B 2 U 16/00 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 16/00 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Februar 2000 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Streitig ist, ob die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anzuerkennen und zu entschädigen ist.

Der im Jahre 1943 geborene Kläger war von 1959 bis September 1993 als Bau- und Montagetischler bei der Tischlerei T. beschäftigt. Dabei hatte er überwiegend Fenster und Türen einzubauen und zu reparieren sowie Fußböden zu verlegen.

Nachdem der Kläger im September 1993 bei der Arbeit einen Kreuzbandriß des rechten Knies erlitten hatte, leitete die Beklagte Feststellungsverfahren wegen des Vorliegens einer BK nach Nr 2102 (Meniskusschäden) und wegen einer BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ein. Ihr Technischer Aufsichtsdienst erstattete zunächst aufgrund der Angaben des Klägers, dessen Arbeitgebers und einer Arbeitsplatzbesichtigung einen Bericht, der zu dem Ergebnis kam, das Heben und Tragen von Lasten sei bei der Tätigkeit des Klägers in normalem Umfang erfolgt; eine langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung habe nicht ermittelt werden können. Sodann holte die Beklagte von dem Orthopäden Dr. N. ein Gutachten und von der Gewerbeärztin eine Stellungnahme ein, die beide die Anerkennung der Bandscheibenerkrankung des Klägers als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH (Dr. N. ) bzw 20 vH (Gewerbeärztin) vorschlugen. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen wegen beider BKen ab, weil bei dem Kläger ein langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung nicht gegeben sei und ein Meniskusschaden nicht vorliege (Bescheid vom 27. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 1997). Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die von dem Kläger hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1998).

Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat die Berufung des Klägers, mit der er schließlich nur noch die Entschädigung wegen einer BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO geltend gemacht hat, nach persönlicher Anhörung des Klägers und Vernehmung seines Arbeitgebers als Zeugen zurückgewiesen (Urteil vom 8. Februar 2000). Die Feststellung dieser BK setze voraus, daß zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen in der Person des Klägers gegeben seien, und daß zum anderen das typische Krankheitsbild dieser BK vorliege und dieses iS der unfallrechtlichen Kausalitätslehre wesentlich ursächlich auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei. Zwar sei die vorgenannte Voraussetzung erfüllt, da nach dem Gutachten des Dr. N. eine Bandscheibenschädigung in zwei Etagen des unteren Lendenwirbelsäulenbereichs gesichert sei und die höheren Segmente keinen vergleichbaren Schaden aufwiesen. Seit Juni 1994, dem erneuten Auftreten eines lumbalen Schmerzrezidivs, sei der Kläger an seiner Tätigkeit als Montagetischler gehindert und habe diese auch aufgegeben. Da der Grad der MdE nach dem Ausmaß der funktionellen Einschränkungen mindestens 20 vH betrage, wären auch die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch erfüllt.

Der Anspruch des Klägers scheitere aber daran, daß unter Berücksichtigung seiner Angaben und des Ergebnisses der Beweisaufnahme die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht als erfüllt angesehen werden könnten. Danach stehe zwar fest, daß er "langjährig", dh mehr als die nach dem vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen "Merkblatt für die ärztliche Untersuchung" zu Nr 2108 (BArbl 3/1993, 50 ff - im Folgenden "Merkblatt") zu fordernde Mindestzeit von 10 Jahren, "schwere Lasten", nämlich bis zum Jahre 1982 Gegenstände von 25 kg gehoben und getragen bzw bei Fensterreparaturarbeiten "in extremer Rumpfbeuge" gearbeitet habe. Dabei sei hinsichtlich der Arbeit in Rumpfbeugehaltung von einer Stunde täglich und bezüglich des Hebens und Tragens schwerer Lasten ebenfalls von einer Stunde pro Arbeitsschicht auszugehen. Bei einem damals üblichen Arbeitstag von 8 Stunden habe der Zeitanteil wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten mithin 25 % betragen.

Diese Exposition reiche jedoch zur Erfüllung der Anforderungen der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht aus. Der Wortlaut dieser Vorschrift sowie die im Merkblatt hierzu enthaltene Formulierung, daß Lastgewichte "mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sein" müßten, schließe die Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten aus, in denen solche Hebe- und Tragevorgänge in deutlich weniger als einem Drittel der täglichen Arbeitszeit angefallen seien. Der Verordnungsgeber sei bei der Einfügung der Nr 2108 in die Anlage 1 der BKVO davon ausgegangen, daß die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen schädigender Einwirkung und bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lenden- und Halswirbelsäule für bestimmte Berufsgruppen, bei denen außergewöhnliche Belastungen der Wirbelsäule durch Heben und Tragen von Lasten oder durch Arbeit in extremer Rumpfbeugehaltung regelmäßig wiederkehrende Tätigkeitsmerkmale seien, in epidemiologischen Studien wiederholt statistisch gesichert worden sei (Hinweis auf BR-Drucks 773/92 zu Art 1 Nr 4 S 8). Die typischen - auch im Merkblatt aufgeführten - Berufsgruppen seien dadurch gekennzeichnet, daß ihnen die Hebe- und Tragetätigkeit bzw das Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung das Gepräge gäben. Durch die von erfahrenen Technischen Aufsichtsbeamten erarbeiteten Dokumentationen des Belastungsumfangs sei gesichert, daß für die ua im Merkblatt aufgeführten Berufe des Baugewerbes (Maurer, Steinsetzer, Stahlbetonbauer) ein Mindestanteil von einem Drittel wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten während der täglichen Arbeitsschicht erreicht oder überschritten werde. Die in der BR-Drucks 773/92 und im Merkblatt aufgrund epidemiologischer Studien ermittelten Expositionsdaten bildeten den Maßstab für die Expositionsbewertung bei anderen Berufen, die demnach eine Gleichstellung mit den typischen Berufsgruppen nur dann beanspruchen könnten, wenn im Einzelfall eine vergleichbare Exposition festgestellt werden könne. Dies sei hier nicht der Fall, weil die bei dem Kläger anzunehmende Belastung von 25 % deutlich unter der Drittelgrenze liege. Die fehlende arbeitstägliche Belastung könne dadurch, daß der Versicherte deutlich länger als die im Merkblatt geforderte Mindestbelastungszeit von 10 Jahren, hier sogar 30 Jahre, wirbelsäulenbelastend gearbeitet habe, nicht ausgeglichen werden, weil durch die Forderung einer "gewissen Regelmäßigkeit oder Häufigkeit" der belastenden Tätigkeit zum Ausdruck gebracht werde, daß auch in kurzen Zeitabschnitten jeweils eine bestimmte Belastungsdosis erreicht sein müsse und durch die Forderung nach Langjährigkeit zusätzlich eine bestimmte Gesamtbelastungsdosis verlangt werde; ein Minus an Regelmäßigkeit und Häufigkeit könne nicht durch ein Mehr an Langjährigkeit ausgeglichen werden.

Die in der Fachdiskussion entwickelten Modelle zur Ermittlung der beruflichen Exposition (Pangert/Herrmann, Hartung/Dupuis und das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)) halte der Senat nicht für praktikabel. Der vorliegende Fall zeige exemplarisch, daß es auch bei den gegebenen klaren Verhältnissen nicht möglich sei, Art und Ausmaß der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit in einer für eine verwertbare Berechnung nach diesen Verfahren geeigneten Weise zu klären. Der Senat halte eine Berechnung der Gesamtbelastungsdosis nach dem von den Berufsgenossenschaften zur Zeit favorisierten MDD aufgrund der von ihm ermittelten Fakten für ausgeschlossen. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten als die persönliche Anhörung des Klägers und die schriftliche Befragung und Zeugenvernehmung des Arbeitgebers bestünden nicht.

Mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die seiner Ansicht nach fehlerhafte Auslegung des § 551 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO. Das vom LSG angenommene Mindesterfordernis für wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten von 30 % der täglichen Arbeitszeit werde der Intention des Verordnungsgebers wegen der Vielzahl relevanter Einflußgrößen für die Beanspruchung der Wirbelsäule beim Heben und Tragen von Lasten bzw Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung nicht gerecht und entbehre jeglicher Grundlage. Die Besonderheit der "typischen Berufsgruppen" bestehe nicht darin, daß die Hebe- und Tragetätigkeit bzw das Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung diesen das Gepräge gäben, was etwa daraus ersichtlich sei, daß hierzu auch Schwesternhelferinnen zählten, bei denen nach den epidemiologischen Studien bereits eine Beanspruchung von 12 % der Schicht mit Hebe- und Tragearbeiten zu einem erhöhten Erkrankungsrisiko führe. Auch für die Forderung, daß das Heben und Tragen von Lasten bzw das Arbeiten in Rumpfbeugehaltung mit einer auf die tägliche Belastungsdosis bezogenen Regelmäßigkeit und Häufigkeit auftreten müsse und nicht durch Langjährigkeit kompensiert werden könne, fänden sich im Merkblatt keine Vorgaben. Der Hinweis des LSG auf "typische Berufsbilder" gehe fehl. Bestimmte Personengruppen seien in Abgrenzung zum allgemeinen Lebensrisiko auch dann einer erhöhten Erkrankungsgefahr ausgesetzt, wenn sie zwar nicht den gleichen Expositionsumfang wie "typische" Berufsgruppen erreichten, dieser Belastung aber kontinuierlich über einen sehr langen Zeitraum ausgesetzt seien. Angesichts der Vielzahl belastender Faktoren könne nicht schematisch auf eine Mindestbelastungsgrenze zurückgegriffen werden. Die vom LSG angelegten Maßstäbe für die Ausfüllung der haftungsbegründenden Kausalität seien daher unzutreffend; geboten sei vielmehr eine am Einzelfall orientierte Kausalitätsbetrachtung der jeweiligen Berufsgruppe unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren und deren Wechselwirkung untereinander.

Die in der Fachdiskussion entwickelten Modelle zur Ermittlung der beruflichen Exposition seien nur bedingt für die Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen geeignet. Nur unter Berücksichtigung sämtlicher in Betracht kommender Faktoren könne eine zuverlässige Kausalitätsbeurteilung vorgenommen werden. In seinem Falle führe dies zur Anerkennung der BK und Gewährung von Verletztenrente. Jedenfalls aber wäre das LSG gehalten gewesen, ein weiteres Sachverständigengutachten über die arbeitstechnischen Voraussetzungen einzuholen; insoweit liege ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht vor.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Februar 2000 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1998 sowie den Bescheid vom 27. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 1997 insoweit aufzuheben, als die Ablehnung der Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO betroffen ist, und die Beklagte zu verurteilen, die bei ihm im Bereich der Lendenwirbelsäule vorliegenden Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor, es stehe fest, daß Bau- und Möbeltischler nicht zu den Berufsgruppen mit erhöhtem Krankheitsrisiko gehörten. Unabhängig davon habe sie hier - wie in jedem Einzelfall - die beruflich bedingte Belastung des Klägers geprüft und dabei zur Berechnung auf die zum damaligen Zeitpunkt aktuelle epidemiologische Studie nach Pangert/Hartmann zurückgegriffen. Auch wenn die ständige Rechtsprechung derartige Berechnungsmodelle ablehne, weise die deutliche Unterschreitung des Grenzwertes nach Pangert/Hartmann darauf hin, daß hier keine Exposition iS der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO vorliege. Dies sei auch bei der Berechnung nach dem MDD nicht der Fall.

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für die abschließende Entscheidung über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Anerkennung seiner Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) als BK und auf Gewährung von Verletztenrente nicht aus.

Der vom Kläger verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der RVO, da die geltend gemachte BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).

Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der ihm folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere bei Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 vH Verletztenrente in der dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden Höhe (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates (BR) bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKVO mit den sog Listenkrankheiten vor. Hierzu gehören nach Nr 2108 bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO muß bei dem Versicherten mithin eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ("arbeitstechnische Voraussetzungen") entstanden ist. Die Erkrankung muß den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und als Konsequenz aus diesem Zwang muß die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2).

Für das Vorliegen des Tatbestands der BK ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß iS des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - = HVBG-Info 2000, 2811 - mwN; Brackmann/Krasney, SGB VII, § 9 RdNrn 22, 23 mwN).

Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG liegen bei dem Kläger in der Etage L 4/5 ein großer mediolateraler Prolaps und in der Etage L 5/S 1 ein kleiner medialer Prolaps mit funktionellen Einschränkungen vor, ist mithin eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS gegeben. Ebenfalls für den Senat bindend hat das LSG festgestellt, daß der Kläger ca 30 Jahre lang berufsbedingt schwere Lasten gehoben und getragen sowie in extremer Rumpfbeugehaltung, also mit einer Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Haltung um mehr als 90 Grad (s dazu BSG Beschluss vom 1. Juli 1997 - 2 BU 106/97 - = HVBG-Info 1997, 2934), Arbeiten verrichtet hat. Ihm ist auch darin zu folgen, daß damit das Merkmal der Langjährigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit erfüllt ist (vgl BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2).

Nicht gefolgt werden kann dem LSG indes, soweit es als weitere Tatbestandsvoraussetzung der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO fordert, daß die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten im Durchschnitt wenigstens während eines Drittels der täglichen Arbeitszeit verrichtet worden sein müssen. Eine solche Voraussetzung ist dem Wortlaut der Norm nicht zu entnehmen. Das Merkblatt, auf dessen Formulierung, die Lastgewichte müßten "mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sein", sich das LSG insoweit ua bezieht, ist nicht Bestandteil der BKVO (BSG Beschluss vom 4. August 1987 - 2 BU 109/87; BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2401) und kann daher nicht als Verordnungstext ausgelegt werden.

Bei der Auslegung der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ist indessen zu beachten, daß der Verordnungsgeber mit den darin verwandten Begriffen "langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten" und "langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" gezielt auslegungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe gewählt hat, um die schädigende Exposition zu kennzeichnen. Er hat bewußt keine konkreten Belastungsarten mit genau festgelegten Grenzwerten angegeben, wodurch ua die Berücksichtigung neuerer - im wesentlichen medizinischer - nach Erlaß der Verordnung gewonnener bzw bekanntgewordener Erkenntnisse ermöglicht werden soll (vgl dazu BSG SozR 3-5680 Art 2 Nr 1; LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Oktober 1996 - L 5 U 34/96 -). Für die Vollziehbarkeit der Verordnung wäre eine höhere Konkretisierung allerdings wünschenswert gewesen (vgl Blome Ergo Med 2000, 2, 16). Da insoweit immer noch, wie etwa der vorliegende Fall und insgesamt die Rechtsprechung der Tatsachengerichte zeigen, erhebliche Unklarheiten und eine große Spannweite hinsichtlich der Konkretisierung der die "arbeitstechnischen Voraussetzungen" bezeichnenden Begriffe bestehen (s dazu Becker SGb 2000, 116, 118f), weist der Senat erneut auf die Aufgabe des Verordnungsgebers hin, nach Ablauf eines angemessenen Beobachtungszeitraums nach Einführung einer neuen BK zu prüfen, ob nach den gesammelten Erkenntnissen eine Konkretisierung, Einschränkung, Ausweitung oder Klarstellung der Fassung der BK notwendig ist oder wenigstens angezeigt erscheint (s bereits Beschluss des Senats vom 31. Mai 1996 - 2 BU 237/95 - = SozR 3-5680 Art 2 Nr 1). Im Interesse einer Einheitlichkeit der Anerkennungspraxis und Gleichbehandlung der Versicherten erschiene hier die Vorgabe gewisser Orientierungswerte hilfreich (vgl Becker aaO).

Bei der notwendigen Konkretisierung der genannten unbestimmten Begriffe genügt es nicht, auf diejenigen medizinischen Erkenntnisse zurückzugreifen, die den Verordnungsgeber zur Aufnahme der Krankheit in die Liste der BKen bewogen haben, sondern es ist unter Zuhilfenahme medizinischer Sachkunde zu prüfen, welche Einwirkungen nach den neuesten gesicherten medizinischen Erkenntnissen geeignet sind, bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS herbeizuführen und daher einen der unbestimmten Begriffe näher ausfüllen. Bei der Ermittlung solcher Erkenntnisse, regelmäßig medizinischer Erfahrungssätze, handelt es sich um eine Tatsachenfeststellung (vgl BSG SozR 1500 § 162 Nr 7), die das Tatsachengericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen hat und die der Revision daher nur beschränkt zugänglich ist. Der Inhalt medizinischer Erfahrungssätze kann vom Revisionsgericht nicht überprüft und somit auch nicht festgestellt werden (BSG SozR aaO). Es darf lediglich kontrollieren, ob das Tatsachengericht dabei gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN). Ein Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze liegt vor, wenn das Tatsachengericht einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz angewendet hat (BSG SozR 1500 § 103 Nr 25 mwN).

Mit seiner Auffassung, wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten müßten im Durchschnitt wenigstens während eines Drittels der täglichen Arbeitszeit verrichtet worden sein, um (generell) ursächlich für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS zu sein, hat das LSG eine (zusätzliche) Konkretisierung des unbestimmten Begriffs der in der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO genannten belastenden Tätigkeiten unter Rückgriff auf einen von ihm angenommenen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz vorgenommen, der so nicht besteht. Dies gilt entsprechend für seine Auffassung, die fehlende Intensität der täglichen Exposition in diesem Sinne könne nicht dadurch kompensiert werden, daß der Versicherte deutlich länger als die Mindestbelastungszeit von 10 Jahren wirbelsäulenschädigend gearbeitet habe. Damit hat es gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung verstoßen. Der Kläger hat dies mit seinem Vortrag, das LSG habe mit der Aufstellung eines Mindesterfordernisses von 30 % (gemeint ist 33,33 %) der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten eine allgemeingültige Definition des Kriteriums der "Regelmäßigkeit" und "Häufigkeit" wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten ein Kriterium gesetzt, das der Intention des Verordnungsgebers nicht gerecht werde und angesichts der vorliegenden medizinischen Erkenntnisse jeglicher Grundlage entbehre, auch sinngemäß gerügt.

Den ersten "Erfahrungssatz" hat das Berufungsgericht daraus entnommen, daß in den der Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO zugrundeliegenden epidemiologischen Studien für bestimmte - in der BR-Drucks 773/92 und im Merkblatt genannte - typische Berufe des Baugewerbes, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den genannten belastenden Tätigkeiten und Erkrankungen der LWS festgestellt worden sei, ein Mindestanteil von einem Drittel wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten während der täglichen Arbeitsschicht erreicht oder überschritten werde. Damit hat es indes keinen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz dargetan; es ist auch sonst nicht ersichtlich, daß ein solcher existiert. Bei allgemeinen Erfahrungssätzen handelt es sich um Schlüsse, die aufgrund von - ggf fachlicher - Erfahrung aus einer Reihe gleichartiger Tatsachen gezogen werden und die daher entweder der allgemeinen Lebenserfahrung oder der besonderen Fachkunde angehören (vgl Baumbach/Hartmann, ZPO, 59. Aufl, § 284 RdNr 22 mwN); medizinische Erfahrungssätze müssen auf wissenschaftlicher Grundlage basieren und von den beteiligten Fachkreisen überwiegend zumindest akzeptiert werden. Diese Voraussetzungen erfüllt der vom LSG angenommene "Erfahrungssatz" nicht. Zum einen hat das Berufungsgericht hier aus den verschiedenen Ergebnissen der dem Verordnungsgeber vorliegenden epidemiologischen Studien lediglich einen Teil herausgegriffen, aus dem nach seinen Erwägungen der entsprechende Erfahrungssatz folgen soll. Nicht berücksichtigt hat es indes ua gerade die Ergebnisse von Berufsgruppen, die andere Belastungsdosen ausweisen und - im Gegensatz zu den vom LSG ermittelten - damit ausdrücklich in dem von ihm herangezogenen Merkblatt aufgeführt werden. So werden dort etwa Schwesternhelferinnen genannt, die danach schon dann gefährdet sind, wenn sie lediglich zu ca 12 % der Schicht Arbeiten mit Heben und Tragen von schweren Lasten zu verrichten hatten, also weit von dem "Drittelanteil" entfernten Belastungen ausgesetzt waren. Inwiefern nur die vom LSG herangezogenen Ergebnisse von epidemiologischen Studien für die Gewinnung des von ihm angenommenen "Erfahrungssatzes" herangezogen werden können, ist nicht ersichtlich. Soweit in der Rechtsprechung von Tatsachengerichten hinsichtlich dieses Widerspruchs die Zulässigkeit einer branchentypischen Aufbereitung der notwendigen Belastungskriterien angenommen wird (vgl LSG Niedersachsen Urteil vom 15. September 1998 - L 3 U 333/97 - = HVBG-Info 1998, 2739), erklärt dies nicht die sich ergebenden unterschiedlichen Ergebnisse hinsichtlich einer Dosis-Wirkungs-Relation.

Zum anderen und insbesondere hat das LSG lediglich die medizinischen Erkenntnisse herangezogen, die den Verordnungsgeber bewogen haben, die BK in die Liste der BKen aufzunehmen. Angesichts des in Fachkreisen bekannten Umstandes, daß diese Erkenntnisse noch weiterer Vertiefung bedurften und auch noch nach dem Inkrafttreten der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO am 1. Januar 1993 - insbesondere auf Veranlassung der Unfallversicherungsträger - Anstrengungen unternommen wurden, die Dosis-Wirkungs-Beziehung genauer zu ermitteln und insbesondere hinsichtlich der Quantifizierung der in der Nr 2108 genannten schädigenden Einwirkungen von den Verwaltungen auch praktisch anwendbare standardisierte Modelle zu entwickeln (s dazu Blome Ergo Med 2000, 2, 16 ff), hätte das LSG sich indes nicht damit begnügen dürfen. Gerade auch im Hinblick auf die insoweit noch unzureichend herausgebildeten Standards, die sich auch in der recht unterschiedlichen Rechtsprechung der Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit widerspiegeln (s dazu Becker SGb 2000, 116, 117 f), hätte das LSG hierzu weitere Ermittlungen - etwa durch die Einholung eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens - anstellen müssen. Insoweit liegt auch ein - vom Kläger gerügter - Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG vor.

Den zweiten "Erfahrungssatz" hat das LSG nach seinen Ausführungen in den Entscheidungsgründen durch eine Auslegung des Wortlauts des Merkblatts gewonnen. Aus der dort verwandten Formulierung, das Heben und Tragen von Lasten bzw das Arbeiten in Rumpfbeugehaltung müsse "mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten" geschehen sein, hat es geschlossen, auch in kurzen Zeitabschnitten müsse jeweils eine bestimmte Belastungsdosis erreicht worden sein und durch die Forderung nach langjähriger belastender Tätigkeit werde zusätzlich eine bestimmte Gesamtbelastungsdosis verlangt, wobei beide Voraussetzungen - "Regelmäßigkeit und Häufigkeit" einerseits sowie "Langjährigkeit" andererseits - nebeneinander erfüllt sein müßten, ohne daß ein Minus des einen durch ein Plus des anderen kompensiert werden könne. Dies ist - sofern es sich nicht bereits um eine unzulässige "Rechtsauslegung" handelt - die fehlerhafte Annahme eines nicht bestehenden allgemeinen medizinischen Erfahrungssatzes. Die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat - Sektion Berufskrankheiten - beim BMA erarbeiteten Merkblätter wenden sich in erster Linie an den Arzt; sie sollen ihm rechtlich unverbindliche Hinweise für die Beurteilung im Einzelfall aus arbeitsmedizinischer Sicht bieten (vgl BSG Beschluss vom 11. August 1998 - B 2 U 261/97 B - = HVBG-Info 1999, 1373). Als antizipierte Sachverständigengutachten oder als Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft können sie nicht verwendet werden, zumal sie häufig - wie auch das vorliegende zur BK Nr 2108 - nicht auf aktuellem Stand sind; sie stellen lediglich eine wichtige, nicht aber unbedingt ausreichende Informationsquelle für die Praxis dar (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2; Koch in Schulin, HS-UV, § 39 RdNr 2). Allgemeine medizinische Erfahrungssätze können den Merkblättern allenfalls dann ohne Hinzunahme ärztlicher Sachkunde entnommen werden, wenn sie erkennbar auf aktuellem Stand sind und der betreffende Erfahrungssatz darin auch klar in einer Weise formuliert ist, die auch ohne medizinischen Sachverstand Inhalt und Bedeutung erkennen läßt. Durch Auslegung nach den klassischen Methoden der Rechtswissenschaft ohne medizinische Sachkunde kann den Merkblättern ein allgemeiner medizinischer Erfahrungssatz nicht entnommen werden; bei nicht ausdrücklich genannten oder unklar formulierten Erkenntnissen muß mithin in jedem Falle medizinischer Sachkunde hinzugezogen werden. Daran mangelt es hier. Das LSG hat weder zu erkennen gegeben, daß es selbst medizinische Sachkunde besitzt, noch daß und wie es sich fremder medizinischer Sachkunde bedient hat, um den von ihm angenommenen "Erfahrungssatz", der im Merkblatt so nicht erwähnt wird, herauszufinden.

Es kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die Aufstellung von allgemeinen medizinischen Erfahrungssätzen als Feststellung genereller Tatsachen auch in der Revisionsinstanz vorgenommen werden könnte (s dazu BSG Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - = HVBG-Info 1998, 1178 mwN), denn die hierfür erforderlichen Ermittlungen wären im vorliegenden Fall angesichts der Komplexität der vorgegebenen medizinischen Fragen im Hinblick auf die verschiedenen Krankheitsbilder und für die Quantifizierung der Exposition in Betracht kommenden Kriterien jedenfalls untunlich (§ 170 Abs 2 SGG). Die angefochtene Entscheidung war daher wegen der vorliegenden Verfahrensmängel (Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 1 und § 103 SGG), auf denen die Entscheidung beruhen kann, weil bei Annahme anderer als der vom LSG behaupteten medizinischen Erfahrungssätze die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt und der vom Kläger geltend gemachte Anspruch bestehen kann, aufzuheben.

Das LSG wird bei der erneuten Behandlung der Sache zunächst zu untersuchen haben, ob auch die von ihm bei dem Kläger festgestellte beruflich bedingte Belastung durch das Heben und Tragen schwerer Lasten und die Arbeit in extremer Rumpfbeugehaltung und ggf auch die besonders lange Zeit der Exposition nach allgemeiner medizinischer Erfahrung generell geeignet sind, bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS iS der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO herbeizuführen. Dabei wird es sich medizinischer Sachkunde - ggf in Form der Einholung arbeitsmedizinischer Sachverständigengutachten - bedienen müssen.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Rechtskraft
Aus
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