Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 35/00 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 31. August 2000 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau vom 2. Juli 1998 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Anerkennung und Entschädigung seiner Schwerhörigkeit als Berufskrankheit (BK).
Der im Jahre 1939 geborene Kläger war von 1954 bis 1974 in seinem erlernten Beruf als Werkzeugmacher und anschließend bis zum 30. Juni 1991 als Berufsausbilder in der Stanzerei der Justizvollzugsanstalt D. tätig. Später war er noch bei einem Wach- und Sicherheitsdienstunternehmen beschäftigt.
Im Mai 1994 ging bei der Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft eine ärztliche Anzeige über den Verdacht einer BK "Lärmschwerhörigkeit" des Klägers ein. Der Technische Aufsichtsdienst des Gemeinde-Unfallversicherungsverbandes Sachsen-Anhalt, an den die Sache zuständigkeitshalber abgegeben worden war (und der mit Ablauf des 31. Dezember 1997 in die Beklagte überführt wurde), stellte in seiner Arbeitsplatz- und Tätigkeitsbeschreibung fest, der Kläger sei während seiner Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt berufsbedingt Lärmwerten zwischen 88 und 103 dB (A) ausgesetzt gewesen; aufgrund der Expositionszeit von 17 Jahren sei davon auszugehen, daß die bei ihm vorliegende Lärmschwerhörigkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der durch berufliche Einwirkungen bedingten geringgradigen Lärmschwerhörigkeit beiderseits schätzte Dr. W. in seinem auf Veranlassung des Landesgewerbearztes erstatteten Gutachten mit 10 vH ein. Die Beklagte lehnte daraufhin die Anerkennung der bei dem Kläger bestehenden Hörminderung als BK ab, weil diese keinen Körperschaden von mindestens 20 vH bedinge (Bescheid vom 22. Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 1997).
Das Sozialgericht Dessau (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 2. Juli 1998). Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens des Chefarztes Dr. N. hat das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) den Gerichtsbescheid des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, "daß der Gehörschaden des Klägers Folge einer BK nach Nr 50 der Anlage 1 der 1. Durchführungsbestimmung zur BKVO der DDR ist"; im übrigen hat es die - außerdem auf die Gewährung von Entschädigung gerichtete - Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 31. August 2000). Die Voraussetzungen für die Anerkennung des Gehörschadens des Klägers als BK lägen vor. Die Schwerhörigkeit sei durch die langjährige Lärmexposition am Arbeitsplatz verursacht worden und bedinge eine MdE um 10 vH mit dem dafür maßgeblichen Ausscheiden aus dem Lärmberuf am 30. Juni 1991. Bei Krankheiten und Arbeitsunfällen, die - wie die Schwerhörigkeit des Klägers - vor dem 1. Januar 1992 eingetreten seien, sei auf das damals im Beitrittsgebiet geltende Recht abzustellen. Danach werde die hier einschlägige BK Nr 50 der Liste der BKen der ehemaligen DDR (BK Nr 50) als Krankheit definiert, die durch "Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht", eingetreten sei, wobei eine soziale Bedeutung vorliege, wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führe. Nach der Richtlinie zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden werde dies angenommen, wenn nach den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchung ein Körperschaden von mindestens 20 vH vorliege oder die - hier nicht einschlägige - Bedingung des § 7 der 5. Durchführungsverordnung gegeben sei. Danach habe der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK, weil bei ihm nur eine MdE um 10 vH vorliege, wie es der Sachverständige Dr. N. in Übereinstimmung mit Dr. W. unter Heranziehung der Tabelle von Feldmann angenommen habe. Der Richtlinie, einer Regelung für die Verwaltungspraxis, komme jedoch ab 1. Januar 1991 keine Bedeutung mehr zu. Zwar sei das übergangsrechtlich fortgeltende Recht unter Beachtung der früheren Verwaltungspraxis der DDR anzuwenden, jedoch seien hier in der Richtlinie unberücksichtigte Veränderungen eingetreten. Das Erfordernis eines Körperschadens von 20 vH sei vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Gewährung einer Unfallrente nach der Rentenverordnung der DDR diesen Grad des Körperschadens voraussetze. Nach dem im Beitrittsgebiet teilweise schon am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Unfallversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland sei jedoch auch eine MdE unter 20 vH schon von Bedeutung, da nach dem Unfallversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit bereits ab einer MdE von 10 vH als BK nach Nr 2301 der Anl 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anzuerkennen sei und von der gesetzlichen Unfallversicherung im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung im Falle der Versorgung mit einem Hörgerät auch die Kosten für die zu dessen Betrieb erforderlichen Batterien zu tragen wären. Dies spreche dafür, bei ab 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet eingetretenen Versicherungsfällen eine soziale Bedeutung der Lärmschwerhörigkeit bereits bei einem Grad der MdE um mindestens 10 vH und damit auch hier das Vorliegen einer BK Nr 50 anzunehmen. Da die einem für das Beitrittsgebiet zuständigen Unfallversicherungsträger erst am 30. Mai 1994 bekannt gewordene Lärmschwerhörigkeit des Klägers auch nach dem Dritten Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigen wäre (§ 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO), sei sie als BK anzuerkennen.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung der Bestimmung der Nr 50 der Anl zur Ersten Durchführungsbestimmung zur BKVO-DDR. In sämtlichen Veröffentlichungen zur Beurteilung einer BK Nr 50 werde die Voraussetzung "soziale Bedeutung" erst bei einem Körperschaden von 20 vH als erfüllt angesehen. Die Anerkennung einer BK nach DDR-Recht sei hier mithin nicht möglich.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 31. August 2000 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau vom 2. Juli 1998 zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner Schwerhörigkeit als BK, wie die Beklagte und das SG zutreffend entschieden haben.
Der vom Kläger erhobene Anspruch richtet sich gemäß § 215 Abs 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) nach § 1150 Abs 2 RVO in der vor dem 1. Januar 1997 geltenden Fassung, weil die von ihm als BK geltend gemachte Lärmschwerhörigkeit nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) spätestens mit dem Ausscheiden aus der Lärmtätigkeit am 30. Juni 1991, also vor dem 1. Januar 1992, im Beitrittsgebiet eingetreten ist.
Gemäß § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und BKen der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und BKen im Sinne des Dritten Buches der RVO. Dies gilt ua nicht für Krankheiten, die - wie die Schwerhörigkeit des Klägers - einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (Abs 2 Satz 2 Nr 1 aaO). In letzterem Falle muß die betreffende Krankheit die Voraussetzungen für die Anerkennung als BK sowohl nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als auch nach der RVO erfüllen (vgl Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, BT-Drucks 12/405 S 116 Buchst b). Dies ist bei der Schwerhörigkeit des Klägers nicht der Fall.
Nach § 221 des Arbeitsgesetzbuches der DDR vom 16. Juni 1977 (GBl DDR I 185) und § 2 Abs 1 der Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 ((BKVO-DDR) GBl DDR I 137) ist eine BK eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw Arbeitssaufgaben hervorgerufen wird und die in der vom Minister für Gesundheitswesen in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) herausgegebenen Liste der BKen (Anlage zur Ersten Durchführungsbestimmung der BKVO-DDR vom 21. April 1981 (GBl DDR I 139)) genannt ist. Diese Rechtsvorschriften sind im Beitrittsgebiet bis zum 31. Dezember 1991 in Kraft geblieben (Anl II Kap VIII Sachgeb I Abschn III Nr 4 und 5 des Einigungsvertrages (EinigVtr)) und gemäß § 162 SGG revisibel (vgl BSG SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1).
In der Liste der BKen sind unter Nr 50 BKen durch "Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht", genannt. Das LSG hat für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß bei dem Kläger eine Schwerhörigkeit vorliegt, die auf beruflich bedingte Lärmeinwirkung zurückzuführen ist. Diese Lärmschwerhörigkeit hat jedoch keine "soziale Bedeutung" iS der Nr 50 der Liste der BKen und ist daher nach den bis zum 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet geltenden Rechtsvorschriften, die hier Anwendung finden, keine BK.
Welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um das Tatbestandsmerkmal der "sozialen Bedeutung" zu erfüllen, ist dem Wortlaut der Norm nicht unmittelbar zu entnehmen und mithin durch Auslegung zu ermitteln. Die hier einschlägigen Vorschriften des in Bundesrecht transformierten Rechts der ehemaligen DDR, die im Beitrittsgebiet fortgalten, dienten der zeitlich befristeten Wahrung eines in der ehemaligen DDR etablierten rechtlichen Status quo bis zur endgültigen Überleitung des Unfallversicherungsrechts (vgl Erläuterung zu Anl II Kap VIII Sachgeb I Abschn III EinigVtr in BT-Drucks 11/7817, S 158). Daher kommt hier der historischen Auslegung ein besonderes Gewicht zu. Ausgangspunkt hierfür ist die Konkretisierung der betreffenden Norm aus diesem Regelungsbereich durch die Rechts- und Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR, wobei indes Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die von spezifisch sozialistischen Wertungen und Rechtsmaximen geprägt sind, unberücksichtigt bleiben müssen (vgl Bundesgerichtshof (BGH) Urteil vom 22. Juni 1993 (BGHZ 123, 65, 68, 71 f); Oetker JZ 1992, 608, 611, 613; offengelassen in Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 29. April 1997 - 8 RKnU 1/96 = SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1).
Der Senat hat keine Bedenken, auch der Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR bei der Konkretisierung des jeweiligen Inhalts einer Norm aus dem das Unfallversicherungsrecht betreffenden Bereich des Übergangsrechts für das Beitrittsgebiet entscheidende Bedeutung beizumessen, wenn diese Praxis sich zweifelsfrei feststellen läßt, mit dem Wortlaut der betreffenden Norm in Einklang steht und sich innerhalb der genannten Schranken hält. Dadurch wird einerseits der Zielsetzung, die Betroffenen während eines Übergangszeitraums in dem in der ehemaligen DDR geltenden Rechtszustand zu belassen (vgl BGHZ 123, 65, 68), in vollem Umfang Rechnung getragen, weil so gewährleistet wird, daß sie weiterhin auch tatsächlich so behandelt werden, wie es damals durch die zuständigen Stellen der DDR geschehen wäre. Andererseits trägt die Beschränkung auf Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die nicht von spezifisch sozialistischen Wertungen bestimmt sind, dem Umstand Rechnung, daß die Vorschriften des Rechts der DDR bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Staatsvertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 ((Staatsvertrag), BGBl II 537) und sodann des Beitritts diese Änderung erfahren hatten und so auch nur ihr Fortgelten in diesem Status angeordnet werden konnte. Denn nach Art 4 Abs 1 des Staatsvertrages waren die einer föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung entgegenstehenden Vorschriften der Verfassung der DDR über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung nicht mehr anzuwenden und war fortbestehendes Recht gemäß den im Gemeinsamen Protokoll vereinbarten Leitsätzen, durch welche die Grundsätze einer freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung aufgestellt wurden, auszulegen und anzuwenden. Nach den Grundgedanken des Staatsvertrages und des EinigVtr darf das Recht der ehemaligen DDR, dessen temporäre Fortgeltung angeordnet ist, auch nur insoweit angewendet werden, als dies mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl BGHZ 123, 65, 69). Spezifisch sozialistische, mit diesen Grundsätzen nicht zu vereinbarende Rechtsnormen, Richtlinien und Auslegungsgrundsätze durften seither nicht mehr angewandt werden.
Die vom 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 29. April 1997 (SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1) erörterten - die Entscheidung nicht tragenden - Bedenken gegen die Heranziehung der Verwaltungspraxis der DDR sind nach Auffassung des Senats im Rahmen der oben genannten Grundsätze nicht begründet. Es widerspräche der Zielsetzung, die Betroffenen in ihrem damals geltenden Rechtszustand zu belassen, wenn das Recht, dessen Fortgeltung zu diesem Zwecke angeordnet ist, von den Behörden und Gerichten der Bundesrepublik Deutschland ohne Rücksicht auf dessen tatsächliche Anwendung durch die zuständigen Stellen der ehemaligen DDR, die Teil der damaligen Rechtswirklichkeit war, anzuwenden wäre. Für eine Auslegung des zeitweise fortgeltenden DDR-Rechts entsprechend der Verwaltungspraxis der DDR spricht auch die in Art 19 EinigVtr getroffene Regelung. Denn wenn Verwaltungsakte der DDR, die in der Regel auf deren Verwaltungspraxis beruhen, nach Maßgabe dieser Vorschrift wirksam bleiben (vgl BSG Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 32/00 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen - mwN), kann davon ausgegangen werden, daß die Vertragsparteien des EinigVtr und damit der bundesdeutsche Gesetzgeber die Verwaltungspraxis der DDR - sofern rechtsstaatliche Grundsätze oder Regelungen des EinigVtr nicht entgegenstehen - als Grundlage für fortbestehende Verwaltungsakte anerkannt hat. Damit wäre kaum vereinbar, in den Fällen der Anwendung fortgeltenden DDR-Rechts, in denen bei sonst vergleichbarem Sachverhalt kein Verwaltungsakt der DDR-Behörden erlassen worden ist, eine von dieser Verwaltungspraxis grundlegend abweichende Auslegung anzuwenden.
Daß für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung - anders als für den des Zivilrechts, auf den sich das oben genannte Urteil des BGH (aaO) bezieht - nicht auf Rechtsprechung von Gerichten der ehemaligen DDR zurückgegriffen werden kann, weil zumindest bis zum Inkrafttreten des Staatsvertrages keine gerichtliche Überprüfung sozialversicherungsrechtlicher Verwaltungsentscheidungen der DDR vorgesehen war, eine solche vielmehr erst geschaffen werden sollte, ändert daran nichts. Denn es ist nicht zu erkennen, daß die Verwaltung der Sozialversicherung der DDR im Alltagsbereich willkürlich und losgelöst von den bestehenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften in unberechenbarer Weise vorgegangen wäre. Äußerungen staatlicher Organe zum Inhalt der Rechtsanwendung kam vielmehr regelmäßig der Charakter einer faktisch verbindlichen Auslegung zu (vgl Oetker JZ 1992, 608, 611), so daß insoweit jedenfalls von einer gleichmäßigen Rechtsanwendung auf der Grundlage etwa bestehender Richtlinien zur Auslegung und Konkretisierung von Rechtsnormen ausgegangen werden kann. Dies muß insbesondere dann gelten, wenn es sich bei dem diese erlassenden staatlichen Organ - wie hier - um das für das zu regelnde Sachgebiet zuständige Fachministerium (für Gesundheit) handelt, das - zusammen mit dem FDGB - den materiellen Inhalt der betreffenden Richtlinien auch etwa im Rahmen der Liste der BKen hätte herausgeben können.
Gemäß der vom Ministerium für Gesundheitswesen der DDR herausgegebenen "Richtlinie zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden (BK-Nr 50)" (Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1989), Nr 6 S 57, abgedruckt in "Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer" (1945 - 1990), Sonderschrift 4 der Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Berlin 1994, S 269, 271) wurde das Vorliegen einer Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung angenommen, wenn daraus nach den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchung ein Körperschaden von mindestens 20 vH resultierte - Nr V, 1. Spiegelstrich aaO (vgl hierzu auch Kup in Konetzke/Rebohle/Heuchelt, Berufskrankheiten, Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 3. Aufl 1988, S 74) oder wenn die Bedingungen des § 7 Abs 2 der 5. Durchführungsbestimmung zur BKVO-DDR - Schutz vor berufsbedingter Lärmschwerhörigkeit - zutrafen. Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die zweite Alternative hier nicht einschlägig ist, weil sie nur noch im Arbeitsprozeß stehende Versicherte betreffen kann. Es ist nicht ersichtlich, daß die Richtlinie mit ihrer auf die Belange der praktischen Umsetzbarkeit gerichteten typisierenden Betrachtungsweise, die Grundlage der Verwaltungspraxis für die Anerkennung der BK Nr 50 war, mit dem Wortlaut der BK Nr 50 in der Liste der BKen nicht zu vereinbaren wäre oder ihren Grund gar in spezifischen sozialistischen Wertvorstellungen hätte. Ihrer Anwendung auf in dem Übergangszeitraum im Beitrittsgebiet eingetretene Versicherungsfälle steht daher nichts im Wege. Zur Anerkennung einer BK Nr 50 ist mithin in den nach der BKVO-DDR zu beurteilenden Fällen wie dem vorliegenden ein Körperschaden von mindestens 20 vH erforderlich. Bei einem darunterliegenden Wert ist der Versicherungsfall nicht eingetreten, eine Anerkennung als BK kann nicht erfolgen (siehe auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. Dezember 1997 - L 5a U 36/96 - = HVBG-Info 1998, 2617; LSG Niedersachsen, Urteil vom 7. Juni 2001 - L 6 U 383/99 - = HVBG-Info 2001, 2550; Mehrtens/Perlebach, BKVO, M 2301 RdNr 9). Für die Einschätzung des Körperschadens ist nach § 215 Abs 6 SGB VII iVm § 1154 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO die Regelung des § 56 SGB VII anzuwenden; danach sind für vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetretene Versicherungsfälle bei Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1991 MdE-Sätze anzusetzen, ohne daß es auf den Grund der Feststellung nach diesem Termin ankommt (vgl Kater/Leube, SGB VII, § 215 RdNr 29). Hinsichtlich der Anerkennung als BK gelten aber weiterhin die Voraussetzungen des Rechts des Beitrittsgebiets, so daß im vorliegenden Falle eine MdE um mindestens 20 vH gegeben sein muß. Der Grad des Körperschadens entspricht im übrigen regelmäßig im wesentlichen dem der MdE (KassKomm-Ricke, Anh § 215 SGB VII RdNr 23), worauf auch § 1154 Abs 1 Satz 1 RVO hindeutet.
Danach sind hier die Voraussetzungen für eine Anerkennung der Lärmschwerhörigkeit des Klägers als BK Nr 50 nicht erfüllt, weil dessen Körperschaden durch die berufsbedingte Hörminderung nicht mit einem Grad von 20 vH zu bewerten ist, sondern unterhalb dieses Wertes liegt. Das LSG hat aufgrund der Sachverständigengutachten von Dr. W. und Dr. N. in freier Beweiswürdigung unter Beachtung der anerkannten Erfahrungssätze in Gestalt der Tabelle von Feldmann festgestellt, daß bei dem Kläger eine Lärmschwerhörigkeit vorliegt, die auf berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen ist, daß beim Ausscheiden aus der Lärmtätigkeit am 30. Juni 1991 ein Hörverlust von beiderseits 20 vH zugrunde zu legen ist und daß dieser berufsbedingte Hörverlust einer MdE in Höhe von 10 vH entspricht. Diese Feststellungen des LSG, welche die Revision auch nicht angegriffen hat, sind bindend (§ 163 SGG).
Nicht herangezogen werden können die Grundsätze über die Feststellung des Versicherungsfalles der BK Nr 2301 der Anl 1 zur BKVO bei Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE nicht rentenberechtigenden, also unter 20 vH liegenden Grades nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 27. Juli 1989 - 2 RU 54/88 - = SozR 2200 § 551 Nr 35). Denn dies würde eine weder mit Wortlaut noch mit dem Zweck der gesetzlichen Regelung zu vereinbarende Vorwegnahme des Inkrafttretens des noch nicht übergeleiteten Unfallversicherungsrechts der alten Bundesländer zum 1. Januar 1992 bedeuten (vgl LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. Dezember 1997 - L 5a U 36/96 - = HVBG-Info 1998, 2617). Ebensowenig ist es zulässig, das fortgeltende Recht der ehemaligen DDR im Hinblick auf künftig (nach dem 31. Dezember 1991) in Kraft tretende gesetzliche Regelungen - etwa die Berücksichtigung als Stützrente - auszulegen, weil dies nicht dem angeordneten alten Rechtszustand entspräche, sondern den noch nicht in Kraft getretenen neuen vorwegnehmen würde. Vor dem 1. Januar 1992 eingetretene BKen, die nach dem Recht im Beitrittsgebiet nicht anzuerkennen wären, sollen gerade auch nach diesem Zeitpunkt nicht anerkannt werden, wenn sie nach dem dann auch im Beitrittsgebiet in Kraft getretenen Recht anzuerkennen wären (vgl BT-Drucks 12/405 S 154, Erläuterung zu § 1150 RVO).
Nach alledem war das Urteil des LSG auf die Revision der Beklagten aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe:
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Anerkennung und Entschädigung seiner Schwerhörigkeit als Berufskrankheit (BK).
Der im Jahre 1939 geborene Kläger war von 1954 bis 1974 in seinem erlernten Beruf als Werkzeugmacher und anschließend bis zum 30. Juni 1991 als Berufsausbilder in der Stanzerei der Justizvollzugsanstalt D. tätig. Später war er noch bei einem Wach- und Sicherheitsdienstunternehmen beschäftigt.
Im Mai 1994 ging bei der Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft eine ärztliche Anzeige über den Verdacht einer BK "Lärmschwerhörigkeit" des Klägers ein. Der Technische Aufsichtsdienst des Gemeinde-Unfallversicherungsverbandes Sachsen-Anhalt, an den die Sache zuständigkeitshalber abgegeben worden war (und der mit Ablauf des 31. Dezember 1997 in die Beklagte überführt wurde), stellte in seiner Arbeitsplatz- und Tätigkeitsbeschreibung fest, der Kläger sei während seiner Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt berufsbedingt Lärmwerten zwischen 88 und 103 dB (A) ausgesetzt gewesen; aufgrund der Expositionszeit von 17 Jahren sei davon auszugehen, daß die bei ihm vorliegende Lärmschwerhörigkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der durch berufliche Einwirkungen bedingten geringgradigen Lärmschwerhörigkeit beiderseits schätzte Dr. W. in seinem auf Veranlassung des Landesgewerbearztes erstatteten Gutachten mit 10 vH ein. Die Beklagte lehnte daraufhin die Anerkennung der bei dem Kläger bestehenden Hörminderung als BK ab, weil diese keinen Körperschaden von mindestens 20 vH bedinge (Bescheid vom 22. Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 1997).
Das Sozialgericht Dessau (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 2. Juli 1998). Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens des Chefarztes Dr. N. hat das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) den Gerichtsbescheid des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, "daß der Gehörschaden des Klägers Folge einer BK nach Nr 50 der Anlage 1 der 1. Durchführungsbestimmung zur BKVO der DDR ist"; im übrigen hat es die - außerdem auf die Gewährung von Entschädigung gerichtete - Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 31. August 2000). Die Voraussetzungen für die Anerkennung des Gehörschadens des Klägers als BK lägen vor. Die Schwerhörigkeit sei durch die langjährige Lärmexposition am Arbeitsplatz verursacht worden und bedinge eine MdE um 10 vH mit dem dafür maßgeblichen Ausscheiden aus dem Lärmberuf am 30. Juni 1991. Bei Krankheiten und Arbeitsunfällen, die - wie die Schwerhörigkeit des Klägers - vor dem 1. Januar 1992 eingetreten seien, sei auf das damals im Beitrittsgebiet geltende Recht abzustellen. Danach werde die hier einschlägige BK Nr 50 der Liste der BKen der ehemaligen DDR (BK Nr 50) als Krankheit definiert, die durch "Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht", eingetreten sei, wobei eine soziale Bedeutung vorliege, wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führe. Nach der Richtlinie zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden werde dies angenommen, wenn nach den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchung ein Körperschaden von mindestens 20 vH vorliege oder die - hier nicht einschlägige - Bedingung des § 7 der 5. Durchführungsverordnung gegeben sei. Danach habe der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK, weil bei ihm nur eine MdE um 10 vH vorliege, wie es der Sachverständige Dr. N. in Übereinstimmung mit Dr. W. unter Heranziehung der Tabelle von Feldmann angenommen habe. Der Richtlinie, einer Regelung für die Verwaltungspraxis, komme jedoch ab 1. Januar 1991 keine Bedeutung mehr zu. Zwar sei das übergangsrechtlich fortgeltende Recht unter Beachtung der früheren Verwaltungspraxis der DDR anzuwenden, jedoch seien hier in der Richtlinie unberücksichtigte Veränderungen eingetreten. Das Erfordernis eines Körperschadens von 20 vH sei vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Gewährung einer Unfallrente nach der Rentenverordnung der DDR diesen Grad des Körperschadens voraussetze. Nach dem im Beitrittsgebiet teilweise schon am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Unfallversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland sei jedoch auch eine MdE unter 20 vH schon von Bedeutung, da nach dem Unfallversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit bereits ab einer MdE von 10 vH als BK nach Nr 2301 der Anl 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anzuerkennen sei und von der gesetzlichen Unfallversicherung im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung im Falle der Versorgung mit einem Hörgerät auch die Kosten für die zu dessen Betrieb erforderlichen Batterien zu tragen wären. Dies spreche dafür, bei ab 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet eingetretenen Versicherungsfällen eine soziale Bedeutung der Lärmschwerhörigkeit bereits bei einem Grad der MdE um mindestens 10 vH und damit auch hier das Vorliegen einer BK Nr 50 anzunehmen. Da die einem für das Beitrittsgebiet zuständigen Unfallversicherungsträger erst am 30. Mai 1994 bekannt gewordene Lärmschwerhörigkeit des Klägers auch nach dem Dritten Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigen wäre (§ 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO), sei sie als BK anzuerkennen.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung der Bestimmung der Nr 50 der Anl zur Ersten Durchführungsbestimmung zur BKVO-DDR. In sämtlichen Veröffentlichungen zur Beurteilung einer BK Nr 50 werde die Voraussetzung "soziale Bedeutung" erst bei einem Körperschaden von 20 vH als erfüllt angesehen. Die Anerkennung einer BK nach DDR-Recht sei hier mithin nicht möglich.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 31. August 2000 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau vom 2. Juli 1998 zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner Schwerhörigkeit als BK, wie die Beklagte und das SG zutreffend entschieden haben.
Der vom Kläger erhobene Anspruch richtet sich gemäß § 215 Abs 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) nach § 1150 Abs 2 RVO in der vor dem 1. Januar 1997 geltenden Fassung, weil die von ihm als BK geltend gemachte Lärmschwerhörigkeit nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) spätestens mit dem Ausscheiden aus der Lärmtätigkeit am 30. Juni 1991, also vor dem 1. Januar 1992, im Beitrittsgebiet eingetreten ist.
Gemäß § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und BKen der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und BKen im Sinne des Dritten Buches der RVO. Dies gilt ua nicht für Krankheiten, die - wie die Schwerhörigkeit des Klägers - einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (Abs 2 Satz 2 Nr 1 aaO). In letzterem Falle muß die betreffende Krankheit die Voraussetzungen für die Anerkennung als BK sowohl nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als auch nach der RVO erfüllen (vgl Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, BT-Drucks 12/405 S 116 Buchst b). Dies ist bei der Schwerhörigkeit des Klägers nicht der Fall.
Nach § 221 des Arbeitsgesetzbuches der DDR vom 16. Juni 1977 (GBl DDR I 185) und § 2 Abs 1 der Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 ((BKVO-DDR) GBl DDR I 137) ist eine BK eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw Arbeitssaufgaben hervorgerufen wird und die in der vom Minister für Gesundheitswesen in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) herausgegebenen Liste der BKen (Anlage zur Ersten Durchführungsbestimmung der BKVO-DDR vom 21. April 1981 (GBl DDR I 139)) genannt ist. Diese Rechtsvorschriften sind im Beitrittsgebiet bis zum 31. Dezember 1991 in Kraft geblieben (Anl II Kap VIII Sachgeb I Abschn III Nr 4 und 5 des Einigungsvertrages (EinigVtr)) und gemäß § 162 SGG revisibel (vgl BSG SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1).
In der Liste der BKen sind unter Nr 50 BKen durch "Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursacht", genannt. Das LSG hat für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß bei dem Kläger eine Schwerhörigkeit vorliegt, die auf beruflich bedingte Lärmeinwirkung zurückzuführen ist. Diese Lärmschwerhörigkeit hat jedoch keine "soziale Bedeutung" iS der Nr 50 der Liste der BKen und ist daher nach den bis zum 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet geltenden Rechtsvorschriften, die hier Anwendung finden, keine BK.
Welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um das Tatbestandsmerkmal der "sozialen Bedeutung" zu erfüllen, ist dem Wortlaut der Norm nicht unmittelbar zu entnehmen und mithin durch Auslegung zu ermitteln. Die hier einschlägigen Vorschriften des in Bundesrecht transformierten Rechts der ehemaligen DDR, die im Beitrittsgebiet fortgalten, dienten der zeitlich befristeten Wahrung eines in der ehemaligen DDR etablierten rechtlichen Status quo bis zur endgültigen Überleitung des Unfallversicherungsrechts (vgl Erläuterung zu Anl II Kap VIII Sachgeb I Abschn III EinigVtr in BT-Drucks 11/7817, S 158). Daher kommt hier der historischen Auslegung ein besonderes Gewicht zu. Ausgangspunkt hierfür ist die Konkretisierung der betreffenden Norm aus diesem Regelungsbereich durch die Rechts- und Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR, wobei indes Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die von spezifisch sozialistischen Wertungen und Rechtsmaximen geprägt sind, unberücksichtigt bleiben müssen (vgl Bundesgerichtshof (BGH) Urteil vom 22. Juni 1993 (BGHZ 123, 65, 68, 71 f); Oetker JZ 1992, 608, 611, 613; offengelassen in Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 29. April 1997 - 8 RKnU 1/96 = SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1).
Der Senat hat keine Bedenken, auch der Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR bei der Konkretisierung des jeweiligen Inhalts einer Norm aus dem das Unfallversicherungsrecht betreffenden Bereich des Übergangsrechts für das Beitrittsgebiet entscheidende Bedeutung beizumessen, wenn diese Praxis sich zweifelsfrei feststellen läßt, mit dem Wortlaut der betreffenden Norm in Einklang steht und sich innerhalb der genannten Schranken hält. Dadurch wird einerseits der Zielsetzung, die Betroffenen während eines Übergangszeitraums in dem in der ehemaligen DDR geltenden Rechtszustand zu belassen (vgl BGHZ 123, 65, 68), in vollem Umfang Rechnung getragen, weil so gewährleistet wird, daß sie weiterhin auch tatsächlich so behandelt werden, wie es damals durch die zuständigen Stellen der DDR geschehen wäre. Andererseits trägt die Beschränkung auf Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die nicht von spezifisch sozialistischen Wertungen bestimmt sind, dem Umstand Rechnung, daß die Vorschriften des Rechts der DDR bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Staatsvertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 ((Staatsvertrag), BGBl II 537) und sodann des Beitritts diese Änderung erfahren hatten und so auch nur ihr Fortgelten in diesem Status angeordnet werden konnte. Denn nach Art 4 Abs 1 des Staatsvertrages waren die einer föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung entgegenstehenden Vorschriften der Verfassung der DDR über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung nicht mehr anzuwenden und war fortbestehendes Recht gemäß den im Gemeinsamen Protokoll vereinbarten Leitsätzen, durch welche die Grundsätze einer freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung aufgestellt wurden, auszulegen und anzuwenden. Nach den Grundgedanken des Staatsvertrages und des EinigVtr darf das Recht der ehemaligen DDR, dessen temporäre Fortgeltung angeordnet ist, auch nur insoweit angewendet werden, als dies mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl BGHZ 123, 65, 69). Spezifisch sozialistische, mit diesen Grundsätzen nicht zu vereinbarende Rechtsnormen, Richtlinien und Auslegungsgrundsätze durften seither nicht mehr angewandt werden.
Die vom 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 29. April 1997 (SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1) erörterten - die Entscheidung nicht tragenden - Bedenken gegen die Heranziehung der Verwaltungspraxis der DDR sind nach Auffassung des Senats im Rahmen der oben genannten Grundsätze nicht begründet. Es widerspräche der Zielsetzung, die Betroffenen in ihrem damals geltenden Rechtszustand zu belassen, wenn das Recht, dessen Fortgeltung zu diesem Zwecke angeordnet ist, von den Behörden und Gerichten der Bundesrepublik Deutschland ohne Rücksicht auf dessen tatsächliche Anwendung durch die zuständigen Stellen der ehemaligen DDR, die Teil der damaligen Rechtswirklichkeit war, anzuwenden wäre. Für eine Auslegung des zeitweise fortgeltenden DDR-Rechts entsprechend der Verwaltungspraxis der DDR spricht auch die in Art 19 EinigVtr getroffene Regelung. Denn wenn Verwaltungsakte der DDR, die in der Regel auf deren Verwaltungspraxis beruhen, nach Maßgabe dieser Vorschrift wirksam bleiben (vgl BSG Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 32/00 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen - mwN), kann davon ausgegangen werden, daß die Vertragsparteien des EinigVtr und damit der bundesdeutsche Gesetzgeber die Verwaltungspraxis der DDR - sofern rechtsstaatliche Grundsätze oder Regelungen des EinigVtr nicht entgegenstehen - als Grundlage für fortbestehende Verwaltungsakte anerkannt hat. Damit wäre kaum vereinbar, in den Fällen der Anwendung fortgeltenden DDR-Rechts, in denen bei sonst vergleichbarem Sachverhalt kein Verwaltungsakt der DDR-Behörden erlassen worden ist, eine von dieser Verwaltungspraxis grundlegend abweichende Auslegung anzuwenden.
Daß für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung - anders als für den des Zivilrechts, auf den sich das oben genannte Urteil des BGH (aaO) bezieht - nicht auf Rechtsprechung von Gerichten der ehemaligen DDR zurückgegriffen werden kann, weil zumindest bis zum Inkrafttreten des Staatsvertrages keine gerichtliche Überprüfung sozialversicherungsrechtlicher Verwaltungsentscheidungen der DDR vorgesehen war, eine solche vielmehr erst geschaffen werden sollte, ändert daran nichts. Denn es ist nicht zu erkennen, daß die Verwaltung der Sozialversicherung der DDR im Alltagsbereich willkürlich und losgelöst von den bestehenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften in unberechenbarer Weise vorgegangen wäre. Äußerungen staatlicher Organe zum Inhalt der Rechtsanwendung kam vielmehr regelmäßig der Charakter einer faktisch verbindlichen Auslegung zu (vgl Oetker JZ 1992, 608, 611), so daß insoweit jedenfalls von einer gleichmäßigen Rechtsanwendung auf der Grundlage etwa bestehender Richtlinien zur Auslegung und Konkretisierung von Rechtsnormen ausgegangen werden kann. Dies muß insbesondere dann gelten, wenn es sich bei dem diese erlassenden staatlichen Organ - wie hier - um das für das zu regelnde Sachgebiet zuständige Fachministerium (für Gesundheit) handelt, das - zusammen mit dem FDGB - den materiellen Inhalt der betreffenden Richtlinien auch etwa im Rahmen der Liste der BKen hätte herausgeben können.
Gemäß der vom Ministerium für Gesundheitswesen der DDR herausgegebenen "Richtlinie zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden (BK-Nr 50)" (Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1989), Nr 6 S 57, abgedruckt in "Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer" (1945 - 1990), Sonderschrift 4 der Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Berlin 1994, S 269, 271) wurde das Vorliegen einer Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung angenommen, wenn daraus nach den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchung ein Körperschaden von mindestens 20 vH resultierte - Nr V, 1. Spiegelstrich aaO (vgl hierzu auch Kup in Konetzke/Rebohle/Heuchelt, Berufskrankheiten, Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 3. Aufl 1988, S 74) oder wenn die Bedingungen des § 7 Abs 2 der 5. Durchführungsbestimmung zur BKVO-DDR - Schutz vor berufsbedingter Lärmschwerhörigkeit - zutrafen. Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die zweite Alternative hier nicht einschlägig ist, weil sie nur noch im Arbeitsprozeß stehende Versicherte betreffen kann. Es ist nicht ersichtlich, daß die Richtlinie mit ihrer auf die Belange der praktischen Umsetzbarkeit gerichteten typisierenden Betrachtungsweise, die Grundlage der Verwaltungspraxis für die Anerkennung der BK Nr 50 war, mit dem Wortlaut der BK Nr 50 in der Liste der BKen nicht zu vereinbaren wäre oder ihren Grund gar in spezifischen sozialistischen Wertvorstellungen hätte. Ihrer Anwendung auf in dem Übergangszeitraum im Beitrittsgebiet eingetretene Versicherungsfälle steht daher nichts im Wege. Zur Anerkennung einer BK Nr 50 ist mithin in den nach der BKVO-DDR zu beurteilenden Fällen wie dem vorliegenden ein Körperschaden von mindestens 20 vH erforderlich. Bei einem darunterliegenden Wert ist der Versicherungsfall nicht eingetreten, eine Anerkennung als BK kann nicht erfolgen (siehe auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. Dezember 1997 - L 5a U 36/96 - = HVBG-Info 1998, 2617; LSG Niedersachsen, Urteil vom 7. Juni 2001 - L 6 U 383/99 - = HVBG-Info 2001, 2550; Mehrtens/Perlebach, BKVO, M 2301 RdNr 9). Für die Einschätzung des Körperschadens ist nach § 215 Abs 6 SGB VII iVm § 1154 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO die Regelung des § 56 SGB VII anzuwenden; danach sind für vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetretene Versicherungsfälle bei Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1991 MdE-Sätze anzusetzen, ohne daß es auf den Grund der Feststellung nach diesem Termin ankommt (vgl Kater/Leube, SGB VII, § 215 RdNr 29). Hinsichtlich der Anerkennung als BK gelten aber weiterhin die Voraussetzungen des Rechts des Beitrittsgebiets, so daß im vorliegenden Falle eine MdE um mindestens 20 vH gegeben sein muß. Der Grad des Körperschadens entspricht im übrigen regelmäßig im wesentlichen dem der MdE (KassKomm-Ricke, Anh § 215 SGB VII RdNr 23), worauf auch § 1154 Abs 1 Satz 1 RVO hindeutet.
Danach sind hier die Voraussetzungen für eine Anerkennung der Lärmschwerhörigkeit des Klägers als BK Nr 50 nicht erfüllt, weil dessen Körperschaden durch die berufsbedingte Hörminderung nicht mit einem Grad von 20 vH zu bewerten ist, sondern unterhalb dieses Wertes liegt. Das LSG hat aufgrund der Sachverständigengutachten von Dr. W. und Dr. N. in freier Beweiswürdigung unter Beachtung der anerkannten Erfahrungssätze in Gestalt der Tabelle von Feldmann festgestellt, daß bei dem Kläger eine Lärmschwerhörigkeit vorliegt, die auf berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen ist, daß beim Ausscheiden aus der Lärmtätigkeit am 30. Juni 1991 ein Hörverlust von beiderseits 20 vH zugrunde zu legen ist und daß dieser berufsbedingte Hörverlust einer MdE in Höhe von 10 vH entspricht. Diese Feststellungen des LSG, welche die Revision auch nicht angegriffen hat, sind bindend (§ 163 SGG).
Nicht herangezogen werden können die Grundsätze über die Feststellung des Versicherungsfalles der BK Nr 2301 der Anl 1 zur BKVO bei Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE nicht rentenberechtigenden, also unter 20 vH liegenden Grades nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 27. Juli 1989 - 2 RU 54/88 - = SozR 2200 § 551 Nr 35). Denn dies würde eine weder mit Wortlaut noch mit dem Zweck der gesetzlichen Regelung zu vereinbarende Vorwegnahme des Inkrafttretens des noch nicht übergeleiteten Unfallversicherungsrechts der alten Bundesländer zum 1. Januar 1992 bedeuten (vgl LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. Dezember 1997 - L 5a U 36/96 - = HVBG-Info 1998, 2617). Ebensowenig ist es zulässig, das fortgeltende Recht der ehemaligen DDR im Hinblick auf künftig (nach dem 31. Dezember 1991) in Kraft tretende gesetzliche Regelungen - etwa die Berücksichtigung als Stützrente - auszulegen, weil dies nicht dem angeordneten alten Rechtszustand entspräche, sondern den noch nicht in Kraft getretenen neuen vorwegnehmen würde. Vor dem 1. Januar 1992 eingetretene BKen, die nach dem Recht im Beitrittsgebiet nicht anzuerkennen wären, sollen gerade auch nach diesem Zeitpunkt nicht anerkannt werden, wenn sie nach dem dann auch im Beitrittsgebiet in Kraft getretenen Recht anzuerkennen wären (vgl BT-Drucks 12/405 S 154, Erläuterung zu § 1150 RVO).
Nach alledem war das Urteil des LSG auf die Revision der Beklagten aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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