungsarzt Dr. K um Stellungnahme gebeten worden. Dieser habe in seiner Stellung-nahme vom 27. August 1997 eine wesentliche Verschlechterung im Vergleich zum letzten maßgeblichen Gutachten verneint.

Das Klageverfahren ist ohne Erfolg geblieben. Mit Gerichtsbescheid vom 16. April 1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Entsprechend den überzeugenden Ausführungen des Gutachters Dr. M habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin nicht dahin verschlimmert, dass die Folgen des Unfalls vom 14. Juli 1971 eine MdE von mehr als 25 v.H. nach sich zögen.

Gegen den ihr am 12. Mai 1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 22. Mai 1998 Berufung eingelegt.

Nach Einholung eines Befundberichts von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. K vom 7. Dezember 1998 hat der Senat den Orthopäden Dr. E zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Dieser kam in seinem Gutachten vom 23. März 1999 im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass die unfallbedingte MdE unverändert mit 25 v.H. einzuschätzen sei.

Zu dem Gutachten haben sich die Beteiligten nicht geäußert.

Die Klägerin ist auch weiterhin der Auffassung, der von ihr geltend gemachte Anspruch sei begründet.

Die Klägerin beantragt, wie ihrem schriftlichen Vorbringen zu entnehmen ist,

unter Aufhebung des Gerichtsbescheides vom 16. April 1998 sowie des Bescheides vom 21. November 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1997 die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Juli 1971 im Wege der Wiedergewährung Verletztenteilrente in Höhe von mindestens 10 v.H. der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten ge-wechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen. Die Gerichtsakte und die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (Band 1 bis 3) lagen dem Senat bei seiner Entscheidung vor.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Betei-ligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Wiedergewährung ihrer Verletztenrente, so dass der angefochtene Bescheid vom 21. November 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1997 rechtmäßig und die Klägerin hierdurch in ihren Rechten nicht verletzt ist.

Vorliegend kommen auch weiterhin die Vorschriften des Unfallversicherungsrechts der RVO nach § 212 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch (SGB VII) zur Anwendung, weil der Versiche-rungsfall vor dem Außerkrafttreten des Dritten Buchs der RVO am 31. Dezember 1996 (Arti-kel 35 Nr. 1, 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes -UVEG- vom 7. August 1996, Bundesgesetzblatt I S. 1254, 1317) eingetreten ist und keiner der in den §§ 213 ff. SGB VII geregelten Ausnahmefälle gegeben ist.

Nach § 605 RVO ist der Anspruch auf Verletztenrente trotz Abfindung insoweit begründet, als die Folgen des Arbeitsunfalls sich nachträglich wesentlich verschlimmern. Als wesentlich gilt eine Verschlimmerung nur, wenn durch sie die Erwerbsfähigkeit des Verletzten für länger als einen Monat um mindestens 10 v.H. weiter gemindert wird. Die Vorschrift bezieht sich auf Abfindungen, die - wie hier - gemäß § 604 RVO vorgenommen worden sind. Anders als nach § 606 RVO lebt die abgefundene Rente allerdings bei einer durch die Verschlimmerung um ins-gesamt weniger als 50 v.H. geminderten Erwerbsfähigkeit nicht insgesamt wieder auf, es wird vielmehr eine Verletztenrente nur in Höhe des Verschlimmerungsanteils von mindestens 10 v.H. gezahlt

Ob „nachträglich“ eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist, ist durch Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit denjenigen zu ermit-teln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen (vgl. BSG, Urteil vom 20. April 1993 - 2 RU 52/92 - SozR 3-1500 § 54 SGG Nr. 18). Dabei muss jede Änderung in dem Gesund-heitszustand eines Unfallverletzten selbständig auf ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall geprüft werden. Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesent-lich mitgewirkt hat. Dabei müssen die Gesundheitsstörungen nachgewiesen sein, während es für die Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsstörung ausreicht, wenn eine „Wahrscheinlichkeit“ vorliegt, weil es im Regelfall nicht mit einer jeden Zweifel ausschließenden vollkommenen Sicherheit möglich sein wird, die Kausalität nachzuweisen. Ein Zusammenhang ist wahrscheinlich, wenn bei Abwägung der für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen diese so stark überwiegen, dass darauf die Überzeugung der entscheidenden Stelle begründet werden kann.

Da die letzte Leistungsfeststellung mit Bescheid vom 24. April 1974 erfolgte, müsste gegen-über den diesem Bescheid zugrunde liegenden Verhältnissen eine Zunahme der MdE um min-destens 10 v.H. erfolgt sein, ehe eine Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung erfolgen könnte.

Dies ist jedoch zur vollen Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze und des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht der Fall. Vielmehr ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass gegenüber den im Zeitpunkt der letzten bindenden Feststellung der Verletztenteilrente durch den Bescheid vom 24. April 1974 und dem zugrunde liegenden Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. C vom 20. März 1974 in den maßgebenden Verhältnissen, die bis zur Abfindung durch den Bescheid vom 28. Januar 1986 im Wesentlichen unverändert vorlagen, keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist. Dies ergibt sich insbesondere aus dem überzeugenden Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. E vom 23. März 1999, welches sachlich, widerspruchsfrei und sorgfältig ist und in dem die bestehenden Befunde vollständig erhoben sowie arbeitsmedizinisch vor dem Hintergrund der allgemein geltenden Begutachtungsmaßstäbe ausgewertet sind.

Danach ist festzuhalten, dass der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten als Unfallfolge im linken Fußgelenk eine Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks in ungünstiger Spitzfußstellung von 25°, bei einer lediglich unvollständig knöchernen Versteifung des oberen Sprunggelenks festgestellt hat.

Die vom gerichtlichen Sachverständigen hierfür vorgeschlagene MdE in Höhe von 25 v.H. bewegt sich im Rahmen der im unfallversicherungsrechtlichen Schrifttum vertretenen Auffassungen. Danach wird für eine Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks von Schön-berger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6., neu bearbeitete Auflage, 1998, Seite 695, eine MdE von 30 v.H. vorgeschlagen, während Mehrhoff/Muhr, Unfallbegut-achtung, 10., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage, 1999, Seite 154, hierfür lediglich eine MdE von 20 v.H. vorsehen. Demgegenüber schlagen beide unfallversicherungsrechtlichen Nachschlagewerke übereinstimmend erst ab einer völligen Versteifung des oberen Sprungge-lenks im Winkel von mehr als 20° (Spitzfuß) eine MdE von 30 v.H. vor. Die von dem gericht-lichen Sachverständigen vorgenommene Bewertung ist daher nicht zu beanstanden.

Die zusätzlich vom gerichtlichen Sachverständigen festgestellte Fußwurzelarthrose der Kläge-rin konnte hingegen zu keiner Erhöhung der MdE führen, da - wie der Sachverständige nach-vollziehbar erläutert hat - diese symmetrisch links wie auch rechts nachgewiesen wurde, so dass sie nicht als Unfallfolge, sondern als schicksalsbedingt bei einer zum Zeitpunkt der Begut-achtung fast 70-jährigen Klägerin anzusehen ist.

Offenbleiben kann im Übrigen, ob der von Dr. M in seinem Gutachten vom 21. Oktober 1996 erhobene Befund einer Wackelbeweglichkeit des linken oberen und unteren Sprungelenkes zutrifft, was vom gerichtlichen Sachverständigen jedenfalls nicht festgestellt und überhaupt nur im Sinne einer minimalen Wackelbeweglichkeit für möglich erachtet wurde. Denn nach Schön-berger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., würde erst eine schmerzhafte Wackelsteife eine MdE von 30 v.H. nach sich ziehen.

Demgegenüber hatte Dr. C in seinem Gutachten vom 20. März 1974 im linken Fußgelenk ei-nen Zustand beschrieben, der von den Feststellungen durch den gerichtlichen Sachverständigen im Wesentlichen nicht abweicht, und für den er eine MdE von 25 v.H. vorgeschlagen hatte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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