L 2 KN 106/98 U

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 24 BU 117/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 106/98 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 KN 1/02 U R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 29. September 1998 wird zurückgewiesen. Der Bescheid vom 10. Dezember 1998 wird aufgehoben. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines aufsichtsrechtlichen Verpflichtungsbescheides.

Am 01. August 1995 gab der Sachverständigenbeirat beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) seine im April 1995 beschlossene Empfehlung bekannt, aufgrund neuerer gesicherter Erkenntnisse die Krankheit "chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [ ...] "als neue Berufskrankheit in die Berufskrankheitenliste aufzunehmen. In der Folgezeit entschädigte die Klägerin diese Krankheit wie eine Berufskrankheit, § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Im Mai 1997 wurde beim BMA ein Referentenentwurf beschlossen, der eine Neubekanntmachung der Berufskrankheitenverordnung (BKV) vorsah, in deren Anlage (= Berufskrankheitenliste) die genannte Krankheit nunmehr als Berufskrankheit Nr. 4111 aufgenommen werden sollte. Außerdem war vorgesehen, dass nur diejenigen Versicherungsfälle entschädigt werden sollten, die nach dem Inkrafttreten der letzten Änderung der früheren Berufskrankheiten verordnung (BKVO) durch die Zweite Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2343 f), also gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung nach dem 31. Dezember 1992, eingetreten waren. Dieser Referentenentwurf wurde der Klägerin am 06. Juni 1997 bekannt. Am 28. August 1997 wurde die neue BKV vom Bundeskabinett beschlossen, am 05. November 1997 wurde sie als "Berufskrankheitenverordnung vom 31. Oktober 1997" im Bundesgesetzblatt veröffentlicht (BGBl. I S. 2623), am 01. Dezember 1997 trat sie in Kraft, § 8 Abs. 1 BKV.

Von August 1995 bis zum Bekanntwerden des Verordnungsentwurfes am 06. Juni 1997 hatte die Klägerin die genannte Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt der Versicherungsfall eingetreten war, entschädigt. Nachdem ihr der Entwurf bekanntgeworden war, änderte sie diese Praxis, und berief sich im Folgenden bis zum Inkrafttreten der Verordnung am 01. Dezember 1997 für die Ablehnung von Ansprüchen im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO auch auf die in der beabsichtigten Neuregelung enthaltene Leistungseinschränkung (die sog. Stichtagsregelung), § 6 Abs. 1 BKV.

Diese Verfahrensweise wurde der Beklagten im Juli 1997 durch eine Einzeleingabe bekannt. Daraufhin teilte sie der Klägerin mit, dass die Ablehnung von Leistungen auf der Grundlage eines Entwurfs einer Verordnung zur Neufassung der Berufskrankheitenverordnung rechtlich bedenklich sei, und bat um nähere Angaben (Schreiben vom 29. August 1997). Die Klägerin antwortete, sie habe bisher etwa 3.800 Fälle gemäß § 551 Abs. 2 RVO im Sinne einer Einzelfallregelung entschieden. Nach dieser Vorschrift werde sie bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung auch weiter verfahren. Es sei rechtlich kaum vertretbar, den bereits erkennbaren Willen des Verordnungsgebers über eine zeitlich begrenzte Rückwirkung außer Acht zu lassen, weil dies zu einer Besserstellung gegenüber denjenigen Versicherten führt, deren Anträge erst nach dem Inkrafttreten der Verordnung beschieden würden. Dabei verkenne sie nicht, dass man mit ebenfalls beachtlichen Gründen auch anderer Auffassung sein könne. Gerade dies dränge zu einer schnellen gerichtlichen Klärung, die in mehreren bereits anhängigen Klageverfahren erstrebt werde. Bisher sei ein Anspruch in ca. 580 Fällen wegen der bekannt gewordenen Stichtagsregelung abgelehnt worden.

Die Beklagte hielt die Argumentation der Klägerin für nicht stichhaltig. Sie meinte, dass bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung nach dem bis dahin geltenden Recht zu entschädigen sei, also eine zeitlich unbegrenzte Entschädigung der Krankheit wie eine Berufskrankheit erfolgen müsse. Allenfalls könne man argumentieren, der Wille des Verordnungsgebers sei ab dem 28. August 1997, dem Beschluss der Bundesregierung, zu berücksichtigen. Keinesfalls dürfe aber der Wille des Verordnungsgebers bereits bei Bekanntwerden eines Referentenentwurfes zugrundegelegt werden. Sie bitte daher in dem der Eingabe zugrundeliegenden Fall, den ablehnenden Bescheid aufzuheben und eine Anerkennung vorzunehmen. Außerdem bitte sie, in den übrigen 580 Fällen entsprechende Überprüfungen einzuleiten (Schreiben vom 04. November 1997).

Am 25. November 1997 fand bei der Beklagten ein Gespräch zu der zwischen den Beteiligten streitigen Verfahrensweise der Klägerin statt. In einem hierzu gefertigten Gesprächsvermerk heißt es, es gehe der Beklagten nur um die Fälle, die bereits vor Inkrafttreten der Stichtagsregelung entschieden werden konnten. Es sei ein Musterverfahren beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig, wozu im Jahre 1998 eine Entscheidung erwartet werde. Falls diese für die Klägerin negativ ausfalle, werde sie Ansprüche aus § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) prüfen und in den Fällen, die bereits entscheidungsreif waren, solche Ansprüche bejahen.

Im Anschluss an dieses Gespräch erläuterte die Klägerin der Beklagten erneut schriftlich ihre Rechtsauffassung. Dabei machte sie deutlich, dass es sich bei der Frage, ab welchem Zeitpunkt eine bekanntgewordene, aber noch nicht in Kraft getretene Anspruchsbegrenzung berücksichtigt werden dürfe, um eine auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und Literatur ungeklärte Rechtsfrage handele, die schnellstmöglich einer gerichtlichen Klärung zuzuführen sei (Schreiben vom 17.12.1997).

Die Beklagte erwiderte, eine umfängliche rechtliche Prüfung habe ergeben, dass die vorgreifliche Anwendung der Stichtagsregelung rechtswidrig sei. Dies lasse sich auch mittelbar den Ausführungen eines Urteils des Bundessozialgerichts vom 14. November 1996 (BSGE 79, 250 ff.= SozR 3-2200 § 551 RVO Nr. 9) entnehmen. Da die Abwicklung der unrichtig entschiedenen Fälle nun wegen des zwischenzeitlichen Inkrafttretens der neuen BKV nicht mehr möglich sei, hätten die Betroffenen einen Schadensersatzanspruch nach § 839 BGB, Art. 34 des Grundgesetzes (GG). Die fehlerhafte Rechtsanwendung sei auch vorwerfbar erfolgt, da die Klägerin gegen die eindeutige Bestimmung des § 551 Abs. 2 RVO verstoßen habe. Deshalb werde sie gebeten, den Betroffenen im Wege des Schadensersatzes die entsprechenden Leistungen zu gewähren. Sofern sie dieser Aufforderung nicht binnen 6 Wochen nachkomme, sehe sich die Beklagte gehalten, einen förmlichen Verpflichtungsbescheid zu erlassen (Schreiben vom 19.05.1998). Die Klägerin teilte daraufhin mit, sie verbleibe bei ihrer Auffassung, mit der sie sich innerhalb eines vertretbaren Interpretationsrahmens bewege. Ihr Verhalten sei damit weder rechtswidrig noch schuldhaft.

Daraufhin verpflichtete die Beklagte die Klägerin, "in allen Fällen, in denen aufgrund der vorgreiflichen Anwendung der Stichtagsregelung (§ 6 der Berufskrankheitenverordnung in der Fassung vom 31. Oktober 1997) der Antrag der Versicherten auf Entschädigung der chronischen obstruktiven Bronchitis oder des Emphysems von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau nach § 551 Abs. 2 bzw. § 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt wurde, die Feststellungsverfahren mit dem Ziel wieder zu eröffnen, den Betroffenen im Wege des Schadensersatzes nach § 839 BGB, Art. 34 GG die im einzelnen zu ermittelnden Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren und diese Verfahrensaufnahme dem Bundesversicherungsamt unverzüglich schriftlich zu bestätigen". Zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung führte sie aus, die Verfahrensweise der Klägerin sei mit geltendem Recht nicht vereinbar. Dazu berief sie sich auf den Sinn und Zweck der Rechtsvorschriften, nach denen eine Krankheit wie eine Berufskrankheit entschädigt wird, sowie auf die dazu ergangene Rechtsprechung des BSG und (in allgemeiner Form) auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Sie habe sich trotz des geltenden Opportunitätsprinzips zum Einschalten entschlossen, da es sich um schwerwiegende Rechtsverletzungen handele und im Interesse aller betroffenen Versicherten als der sozial Schwächeren ein Einschreiten geboten sei. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei im öffentlichen Interesse geboten (Bescheid vom 23. Juli 1998).

Hiergegen hat die Klägerin am 10. August 1998 Klage erhoben und gleichzeitig beantragt, deren aufschiebende Wirkung wieder herzustellen. Das Sozialgericht (SG) hat die aufschiebende Wirkung der Klage wieder hergestellt, da sich nach summarischer Prüfung ergebe, dass der angefochtene Verpflichtungsbescheid rechtswidrig und die Anordnung seiner sofortigen Vollziehung deshalb nicht im öffentlichen Interesse geboten sei (Beschluss vom 22.09.1998).

Die Klägerin hat zur Begründung der Klage gemeint, dass es für einen Schadensersatzanspruch jedenfalls an an einer Pflichtverletzung oder einem Verschulden fehle. Sie habe zu der streitigen Rechtsfrage einen gut vertretbaren Rechtsstandpunkt eingenommen. Ihre Verfahrensweise beruhe auf einer nach gewissenhafter tatsächlicher und rechtlicher Prüfung durch vernünftige Überlegungen gebildeten Auffassung. Deshalb könne ihr auch kein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden. Außerdem seien Aufsichtsmittel grundsätzlich nicht einzusetzen, wenn es um eine Rechtsfrage gehe, mit der sich bereits das BSG in einem Revisionsstreitverfahren befasse. Ein aufsichtsrechtlicher Verpflichtungsbescheid komme vielmehr nur bei eindeutigen Fehlern oder offenkundigen Rechtsverstößen in Betracht. Ein solcher liege jedoch nicht vor, weshalb das Einschreiten der Beklagten ermessensfehlerhaft sei und einen Eingriff in ihr Selbstverwaltungsrecht darstelle. Diese könne bei ungeklärter Rechtslage nicht ihre - noch so gut vertretbare - Rechtsauffassung an die Stelle der ebenfalls vertretbaren Rechtsauffassung des beaufsichtigen Versicherungsträgers setzen.

Daneben sei auch nicht erkennbar, wie die von der Beklagten ausgesprochene Verpflichtung erfüllt werden solle. Sie könne keine zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche gegen sich selbst feststellen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 23. Juli 1998 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihren Bescheid weiter für rechtmäßig gehalten.

Das SG hat den Verpflichtungsbescheid aufgehoben. Es hat gemeint, die von der Klägerin geübte Verfahrensweise sei zwar rechtlich durchaus bedenklich, die Rechtswidrigkeit des Verpflichtungsbescheides ergebe sich jedoch unabhängig davon. Denn die Beklagte dürfe der Klägerin nicht auferlegen, den Versicherten Schadensersatzleistungen zu gewähren, weil ihnen solche nicht zustünden. Das Verhalten der Klägerin sei jedenfalls nicht schuldhaft, weil sie keinen rechtlich unvertretbaren Standpunkt eingenommen habe. Außerdem habe die Beklagte nicht durch eine Aufsichtsmaßnahme den zahlreichen anhängigen Klageverfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit vorgreifen dürfen (Urteil vom 29. September 1998, der Beklagten zugestellt am 30. Oktober 1998).

Hiergegen hat die Beklagte am 26. November 1998 Berufung eingelegt und kurz darauf einen weiteren Bescheid erlassen, mit dem sie den Bescheid vom 23. Juli 1998 insoweit geändert hat, als der Satzteil "im Wege des Schadensersatzes nach § 839 BGB, Art. 34 GG" gestrichen wurde. Dadurch, so hat sie in der Begründung ausgeführt, solle verhindert werden, dass andere, hilfsweise geltend gemachte Anspruchsgrundlagen ignoriert würden. Unbeschadet dessen werde der Verpflichtungsbescheid allerdings weiterhin vorrangig auf den Schadensersatzanspruch nach § 839 BGB, Art. 34 GG gestützt (Bescheid vom 10. Dezember 1998).

Zur Begründung ihres Rechtsmittels hat sie vorgetragen, sie sei entgegen der Auffassung des SG jederzeit und bei jedem Stand irgendwelcher Verfahren befugt und ggfs. sogar verpflichtet, kraft Aufsichtsrechts einzuschreiten und Verwaltungsunrecht zu beseitigen. Die zahlreichen bereits laufenden Klage verfahren zeigten gerade, wie rechtlich notwendig der Durchgriff gewesen sei. Ihr Einschreiten garantiere anders als die anhängigen gerichtlichen Verfahren eine beschleunigte einheitliche und rechtmäßige Verfahrensweise gegenüber allen Versicherten.

Eine Rechtsverletzung der Klägerin liege offensichtlich vor. Denn es gebe jeweils nur eine richtige Rechtsauffassung, nicht jedoch mehrere unterschiedliche vertretbare Ansichten. Ungeachtet dessen habe sie sich hier zum Eingreifen entschließen müssen, da die Nichtanwendung einer geltenden Norm durch die Klägerin kein Verhalten darstelle, das als vertretbar oder nachvollziehbar angesehen werden könne. Die im Anordnungsbescheid konkret ausgesprochene Verpflichtung sei weder unklar noch unbestimmt. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) komme nicht zur Anwendung.

Nach Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 30. September 1999, worin die Vorgehensweise der Klägerin als - noch - rechtmäßig angesehen wird, hat sie gemeint, ihre Auffassung werde durch diese Urteile bestätigt, weil das BSG erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des § 6 Abs. 1 BKV geäußert habe. Sie habe gerade deshalb aufsichtsrechtlich einschreiten dürfen und müssen, weil durch das zwischenzeitliche Inkrafttreten der BKV sozialrechtliche Ausgleichsmechanismen versagten. Die ursprünglich rechtswidrigen Entscheidungen könnten dadurch nicht mehr anders als durch aufsichtsrechtliches Einschreiten korrigiert werden. Außerdem hat sie sich durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 09. und 24. Oktober (1 BvR 131/95 und 1 BvR 791/95) in ihrer Auffassung bestätigt gesehen. Darin komme nämlich zum Ausdruck, dass es den Unfallversicherungsträgern verwehrt sei, die Entscheidung über einen Antrag nach § 551 Abs. 2 RVO zurückzustellen, wenn eine Änderung der Berufskrankheitenverordnung in Sicht sei. Daraus ergebe sich im Erst-Recht-Schluss, dass es ihnen aus Gründen der Gleichbehandlung erst recht verwehrt sei, bei einer solchen Entscheidung vorgreiflich eine noch nicht in Kraft getretene Stichtagsregelung anzuwenden. Eine solche Entscheidung eines Leistungsträgers sei vielmehr willkürlich und verletze den betroffenen Versicherten in seinen Grundrechten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 29.09.1998 zu ändern und die Klage, auch soweit sie sich gegen den Bescheid vom 10.12.1998 richtet, abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und den Bescheid vom 10.12.1998 aufzuheben.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend und den Verpflichtungsbescheid auch in der Form, die er durch den nach Erlass des Urteils ergangenen Bescheid vom 10. Dezember 1998 erhalten hatte, für rechtswidrig. Die Beklagte sei nicht befugt gewesen, eine Verpflichtungsanordnung zu erlassen. Ihr Entschluss, aufsichtsrechtlich einzuschreiten, sei ermessensfehlerhaft, weil alle Betroffenen ihre Rechtsansprüche selbst gerichtlich verfolgen könnten. In der Sache habe sie - die Klägerin - das Recht auch nicht fehlerhaft angewandt.

Das BSG habe in seinen drei Entscheidungen vom 30. September 1999 im Ergebnis entschieden, dass die von ihr praktizierte vorgreifliche Anwendung der BKV mit dem geltenden Recht übereinstimme. Damit sei höchstrichterlich geklärt, dass die von der Beklagten als offenkundig rechtswidrig gerügte Praxis dem geltenden Recht entspreche und Ansprüche der Versicherten gegen die Klägerin damit nicht bestünden. Auch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts von Oktober 2000 böten keine Veranlassung, den Sachverhalt anders zu beurteilen. Dort habe das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Verfassungswidrigkeit lediglich unter dem Aspekt angedeutet, dass eine allein von sachfremden Erwägungen geleitete Hinauszögerung des Verfahrensabschlusses bis zum Inkrafttreten der Stichtagsregelung vorliege; um eine solche Fallgestaltung handele es sich hier jedoch nicht.

Selbst wenn eine Rechtsverletzung vorläge, sei der angefochtene Bescheid gleichwohl wegen Ermessensmissbrauchs, nämlich wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Bestimmtheit rechtswidrig. Auch die angeordnete Verpflichtung selbst sei rechtswidrig, weil die Beklagte weder zivilrechtliche Ansprüche Dritter durch Verwaltungsakt feststellen könne, noch die Klägerin veranlassen könne, sozialrechtliche Primärleistungen, die die Betroffenen selbst vor den Sozialgerichten verfolgen könnten, zu gewähren. Schon allein die umfangreiche und komplexe Diskussion der rechtlichen Fragestellungen im Berufungsverfahren zeige, dass es sich nicht um eine eindeutige Rechtslage gehandelt habe.

Wegen der Darstellung der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beteiligten Bezug genommen; sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet. Die Klage gegen den Bescheid vom 10.12.1998, der den Ausgangsbescheid geändert hat und der gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden ist, ist begründet.

Die Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihrem Selbstverwaltungsrecht (§ 29 Abs. 1 4. Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)), weil die Beklagte mit den hierin getroffenen Anordnungen ihr Aufsichtsrecht überschreitet. Die Bescheide lassen sich nicht auf die (hier einzig als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommende) Vorschrift des § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV stützen. Danach soll die Aufsichtsbehörde, wenn ein Versicherungsträger durch Handeln oder Unterlassen das Recht verletzt, zunächst darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt. Kommt dieser dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde ihn zur Behebung der Rechtsverletzung verpflichten. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Zwar ist die Anordnung formell nicht zu beanstanden (vgl. dazu 1). Sie entspricht aber jedenfalls deswegen nicht dem materiellen Recht, weil die Beklagte das ihr zustehende Auswahlermessen fehlerhaft betätigt hat (vgl. dazu 2).

1. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Aufsichtsanordnung der hier gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB IV zuständigen Beklagten formell ordnungsgemäß zustande gekommen. Denn diese hat die Klägerin durch ihre Schreiben vom 04. November 1997 und 19. Mai 1998 hinreichend konkret über die behauptete Rechtsverletzung sowie die zu ihrer Behebung in Betracht kommenden Maßnahmen informiert und ihr eine angemessene Frist (hier von 6 Wochen) gesetzt, um zumindest die Bereitschaft zu erklären, die zur Behebung der behaupteten Rechtsverletzung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV. Selbst wenn man die Beratungsobliegen heit der Beklagten weiter fasste und eine Verpflichtung zu kooperativem Verhalten und Eintritt in einen konstruktiven Dialog forderte (vgl. Hauck, SGB Gesamtkommentar - SGB IV -, § 89 Rdnr. 4 b), ist auch diese Voraussetzung durch das Gespräch bei der Beklagten am 25. November 1997 erfüllt.

Soweit die Klägerin meint, in den Fällen, in denen bereits Klageverfahren von Versicherten anhängig seien, die die behauptete Rechtsverletzung betreffen, sei eine Aufsichtsanordnung nicht statthaft, also im Gesetz gar nicht vorgesehen, trifft dies nicht zu. Eine solche Restriktion ist dem Wortlaut des § 89 Abs. 1 SGB IV nicht zu entnehmen. Vielmehr genügt es für die Statthaftigkeit einer Aufsichtsanordnung, dass die Beklagte eine solche Rechtsverletzung schlüssig behauptet. Ob sie tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit.

2. Es kann dahingestellt bleiben, ob das von der Beklagten beanstandete Vorgehen der Klägerin eine Rechtsverletzung im Sinne des § 89 Abs. 1 SGB IV darstellt (dazu im Folgenden a.) Ebensowenig braucht entschieden zu werden, ob die Beklagte von ihrem Entschließungsermessen (" ... kann ...") hier dahingehend Gebrauch machen durfte, sich zu einem aufsichtsrechtlichen Einschreiten gegen die Klägerin zu entschließen (dazu im Folgenden b). Denn die getroffene Anordnung ist jeden falls deswegen rechtswidrig, weil die Beklagte ihr Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt hat (dazu im Folgenden c).

a) Eine Rechtsverletzung im Sinne des § 89 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB IV liegt vor, wenn das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers gegen Vorschriften von Gesetzen, Rechtsverordnungen, autonomen Recht, allgemeinen Verwaltungsvorschriften oder gegen Gewohnheitsrecht verstößt (Hauck § 89 Rdnr. 3; Grüner/Dalichau, Sozialgesetzbuch (SGB), Kommentar Bd. III, Stand 01. Juni 2001, § 89 SGB IV, II S. 4), wobei auch ein etwaiger Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch der Kontrolle der Aufsichtsbehörde unterliegt (Wannagat/Stober/Schuler, SGB Kommentar, Stand 2000, § 89 SGB IV Rdnr. 6). Damit ist von diesem Begriff jeder Verstoß gegen den alles staatliche Handeln verpflichtenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung erfasst. Eine solche Rechtsverletzung ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Verwaltung bei der Rechtsanwendung Normen entgegen ihrem durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärten oder ansonsten eindeutigen Inhalt interpretiert. Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor. Zwar hat der 2. Senat in seinem Urteil vom 14.11.1996 - 2 RU 9/96 - (SozR 3-2200 § 551 Nr. 9) entschieden, dass die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung bei Vorliegen "neuer Erkenntnisse" im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO nicht befugt sind, einen Stichtag festzulegen und Versicherungsfälle vor diesem Tag allein deshalb von einer Entschädigung auszuschließen. Er hat aber ausdrücklich offengelassen, ob und inwieweit nach Vorliegen eines Entwurfs einer neuen Änderungsverordnung die Unfallversicherungsträger möglicherweise darin vorgesehene Klauseln und Fristen bei der Entscheidung über einen Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO "im Vorgriff" zu berücksichtigen haben. Allein dies erweist, dass die von der Beklagten unter Hinweis auf die Ausführungen von Eilebrecht, Die Berufsgenossenschaft 1993, S. 187 ff., 190 ff. vertretene Auffassung jedenfalls nicht unvertretbar ist. Die Analyse des BSG-Urteils bestätigt dies. Der vom BSG aufgestellte Grundsatz soll ersichtlich den Verordnungsgeber zu einer zügigen Aufnahme "neuer" Berufskrankheiten in die Liste der Anlage zur BKV anhalten, wobei er - so das BSG - durch eine zulässige, sachlich begründete Begrenzung der Versicherungsfälle nach einem bestimmten Stichtag vermeiden kann, dass für länger zurückliegende Versicherungsfälle kaum oder nur mit unvertretbarem Verwaltungsaufwand lösbare Schwierigkeiten bei der Feststellung der erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen oder nicht tragbare finanzielle Belastungen auftreten. Eine solche sachgerechte Eingrenzung könnte dem Verordnungsgeber verwehrt sein, wenn es dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG widerspräche, dass eine "nennenswerte" Zahl von Versicherten über § 551 Abs. 2 RVO entschädigt wird, ein anderer Teil wegen der begrenzten Rückwirkung nach Inkrafttreten einer neuen Verordnung oder Änderungsverordnung aber nicht (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 24.02.2000 - B 2 U 43/98 R - SozR 3-2200 § 551 Nr. 14). Dies könnte bei einer "vorgreiflichen" Anwendung einer Stichtagsregelung vermieden werden. Durch die während des Verfahrens ergangenen Urteile des 8. Senats des BSG (Urteile vom 30.09.1999: BSGE 84, 24 ff= SozR 3-2200 § 551 Nr. 13 und die beiden weiteren, am gleichen Tag ergangenen Parallelentscheidungen - Az. B 8 KN 1/98 und 4/98 U R - sowie Urteil vom 24.02.2000 - SozR 3-2000 § 551 Nr. 14; zur Kritik vgl. Vossen, Ungereimtes (Unreimbares?) um § 9 II SGB VII und die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV. In: Die Sozialgerichtsbarkeit 2000, S. 610 ff.) ist die umstrittene Rechtsfrage nicht geklärt worden. Das BSG hat sich der Auffassung des 2. Senats im Urteil vom 14.11.1996 a.a.O. angeschlossen, ebenso wie dieser aber die hier umstrittene Frage nicht beantwortet. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Rechtslage auch durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2000 - 1 BvR 1319/95 - und 09.10.2000 - 1 BvR 791/95= SozR 3-2000 § 551 Nr. 15 nicht geklärt. Wenn es in der Entscheidung vom 24.10.2000 heißt, der dortige Beschwerdeführer habe im Zuge des von ihm beantragten Feststellungsverfahrens nach § 551 Abs. 2 RVO eine Grundrechtsverletzung nicht hinnehmen müssen, weil der Träger der Unfallversicherung einen Leistungsanspruch nicht im Hinblick auf eine künftige Rückwirkungsregelung verneint habe, so muss das nicht bedeuten, dass damit verfassungsrechtlich jeglicher Vorgriff auf eine bevorstehende Stichtagsregelung unzulässig sein soll, also auch in den Fällen, in denen ein Referenten entwurf oder sogar ein Kabinettsbeschluss vorliegt oder die neue Verordnung bereits verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Auch der Entscheidung vom 09.10.2000 ist kein verfassungsrechtliches Verbot der von der Klägerin praktizierten Rechtsauslegung zu entnehmen.

Einer Entscheidung über die umstrittene Rechtsfrage bedarf es hier allerdings nicht, weil die Anordnung selbst bei sachlicher Richtigkeit der ihr zugrundeliegenden Rechtsauffassung rechtswidrig ist. Aus diesem Grunde kann es auch dahingestellt bleiben, ob eine Rechtsverletzung im Sinne des § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV hier schon deswegen ausscheidet, weil die Rechtslage nicht eindeutig ist (vgl. hierzu Schirmer/Kater/ Schneider a.a.O. 220 S. 3) und die Befugnis der Aufsichtsbehörde vor derjenigen der Gerichte endet (Schmidinger, Die Rechtsaufsicht gemäß §§ 87, 89 SGB IV oder: Vom Berufe der Aufsichtsbehörden, die Auslegung von Gesetzen verbindlich anzuordnen. In: Die Sozialversicherung 1989 S. 113, 115). Dabei ist allerdings auf Folgendes hinzuweisen: Wenn der Begriff der Rechtsverletzung im Sinne von § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV grundsätzlich restriktiv auszulegen wäre, müsste hier die Besonderheit beachtet werden, dass die wünschenswerte höchstrichterliche Klärung der umstrittenen Rechtsfrage unter Zugrundelegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Prozessen der Versicherten praktisch nicht erzielt werden kann. In Übereinstimmung mit (auch älterer) Rechtsprechung des 2.-BSG-Senats (SozR 3-2200 § 551 Nrn. 3 und 14) hat der 8. Senat des BSG in den Entscheidungen vom 30.09.1999 a.a.O. die Rechtsauffassung vertreten, dass bei einem Versicherungsfall vor dem Stichtag einer Rückwirkungsklausel im sozialgerichtlichen Verfahren der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung auch dann nicht zur Anerkennung einer Krankheit "wie" eine Berufskrankheit (§ 551 Abs. 2 RVO/§ 9 Abs. 2 SGB VII) verurteilt werden kann, wenn das Verwaltungsverfahren noch vor Inkrafttreten der Aufnahme jener Krankheit in die Berufskrankheiten-Liste mit der Rückwirkungsklausel abgeschlossen worden war. Des Weiteren hat der 8. Senat entschieden, dass der Versicherte bei (unterstellter) rechtswidriger Ablehnung nach § 551 Abs. 2 RVO/§ 9 Abs. 2 SGB VII seine Ansprüche auch nicht über § 44 SGB X oder einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch durchsetzen kann. Da ein gerichtliches Verfahren aus Zeitgründen praktisch immer erst nach Inkrafttreten der zuvor bekannt gewordenen Verordnungsänderung abgeschlossen werden kann, ist eine höchstrichterliche Klärung der umstrittenen Rechtsfrage in Verfahren einzelner Versicherten kaum zu erwarten. Denn wenn sich das BSG auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung zu der umstrittenen Frage nicht äußern müsste, ist kaum zu erwarten, dass ein Versicherter angesichts der übereinstimmenden Rechtsprechung zweier BSG-Senate einen auf eine rechtswidrige Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO/§ 9 Abs. 2 SGB gestützten Prozess nach Inkrafttreten der neuen Verordnung weiterführen wird. Angesichts dieser Rechtschutzlücke liegt es nahe, auch bei grundsätzlich restriktiver Interpretation hier eine Rechtsverletzung im Sinne von § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV nicht allein wegen der unklaren Rechtslage auszuschließen.

b) Es bestehen - des Weiteren - rechtliche Bedenken, ob die Beklagte ihr Entschließungsermessen dahingehend gebrauchen durfte, eine Aufsichtsanordnung zu erlassen, oder ob die Entscheidung, davon trotz angenommener Rechtsverletzung abzusehen, die allein rechtmäßige Entscheidung war. Dabei hat die Beklagte entgegen der Auffassung der Klägerin ihr Ermessen ausweislich der Ausführungen im Bescheid vom 23. Juni 1998 (S. 6 f.) tatsächlich betätigt, auch wenn sie die von der Klägerin für wesentlich gehaltenen Erwägungen nicht angestellt haben mag.

Deshalb kommt dogmatisch nur ein Ermessensfehlgebrauch ernsthaft in Betracht, weil es so etwas wie einen "partiellen Ermessensnichtgebrauch" (etwa in Fällen, in denen nur untergeordnete, nicht jedoch die eigentlich bedeutsamen Erwägungen angestellt wurden) nicht gibt.

Ein Ermessensfehlgebrauch könnte sich daraus ergeben, dass die Beklagte sich zum Einschreiten entschlossen hat, obwohl die behaupteten Rechtsverletzungen subjektive Rechte einzelner Versicherte betrafen und bereits Gerichtsverfahren - sogar beim BSG - anhängig waren, in denen über die sozialen Rechte der Betroffenen zu entscheiden war (Schnapp, Die vorgreifliche Anordnung der Aufsichtsbehörde in der Sozialversicherung. In: Die Betriebskrankenkasse 1969, 97 ff., hält in diesen Fällen eine von ihm als "vorgreifliche Anordnung" bezeichnete Aufsichtsmaßnahme generell für unzulässig; ähnlich BSG SozR 3-2400 § 28 n Nr. 8). Dadurch war bereits im Zeitpunkt des Einschreitens gewährleistet, dass Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung von den durch das Grundgesetz hierzu berufenen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit geklärt wurden. Dabei mag wegen der fehlenden Rechtskrafterstreckung nicht genügen, dass solche Entscheidungen in unter Umständen nicht repräsentativen Einzelfällen ergehen und im Ergebnis nicht allen betroffenen Versicherten zugute kommen mögen. Hier hatte die Klägerin aber bereits ausdrücklich erklärt, dass sie diese Verfahren für geeignet halte, eine grundsätzliche Klärung der streitigen Ansprüche zu ermöglichen (Schreiben vom 04. September 1997). Darin liegt aber die Bereitschaft, im Falle einer für die Versicherten günstigen Entscheidung alle Betroffenen entsprechend dieser Entscheidung zu behandeln. Mit guten Gründen lässt sich deshalb die Auffassung vertreten, dass jedenfalls in solchen Fällen das aufsichtsrechtliche Einschreiten mit dem Ziel, einen drohenden Nachteil von den betroffenen Versicherten abzuwenden, aus Rechtsgründen nicht zulässig ist, also allein die Entscheidung, von einem aufsichtsbehördlichen Einschreiten abzusehen, ermessensfehlerfrei und damit rechtmäßig ist (Schmidinger, a.a.O. S. 114, der meint, in einem solchen Falle verfehle die Aufsichtsanordnung ihren Zweck). Ob - weitergehend - in der Entscheidung einzuschreiten ein Ermessensfehlgebrauch bereits dann liegt, wenn Klagen einzelner Versicherter zwar noch nicht anhängig, aber möglich sind (so Schnapp a.a.O. S. 100 ff.) oder gar nur die Möglichkeit eines Antrages nach § 44 SGB X besteht (so Schmidinger, a.a.O. S. 115) kann hier offen bleiben. Das BSG hat diese Auffassung unter Hinweis auf den im Grundgesetz verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3, 92 GG) und die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen vertreten (BSGE 25, 224, 226; Breithaupt 1971, 85, 87; offen gelassen in SozR 2200 § 627 RVO Nr. 1; s. auch RVA GE 2225, AN 1919, 447 f. und AN 1924, 130, 132). Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man für einen ermessensfehlerfreien Entschluss zum aufsichtsrechtlichen Einschreiten fordert, es müsse ein ganz eindeutiger, offenkundiger Rechtsverstoß vorliegen (Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Stand Januar 2001, Nr. 230 S. 2). Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass in Fällen unklarer Rechtslage - selbst wenn nur eine Rechtsauffassung von mehreren vertretbaren richtig wäre und alle übrigen eine Rechtsverletzung darstellten - auch das Gebot der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung nicht den Erlass einer Aufsichtsanordnung rechtfertigte; diese ist dann eben nur durch (höchst-)richterliche Klärung der Rechtsfrage zu erreichen (Schmidinger S. 115 f.).

Diese Ausführungen gelten jedenfalls dann, wenn die Aufsichtsbehörde - wie hier -erst einschreitet, nachdem die maßgebliche Verordnung bereits in Kraft getreten ist. Ob angesichts der zu 1. aufgezeigten Rechtsschutzlücke zuvor ein abweichender Ermessensgebrauch eher in Betracht kommt, kann vorliegend offen bleiben.

Die gleichen Bedenken (Vorrang einer Klärung durch die - höchstrichterliche - Rechtsprechung) gelten, soweit die Beklagte durch ihre Anordnung zivilrechtliche Ansprüche festsetzt. Zum einen ist nämlich die umstrittene sozialrechtliche Rechtsfrage für einen Amtshaftungsanspruch vorgreiflich, zum anderen stünde nach ihrer Klärung den Versicherten auch hier der - ordentliche - Rechtsweg offen, Art. 34 Satz 3 GG.

c) Die Beklagte hat ihr Aufsichtsrecht jedenfalls dadurch überschritten, dass sie der Klägerin eine Verpflichtung auferlegt hat, für die es keinen Rechtsgrund gibt (vgl. hierzu aa). Zudem ist die Anordnung unbestimmt bzw. unverhältnismäßig (vgl.bb).

aa) Wie das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, hat die Beklagte der Klägerin im Bescheid vom 23.07.1998 ausschließlich die Leistung von Schadensersatz nach § 839 BGB, Art. 34 GG auferlegt. Die Formulierung, dass die "im einzelnen zu ermittelnden Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren" seien, betrifft nur die Höhe des Schadensersatzanspruches. Dies ergibt sich auch aus den Gründen des Bescheides, denen zufolge "zur Feststellung der Höhe des Schadensersatzanspruches ... in den betroffenen Fällen die Feststellungsverfahren wieder aufgenommen und die zu gewährenden Leistungen im Einzelnen ermittelt werden" sollten (s. Punkt 2 am Ende). Die so umschriebene Verpflichtung sollte durch den Bescheid vom 10.12.1998 nicht entfallen. Die darin verfügte Streichung des Satzteiles "im Wege des Schadensersatzes nach § 839 BGB, Art. 34 GG" sollte ausweislich der Gründe vielmehr nur verhindern, dass andere, hilfsweise geltend gemachte Anspruchsgrundlagen der Versicherten "ignoriert" würden. Vorrangig sollte "zur Begründung unseres Verpflichtungsbescheides" auch weiterhin der deliktische Anspruch "betont "werden. Mit dieser Erweiterung bezweckte die Beklagte ersichtlich, dass bei der gerichtlichen Überprüfung ihrer Anordnung die inzidenter zu beurteilenden materiellen Ansprüche der Versicherten unter jeglichem rechtlichen Gesichtspunkt beleuchtet werden konnten. Es kann daher nicht angenommen werden, dass mit der Erweiterung lediglich eine Verpflichtung der Klägerin zu einer (eigenständigen) Überprüfung der sozialrechtlichen Ansprüche der Versicherten etwa gemäß § 44 SGB X oder dem ausdrücklich erwähnten Herstellungsanspruch erfolgen sollte. Selbst wenn dies so wäre und die Klägerin befugt bleiben sollte, solche sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche abzulehnen, bliebe ihre Zahlungsverpflichtung davon unberührt. Denn sie müsste dann der Anordnung zufolge auf jeden Fall nach Deliktsrecht Leistungen erbringen. Die Anordnung zielt gerade nicht lediglich auf eine Überprüfung solcher Ansprüche durch die Klägerin ab, was angesichts deren Überzeugung von ihrem rechtmäßigen, jedenfalls nicht schuldhaften Verhalten keinen Sinn gemacht hätte.

Wie bereits das Sozialgericht mit zutreffender Beurteilung entschieden hat, sind aber die Voraussetzungen für einen Amtshaftungsanspruch nach § 839, Art. 34 GG nicht erfüllt, auch wenn unterstellt wird, dass die Klägerin bei ihren Entscheidungen nach § 551 Abs. 2 RVO Leistungen nicht mit Rücksicht auf den Tag des Eintritts des Versicherungsfalles ablehnen durfte. Denn diese von der Beklagten vertretene Auffassung ist keineswegs eindeutig und über jeden Zweifel erhaben, wie oben dargelegt worden ist. Dies gilt hier umso mehr, als der Senat in seiner Entscheidung vom 27.10.1997 (L 2 B-U 82/97) der Frage der vorgreiflichen Anwendung der Stichtagsregelung grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Satz 1 SGG beigemessen hat. Bei solch unklarer Rechtslage fehlt es jedenfalls an einem für den deliktischen Anspruch erforderlichen Verschulden, wenn die handelnde Körperschaft - wie die Klägerin - ihre Rechtsansicht aufgrund sorgfältiger rechtlicher Prüfung gewonnen hat (BGHZ 119, 365, 370; BGH NJW 94, 3158, 3159; Papier in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch § 839 Rdnr. 285 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Damit ließe sich die Anordnung nur halten, wenn alle betroffenen Versicherten einen anderen als einen deliktischen Anspruch hätten. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Denn nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG, insbesondere den Urteilen des 8. Senats vom 30.09.1999 a.a.O. können Versicherte eine Entschädigung wegen einer Berufskrankheit, die in die Liste aufgenommen worden ist, nicht mehr nach § 551 Abs. 2 RVO verlangen und auch aus § 44 SGB X oder dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch keine Rechte herleiten. Damit verpflichtet die Anordnung die Klägerin zu einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Leistung, gibt ihr also nicht die Erfüllung (gesetzlicher) Ansprüche der Versicherten auf, sondern begründet solche.

bb) Außerdem ist die Verpflichtungsanordnung unbestimmt und/oder unverhältnismäßig. Wie oben dargestellt, soll mit den zu eröffnenden Feststellungsverfahren lediglich die Höhe des Leistungsanspruches ermittelt werden (vgl. Punkt 2 der Gründe des Bescheides am Ende). Stattfinden sollen diese Verfahren "in allen Fällen, in denen aufgrund der vorgreiflichen Anwendung der Stichtagsregelung (§ 6 der Berufskrankheitenverordnung) ... der Antrag der Versicherten auf Entschädigung ... nach § 551 Abs. 2 RVO bzw. 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt wurde". Damit sind auch die Sachverhalte erfasst, in denen die Klägerin Ansprüche auch mit Rücksicht auf die Stichtagsregelung abgelehnt hat, daneben aber weitere Ablehnungsgründe wie z.B. Fehlen der arbeitstechnischen Voraussetzungen (100 Feinstaubjahre) oder der Kausalität angeführt oder nicht geprüft hat. Damit kämen auch solche Versicherte in den Genuss von Leistungen, bei denen die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch nicht erfüllt sind, so dass allein die Tatsache einer (unterstellt) unzulässigen Anwendung einer Stichtagsregelunganspruchs begründend wäre. Dies ginge über das Ziel der Anordnung, nämlich die Verwirklichung sozialer Rechte, hinaus. Wenn die Beklagte Bescheide mit kumulativen oder bewusst eingeschränkten Ablehnungsgründen nicht erteilt haben sollte oder wenn solchenfalls der Klägerin eine Überprüfung der übrigen Voraussetzungen verbleiben sollte, wäre immer noch offen, wie die Klägerin zu verfahren hätte, wenn sie bei erneuter Überprüfung zu der Auffassung gelangt, dass früher angenommene Anspruchsvoraussetzungen wie z.B. die Kausalität nicht vorliegen. Nach dem Wortlaut der Anordnungen hätte die Klägerin auch in solchen Fällen Ersatz zu leisten. Dass die ihr aufgegebene Eröffnung von Feststellungsverfahren nur dem Zwecke der Feststellung der Höhe der Leistungen, nicht aber einer erneuten Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen dienen soll, ist bereits dargelegt worden. Auch vom Zweck der Anordnung, nämlich die Versicherten so zu stellen, als hätte die Klägerin bei ihrer Verwaltungsentscheidung eine Stichtagsregelung nicht angewandt und der damit zwangsläufig verbundenen Folge einer Entschädigung, spricht dafür, dass die Beklagte solche Fälle in die Entschädigungspficht einbeziehen wollte. Auch damit würde die Anordnung über eine legitime Zielsetzung hinausgehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.

Der Senat hat der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine aufsichtsbehördliche Verpflichtung in Fällen wie dem vorliegenden ergehen darf, grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deshalb die Revision zugelassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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