L 2 P 2/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 99/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 2/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 3. Dezember 2007 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2007 verpflichtet, der Klägerin 2.132,00 EUR zu erstatten.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte trägt 1/3 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung wegen häuslicher Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson für 2005 und 2006 in Höhe von 6.320 EUR.

Die Beklagte gewährt der 1990 geborenen Klägerin auf Antrag vom 23. Dezember 1994 seit 1. April 1995 Geldleistungen der Pflegestufe III. Am 24. November 2006, eingegangen am 28. November 2006, beantragten ihre Eltern als gesetzliche Vertreter Leistungen der Verhinderungspflege nach § 39 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI). Wegen Erholungsurlaubs, Krankheit etc. habe an - mit Datum benannten - 23 Tagen im Jahre 2005 (mit täglich sieben Stunden, insgesamt 161 Stunden) und 20 Tagen im Jahre 2006 (15 Tage mit täglich acht Stunden, 5 Tage mit täglich sieben Stunden, insgesamt 155 Stunden) die Pflege durch Frau N. D. als Pflegeperson durchgeführt werden müssen. Mit Bescheid vom 30. November 2006 sicherte die Beklagte Leistungen ab dem Tag der Antragstellung zu. Eine rückwirkende Kostenerstattung sei allerdings nicht möglich.

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie habe keine Kenntnis davon gehabt, dass ein Antrag vorab gestellt werden müsse. Sie sei dahingehend von der Beklagten nicht informiert oder beraten worden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2007 zurück. Leistungen würden gemäß § 19 Abs. 1 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) in Verbindung mit § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI ab Antragstellung gewährt. Sie sei ihrer Auskunfts- und Beratungsverpflichtung nachgekommen, da vielerorts entsprechendes Informationsmaterial erhältlich sei. Insbesondere sei die Familie bei der Antragstellung auf Pflegeleistungen auf die verschiedenen Leistungen der Pflegeversicherung hingewiesen worden. Im Übrigen sei ihr die Möglichkeit der Verhinderungspflege bekannt gewesen, da der Vater der Klägerin diese bereits am 15. Juli 1996 für den Zeitraum vom 1. August bis 1. September 1996 beantragt habe. Schließlich sei der Klägerin für die geltend gemachten Zeiträume bereits durchgehend Pflegegeld ausgezahlt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom 17.01.1996, BRK 4/95) sei eine Kumulierung von Verhinderungspflege und Pflegegeld für den gleichen Zeitraum auszuschließen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Nürnberg begehrte die Klägerin Leistungen der Verhinderungspflege für 23 Tage im Jahre 2005 und 20 Tage im Jahre 2006. Die Beklagte hätte sie in Kenntnis der langjährigen Pflegebedürftigkeit über die Möglichkeiten der Bezugs von Leistungen aus der Verhinderungspflege informieren müssen. Im Übrigen seien diese Leistungen neben dem monatlichen Pflegegeld zu erbringen. Es handele sich nur um eine stundenweise Verhinderungspflege; es sei weiterhin die Pflege in den betreffenden Monaten durchgeführt worden.

Die Beklagte bezog sich auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheides und wies ergänzend auf die häufigen persönlichen oder telefonischen Kontakte hin. Die Klägerin hätte dabei die Möglichkeit gehabt, in Erfahrung zu bringen, ob es Leistungen der Verhinderungspflege nach wie vor gebe und unter welchen Voraussetzungen diese Leistungen zur Verfügung gestellt würden.

Mit Urteil vom 3. Dezember 2007 wies das Sozialgericht die Klage ab. Aufgrund des bereits 1996 gestellten Antrags habe die Beklagte davon ausgehen müssen und dürfen, dass der Klägerin bzw. ihren Eltern das Antragserfordernis bekannt gewesen sei. Im Übrigen sei der gleichzeitige Bezug von Pflegegeld und Verhinderungspflege nach der Rechtsprechung des BSG ausgeschlossen. Ein Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen nach § 39 SGB XI scheide ebenfalls aus, weil in dem Antrag auf Leistungen nach § 39 SGB XI angegeben gewesen sei, dass der Ersatzpflegeperson keine derartigen Aufwendungen entstanden waren. Somit obliege es allein der Klägerin bzw. ihren Eltern, aus dem für die streitigen Monate gezahlten Pflegegeld der Ersatzpflegekraft noch etwas zuzuwenden.

Zur Begründung der Berufung hat die Klägerin vorgebracht, sie habe nicht gewusst, dass der Antrag vorab zu stellen sei; sie sei dahingehend auch nie beraten worden. Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass es sich nur um eine stundenweise Leistungserbringung gehandelt habe. Nach dem gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände zu § 39 SGB XI werde das Pflegegeld bei Inanspruchnahme der Ersatzpflege von weniger als acht Stunden täglich nicht gekürzt.

Die Beklagte hat sich auf die Begründungen des Widerspruchsbescheides und des sozialgerichtlichen Urteils berufen.

Der Senat hat die Beteiligten auf das Gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 10. Oktober 2002 zur häuslichen Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson § 39 SGB XI hingewiesen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mitgeteilt, dass eine Betreuerbestellung noch nicht erfolgt sei. Ferner hat er eine Entgeltvereinbarung vom 11. April 2008 zwischen den Eltern und Frau D. in Höhe von 20.- EUR je geleistete Stunde und ein Erinnerungsschreiben der Frau D. vom 14. April 2008 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 3. Dezember 2007 und den Bescheid vom 30. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Leistungen der Verhinderungspflege für 161 Stunden im Jahr 2005 und 155 Stunden im Jahr 2006 in Höhe von insgesamt 6.320 EUR zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und teilweise begründet.

Bis zum Eintritt der Volljährigkeit am 30. März 2008 wurde die Klägerin von ihren Eltern gesetzlich vertreten. Darüber hinaus ist eine Betreuung noch nicht angeordnet. Gemäß § 202 SGG i.V.m. § 86 Zivilprozessordnung (ZPO) besteht die vorliegende Prozessvollmacht fort. Eine Unterbrechung tritt ohne Antrag des Bevollmächtigten gemäß § 246 Abs. 1 ZPO nicht ein.

Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegekasse die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen je Kalenderjahr, § 39 S. 1 SGB XI. Zusätzlich können von der Pflegekasse auf Nachweis notwendige Aufwendungen, die der Pflegeperson im Zusammenhang mit der Ersatzpflege entstanden sind, übernommen werden, § 39 S. 4 SGB XI. Gemäß § 19 SGB IV bzw. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI erfolgt die Leistungsgewährung auf Antrag. Allerdings ist eine Kostenübernahmeerklärung der Pflegekasse vor Beginn der Verhinderungs- bzw. Ersatzpflege grundsätzlich nicht erforderlich (Udsching, SGB XI, § 39 Rdnr. 2). Ein Antrag ist damit Voraussetzung für den Leistungsanspruch. Ein derartiger Antrag wurde von der Klägerin erst nach Abschluss der Ersatzpflege gestellt. Dieser muss jedoch nicht stets im Voraus gestellt sein, so dass nicht nur eine Kostenübernahme, sondern auch eine - nachträgliche - Kostenerstattung in Betracht kommt (so auch Udsching, a.a.O., wonach es sich bei der Ersatzpflege um eine Form der Kostenerstattung handelt). Während nämlich § 13 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) für die Krankenversicherung eine besondere Regelung zum Ablauf der Kostenerstattung enthält, sieht das SGB XI eine dem § 13 SGB V entsprechende Regel oder einen Verweis darauf nicht vor. Nach dieser Regelung besteht grundsätzlich kein Kostenerstattungsanspruch, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung hierüber nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Eine analoge Anwendung dieser Regelung auf die vorliegende Fallgestaltung des § 39 SGB XI ist nicht gerechtfertigt, insbesondere ist eine Regelungslücke im Gesetz nicht erkennbar.

Dementsprechend heißt es zutreffend auch in dem Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des PflegeVG vom 10.10.2002 zur häuslichen Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson § 39 SGB XI unter 2: "Anspruchsvoraussetzung ist nicht, dass die Leistung im Voraus beantragt wird."

Da eine Antragstellung vor Durchführung der Ersatzpflege somit nicht gefordert werden kann, spielen Fragen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs keine Rolle.

Gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, ob das unstreitig gezahlte Pflegegeld auf Leistungen der Ersatzpflege anzurechnen ist. Zweck der Ersatzpflege ist, den Ausfall einer selbstbeschafften nichterwerbsmäßigen Pflegeperson zu kompensieren. Ein gleichzeitiger Bezug von Pflegegeld nach § 37 SGB XI kommt daher grundsätzlich nicht in Betracht (BSG SozR 3-2500 § 56 Nr. 2; s.a. Udsching, a.a.O., § 39 Rdnr. 12 und § 37 Rdnr. 4; a.A.: Leitherer, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 39 SGB XI, Rdnr. 20). Der Senat schließt sich dieser Ansicht an. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei Inanspruchnahme der Verhinderungspflege eine Sicherstellung der Pflege mit Hilfe des Pflegegeldes gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 SGB XI nicht gewährleistet ist (BSG a.a.O,. Udsching, a.a.O., Rdnr. 12).

Allerdings machte die Klägerin für 2005 nur jeweils täglich sieben Stunden (insgesamt 161 Stunden) Pflegeverhinderungszeiten und für 2006 für die Zeit vom 18. September 2006 bis 22. September 2006 sieben Stunden täglich, ansonsten acht Stunden täglich (insgesamt 155 Stunden) geltend. Eine Entlastung der Pflegeperson betrifft allein die Zeit zwischen 11 bzw. 12 Uhr bis 18 bzw. 19 Uhr. Dies stellt nur einen Teil der Gesamtpflege für die Klägerin dar, so dass von einer fehlenden Sicherstellung der Pflege nicht ausgegangen werden kann. Zutreffend verweist die Klägerin deshalb auch darauf, dass nach dem o.g. Gemeinsamen Rundschreiben das Pflegegeld bei stundenweiser Inanspruchnahme der Ersatzpflege von weniger als acht Stunden täglich nicht gekürzt wird (Gemeinsames Rundschreiben, a.a.O., Nr. 1). Das Rundschreiben der Spitzenverbände stellt eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift dar, die den Senat zwar nicht bindet. Für den Versicherten ergibt sich vorliegend jedoch insoweit ein günstiger Standpunkt, da bei stundenmäßig geringer Inanspruchnahme der Ersatzpflege ein Leistungsanspruch zugebilligt wird - was allein aus dem Urteil des BSG nicht ohne Weiteres abzulesen ist. Insoweit kommt der auf Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) basierende Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zum Tragen, zumal die Interpretation der Verwaltung von § 39 SGB XI gedeckt ist. Wie dargelegt begründet das BSG seine Rechtsauffassung mit der Notwendigkeit der Sicherstellung der Pflege mit Hilfe des Pflegegeldes gemäß § 39 Abs. 1 S. 2 SGB XI. Bei einer nur geringfügigen stundenweisen Entlastung der Pflegeperson am Tag ist dieser Sicherstellungsauftrag nicht gefährdet. Die in dem Rundschreiben angenommene zeitliche Grenze von unter acht Stunden täglich erscheint dem Senat hierbei sachgerecht und ist auch von dem Gesetzeszweck gedeckt, die Pflegebereitschaft zu erhöhen.

Da die Voraussetzungen des § 39 SGB XI im Übrigen vorliegen und nicht umstritten sind, besteht damit grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen nach § 39 SGB XI für 2005 (161 Stunden) und für 35 Stunden für 2006. Die restliche Verhinderungspflege im Jahre 2006 (120 Stunden) beträgt acht Stunden pro Tag, so dass insoweit das geleistete Pflegegeld anzurechnen ist.

Gemäß § 39 S. 3 SGB XI dürfen die Aufwendungen der Pflegekasse im Einzelfall 1.432.- EUR im Kalenderjahr nicht übersteigen. Gemäß der Vereinbarung vom 11. April 2008 wurden 20.- EUR für jede geleistete Stunde vereinbart. Zwar datiert die Vereinbarung erst Jahre nach den Pflegeleistung, doch ist auch eine mündliche Vereinbarung, die zu Beweiszwecken erst nachträglich schriftlich wiederholt wird, ausreichend. Anhaltspunkte dafür, dass die 20.- EUR je Stunde nicht geschuldet werden, sind für den Senat nicht erkennbar. Die Begrenzung der Leistungshöhe betrifft somit zwar nicht das Kalenderjahr 2006, in dem nur 35 Stunden zu 20.- EUR zu berücksichtigen sind, jedoch das Jahr 2005, bei dem nur Tage mit unter 8 Stunden Ersatzpflege angefallen waren, somit 161 Stunden.

Der Antrag wurde am 28. November 2006 für die Jahre 2005 und 2006 gestellt. Der Anspruch wird damit weder von der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) erfasst noch sind Anhaltspunkte für eine Verwirkung entsprechend der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ersichtlich (zum Ganzen: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., § 242 Rdnr. 87 ff.). Insbesondere fehlt es an besonderen Umständen, die eine Verwirkung auslösen (hierzu: BSG, Urteil vom 29. Januar 1997, Az.: 5 RJ 52/94). Die Klägerin hat allein durch die Anmeldung des Erstattungsanspruchs im November 2006 kein derartiges Vertrauen bei der Beklagten geschaffen, dass diese tatsächlich nicht darauf vertrauen konnte, das Recht werde nicht mehr ausgeübt. Der Senat kann daher offen lassen, ob im Übrigen bei Erstattungsforderungen des Bürgers gegen die öffentliche Hand eine Verwirkung bereits in der Regel ausgeschlossen ist (so z.B. OVG Hamburg, MDR 1968, 1039, zitiert in: Palandt, a.a.O. 57. Aufl., § 242 Rdnr.5 f.) dd).

Der Klägerin waren daher 2.132.- EUR zuzusprechen und die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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