Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (10) U 67/95
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 U 34/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.06.1996 aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Tatbestand:
Streitig ist die Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO.
Der 1946 geborene Kläger türkischer Staatsangehörigkeit war von 1961 bis 1966 nach seinen Angaben ohne Arbeit, leistete vom 23.09.1966 bis 23.09.1968 Wehrdienst, war anschließend bis zum 28.08.1969 arbeitslos, vom 14.10.1969 bis zum 28.06.1971 Maurer in Frankreich, vom 13.07. bis 15.10.1971 Kühlschrankmonteur, Prüfer und Maschinenarbeiter, vom 18.10.1971 bis 03.11.1972 Hilfsarbeiter und Schlosser, vom 13.11.1972 bis zum 06.10.1973 Autogenschweißer, vom 11.10.1973 bis zum 30.11.1974 Maschinenarbeiter (Schleifen an der Schleifmaschine) und vom 03.06.1975 bis zum 30.09.1993 Arbeiter bei der O. AG in Bochum. Er war vom 12.12.1989 bis zum 16.01.1990 wegen Lumbalsyndrom, vom 09.02. bis 30.03.1993 wegen LWS-Syndrom, Ischialgie und Verdacht auf Bandscheibenschaden sowie ab 30.12.1993 wegen LWS-Syndrom arbeitsunfähig. Zur Begründung seines Antrags auf Entschädigung seines Wirbelsäulenleidens als BK Nr. 2108 (2/94) gab der Kläger an, allein während seiner Zeit bei der O. AG schädigenden Einwirkungen ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe ca. 50 kg schwere Kisten auf Wagen aufgeladen und den Inhalt an die Arbeiter verteilt, danach die Arbeiter während ihrer Pausen am Band abgelöst. Die ca. 50 kg schweren Kisten seien mit Schrauben, Stangen, Kabeln und Getriebeteilen gefüllt und auf Wagen gestapelt gewesen, bevor der Inhalt an die Arbeiter verteilt worden sei. Ab 30.03.1993 habe er wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten unter lassen. Auf der Grundlage der BK-Anzeige von Dr. (Univ. R. ) D. , der Angaben der O. AG, der Untersuchung und Beurteilung des Technischen Aufsichtsdienstes sowie der Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt gewesen seien (Bescheid vom 07.11.1994; zurückweisender Widerspruchsbescheid vom 17.02.1995).
Zur Begründung seiner Klage zum SG Gelsenkirchen hat der Kläger vorgetragen, die Materialkisten hätten nicht nur durchschnittlich 15 bis 30 kg, sondern 40 bis 50 kg gewogen und er habe die Materialkisten in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten häufiger als nur ca. zehnmal pro Schicht getragen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.02.1995 zu verurteilen, die Berufskrankheit Nr. 2108 anzuerkennen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Zeugen Y. und U. uneidlich vernommen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.06.1996), da nicht erwiesen sei, daß eine langjährige, d.h. zehnjährige Hebe-, Trage- oder Rumpfbeugebelastung vorgelegen habe, die schwer gewesen sei, was bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren das Tragen von Gewichten von mindestens 25 kg und bei einem Alter von 40 Jahren Gewichten von mindestens 20 kg bedeute oder Arbeiten im Rumpfbeugewinkel von mehr als 90 Grad und was zusätzlich erfordere, daß es sich um eine überdurchschnittliche Belastung gehandelt habe im Sinne eines mindestens dreißigprozentigen Anteils pro Schicht in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, er habe die 40 bis 50 kg schweren Materialkisten immer wieder heben müssen, entsprechend einer vierstündigen Belastung durch Heben und Tragen.
Die Prozeßbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.06.1969 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 07.11.1994 und 17.02.1995 zu verurteilen, dem Kläger wegen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Für die Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung (§ 159 SGG) begründet. Das Interesse am Erhalt einer Instanz überwiegt das Interesse an der Prozeßökonomie. Das Verfahren vor dem SG leidet an einem wesentlichen Mangel, da es die Amtsermittlungspflicht verletzt hat (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 und § 103 SGG). Das SG hat zur Konkretisierung der Voraussetzungen der Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO den medizinischen Erfahrungssatz zugrundegelegt, das langjährige Heben oder Tragen schwerer Lasten setze ein mehr als zehnjähriges Heben oder Tragen von Gewichten ab 25 kg bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren und von wenigstens 20 kg bei Männern ab dem vollendeten 40. Lebensjahr sowie eine überdurchschnittliche Belastung, mindestens 30 % Anteil pro Schicht in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten voraus. Aus welchen Quellen das SG diesen Erfahrungssatz abgeleitet hat, ist nicht ersichtlich. Das Gericht hat weder Beweis durch Sachverständige erhoben noch eine eigene besondere Sachkunde und deren Gründe dargelegt. Der Senat vermag nicht ohne eingehende weitere Ermittlungen über die Sache zu entscheiden.
Bei seiner Entscheidung wird das SG folgendes zu beachten haben: Zur Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe "langjährig" und "schwere Lasten" kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Verordnungsgeber bewußt unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet hat, um die Berücksichtigung neuerer medizinischer Kenntnisse nach Erlaß der Norm im Rahmen ihrer Konkretisierung zu ermöglichen (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss vom 31.05.1996, 2 BU 237/95, S. 4 f.). Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung des von 551 Abs. 1 RVO vorgegebenen Zwecks der Verordnung, Krankheiten als Berufskrankheit zu bezeichnen, die nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, wird das Sozialgericht unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (Bundesratsdrucksache 773/92) und medizinischen Sachverstands nicht nur zu ermitteln haben, welche Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft den Verordnungsgeber geleitet haben, sondern auch, ob und welche medizinischen Erfahrungssätze seit Erlaß der zweiten Änderungsverordnung sich zur Konkretisierung der Begriffe "langjährig" und "schwere Lasten" entwickelt haben. Ergänzend ist das Merkblatt für die ärztliche Untersuchung des Bundesministers für Arbeit heranzuziehen (vgl. Bundesarbeitsblatt 3/1993, S. 50). Es stellt selbst aber keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung dar, sondern gibt lediglich Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammen hängen aus arbeitsmedizinischer Sicht und wendet sich in erster Linie an die Ärzteschaft als wertvolles Hilfsmittel für das Erkennen von Berufskrankheiten (vgl. LSG NW, BG 1964, S. 375; HVBG, VB Rundschreiben 7/93 vom 08.01.1993, S. 5, m.w.N.). Das SG wird zu berücksichtigen haben, daß dem genannten Merkblatt ein medizinischer Erfahrungssatz, wie ihn das SG zugrundegelegt hat, nicht zu entnehmen ist. Es beschränkt sich (a.a.O., IV) lediglich auf die Wiedergabe von Anhaltspunkten für den Begriff "schwere Lasten", differenziert nach Geschlecht und Altersgruppen (u.a. Männer von 18 bis 39 Jahren und ab 40 Jahre) mit der Einschränkung, daß die Werte für Lastgewichte gelten, die eng am Körper getragen werden, verknüpft mit dem Hinweis, daß bei weit vom Körper entfernt getragenen Gewichten auch geringere Last gewichte mit einem Risiko für die Entwicklung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule verbunden sein können. Der Begriff "Anhaltspunkte" ist dabei bewußt zurückhaltend formuliert, um weiteren Differenzierungskriterien wie etwa dem jeweiligen Konstitutionstyp, der Größe und dem Gewicht gegenüber offen zu sein. Der Berücksichtigung der unterschiedlichen Körperhaltungen bei der Qualifikation einer Last als "schwer" entspricht die Erkenntnis des Verordnungsgebers (a.a.O., S. 7), daß Rumpfbeuge- und Verdrehungshaltungen als zusätzliche Risikofaktoren für mechanische Schädigungen des Bandscheibengewebes zu bewerten sind.
Im Rahmen der Konkretisierung des Begriffs "langjährig" wird das SG zu beachten haben, daß nach dem o.g. Merkblatt nicht eine starre Grenze von 10 Berufsjahren mit entsprechender Exposition gefordert werden kann, sondern in begründeten Einzelfällen es möglich ist, daß bereits eine kürzere, aber intensivere Belastung eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule verursachen kann. Expositionszeiten mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Zeiten mit Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung können danach für die Berechnung der Gesamtexpositionsdauer addiert werden, auch unterbrochene Tätigkeiten sind dabei zu berücksichtigen. Eine überdurchschnittliche Belastung von mindestens 30 % Anteil pro Schicht in der über wiegenden Zahl der Arbeitsschichten verlangt das Merkblatt nicht. Es fordert - auch insoweit nur als ergänzender Anhaltspunkt -, daß die Lastgewichte mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sind, um als Ursache von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule in Frage zu kommen. Beispielhaft nennt es Untersuchungen, nach denen Schwesternhelferinnen zu ca. 12 % der Schicht Arbeiten mit Heben oder Tragen von schweren Lasten zu verrichten hatten, sowie Stahlbetonarbeiter, die ca. vierzigmal pro Schicht Gewichte von mehr als 20 kg zu heben oder zu tragen hatten. Im Hinblick auf die, wie dargelegt, zu konkretisierenden Anforderungen an die Exposition wird das SG - ggf. unter Einbeziehung des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten oder von Sachverständigen - aufzuklären haben, in welcher Körperhaltung der Kläger welche Gewichte mit welcher Häufigkeit regelmäßig gehoben und getragen hat und ggf. (vgl. oben), welche spezifischen Konstitutionsmerkmale der Kläger aufweist. Einzubeziehen sind auch die Tätigkeiten als Maurer in Frankreich, unabhängig von der nicht fachkundigen Eigeneinschätzung des Klägers. Schließlich wird das Sozialgericht unter Nutzung medizinischen Sachverstands abzuklären haben, ob aufgrund eines spezifischen Schädigungsmusters an der Lendenwirbelsäule auf das langjährige Heben und Tragen schwerer Lasten zurückgeschlossen werden kann. Sollte sich danach ergeben, daß der Kläger bei versicherter Tätigkeit langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen hat, wird das Sozialgericht aufgrund eingehender medizinischer Aufklärung unter Würdigung aller zu erhebenden Vorbefunde und sachverständiger Begutachtung abzuklären haben, ob zumindest mit Wahrscheinlichkeit wesentlich mitbedingt durch die genannte Exposition es zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule gekommen ist, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Tatbestand:
Streitig ist die Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO.
Der 1946 geborene Kläger türkischer Staatsangehörigkeit war von 1961 bis 1966 nach seinen Angaben ohne Arbeit, leistete vom 23.09.1966 bis 23.09.1968 Wehrdienst, war anschließend bis zum 28.08.1969 arbeitslos, vom 14.10.1969 bis zum 28.06.1971 Maurer in Frankreich, vom 13.07. bis 15.10.1971 Kühlschrankmonteur, Prüfer und Maschinenarbeiter, vom 18.10.1971 bis 03.11.1972 Hilfsarbeiter und Schlosser, vom 13.11.1972 bis zum 06.10.1973 Autogenschweißer, vom 11.10.1973 bis zum 30.11.1974 Maschinenarbeiter (Schleifen an der Schleifmaschine) und vom 03.06.1975 bis zum 30.09.1993 Arbeiter bei der O. AG in Bochum. Er war vom 12.12.1989 bis zum 16.01.1990 wegen Lumbalsyndrom, vom 09.02. bis 30.03.1993 wegen LWS-Syndrom, Ischialgie und Verdacht auf Bandscheibenschaden sowie ab 30.12.1993 wegen LWS-Syndrom arbeitsunfähig. Zur Begründung seines Antrags auf Entschädigung seines Wirbelsäulenleidens als BK Nr. 2108 (2/94) gab der Kläger an, allein während seiner Zeit bei der O. AG schädigenden Einwirkungen ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe ca. 50 kg schwere Kisten auf Wagen aufgeladen und den Inhalt an die Arbeiter verteilt, danach die Arbeiter während ihrer Pausen am Band abgelöst. Die ca. 50 kg schweren Kisten seien mit Schrauben, Stangen, Kabeln und Getriebeteilen gefüllt und auf Wagen gestapelt gewesen, bevor der Inhalt an die Arbeiter verteilt worden sei. Ab 30.03.1993 habe er wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten unter lassen. Auf der Grundlage der BK-Anzeige von Dr. (Univ. R. ) D. , der Angaben der O. AG, der Untersuchung und Beurteilung des Technischen Aufsichtsdienstes sowie der Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt gewesen seien (Bescheid vom 07.11.1994; zurückweisender Widerspruchsbescheid vom 17.02.1995).
Zur Begründung seiner Klage zum SG Gelsenkirchen hat der Kläger vorgetragen, die Materialkisten hätten nicht nur durchschnittlich 15 bis 30 kg, sondern 40 bis 50 kg gewogen und er habe die Materialkisten in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten häufiger als nur ca. zehnmal pro Schicht getragen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.02.1995 zu verurteilen, die Berufskrankheit Nr. 2108 anzuerkennen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Zeugen Y. und U. uneidlich vernommen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.06.1996), da nicht erwiesen sei, daß eine langjährige, d.h. zehnjährige Hebe-, Trage- oder Rumpfbeugebelastung vorgelegen habe, die schwer gewesen sei, was bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren das Tragen von Gewichten von mindestens 25 kg und bei einem Alter von 40 Jahren Gewichten von mindestens 20 kg bedeute oder Arbeiten im Rumpfbeugewinkel von mehr als 90 Grad und was zusätzlich erfordere, daß es sich um eine überdurchschnittliche Belastung gehandelt habe im Sinne eines mindestens dreißigprozentigen Anteils pro Schicht in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, er habe die 40 bis 50 kg schweren Materialkisten immer wieder heben müssen, entsprechend einer vierstündigen Belastung durch Heben und Tragen.
Die Prozeßbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.06.1969 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 07.11.1994 und 17.02.1995 zu verurteilen, dem Kläger wegen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Für die Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung (§ 159 SGG) begründet. Das Interesse am Erhalt einer Instanz überwiegt das Interesse an der Prozeßökonomie. Das Verfahren vor dem SG leidet an einem wesentlichen Mangel, da es die Amtsermittlungspflicht verletzt hat (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 und § 103 SGG). Das SG hat zur Konkretisierung der Voraussetzungen der Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO den medizinischen Erfahrungssatz zugrundegelegt, das langjährige Heben oder Tragen schwerer Lasten setze ein mehr als zehnjähriges Heben oder Tragen von Gewichten ab 25 kg bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren und von wenigstens 20 kg bei Männern ab dem vollendeten 40. Lebensjahr sowie eine überdurchschnittliche Belastung, mindestens 30 % Anteil pro Schicht in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten voraus. Aus welchen Quellen das SG diesen Erfahrungssatz abgeleitet hat, ist nicht ersichtlich. Das Gericht hat weder Beweis durch Sachverständige erhoben noch eine eigene besondere Sachkunde und deren Gründe dargelegt. Der Senat vermag nicht ohne eingehende weitere Ermittlungen über die Sache zu entscheiden.
Bei seiner Entscheidung wird das SG folgendes zu beachten haben: Zur Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe "langjährig" und "schwere Lasten" kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Verordnungsgeber bewußt unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet hat, um die Berücksichtigung neuerer medizinischer Kenntnisse nach Erlaß der Norm im Rahmen ihrer Konkretisierung zu ermöglichen (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss vom 31.05.1996, 2 BU 237/95, S. 4 f.). Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung des von 551 Abs. 1 RVO vorgegebenen Zwecks der Verordnung, Krankheiten als Berufskrankheit zu bezeichnen, die nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, wird das Sozialgericht unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (Bundesratsdrucksache 773/92) und medizinischen Sachverstands nicht nur zu ermitteln haben, welche Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft den Verordnungsgeber geleitet haben, sondern auch, ob und welche medizinischen Erfahrungssätze seit Erlaß der zweiten Änderungsverordnung sich zur Konkretisierung der Begriffe "langjährig" und "schwere Lasten" entwickelt haben. Ergänzend ist das Merkblatt für die ärztliche Untersuchung des Bundesministers für Arbeit heranzuziehen (vgl. Bundesarbeitsblatt 3/1993, S. 50). Es stellt selbst aber keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung dar, sondern gibt lediglich Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammen hängen aus arbeitsmedizinischer Sicht und wendet sich in erster Linie an die Ärzteschaft als wertvolles Hilfsmittel für das Erkennen von Berufskrankheiten (vgl. LSG NW, BG 1964, S. 375; HVBG, VB Rundschreiben 7/93 vom 08.01.1993, S. 5, m.w.N.). Das SG wird zu berücksichtigen haben, daß dem genannten Merkblatt ein medizinischer Erfahrungssatz, wie ihn das SG zugrundegelegt hat, nicht zu entnehmen ist. Es beschränkt sich (a.a.O., IV) lediglich auf die Wiedergabe von Anhaltspunkten für den Begriff "schwere Lasten", differenziert nach Geschlecht und Altersgruppen (u.a. Männer von 18 bis 39 Jahren und ab 40 Jahre) mit der Einschränkung, daß die Werte für Lastgewichte gelten, die eng am Körper getragen werden, verknüpft mit dem Hinweis, daß bei weit vom Körper entfernt getragenen Gewichten auch geringere Last gewichte mit einem Risiko für die Entwicklung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule verbunden sein können. Der Begriff "Anhaltspunkte" ist dabei bewußt zurückhaltend formuliert, um weiteren Differenzierungskriterien wie etwa dem jeweiligen Konstitutionstyp, der Größe und dem Gewicht gegenüber offen zu sein. Der Berücksichtigung der unterschiedlichen Körperhaltungen bei der Qualifikation einer Last als "schwer" entspricht die Erkenntnis des Verordnungsgebers (a.a.O., S. 7), daß Rumpfbeuge- und Verdrehungshaltungen als zusätzliche Risikofaktoren für mechanische Schädigungen des Bandscheibengewebes zu bewerten sind.
Im Rahmen der Konkretisierung des Begriffs "langjährig" wird das SG zu beachten haben, daß nach dem o.g. Merkblatt nicht eine starre Grenze von 10 Berufsjahren mit entsprechender Exposition gefordert werden kann, sondern in begründeten Einzelfällen es möglich ist, daß bereits eine kürzere, aber intensivere Belastung eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule verursachen kann. Expositionszeiten mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Zeiten mit Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung können danach für die Berechnung der Gesamtexpositionsdauer addiert werden, auch unterbrochene Tätigkeiten sind dabei zu berücksichtigen. Eine überdurchschnittliche Belastung von mindestens 30 % Anteil pro Schicht in der über wiegenden Zahl der Arbeitsschichten verlangt das Merkblatt nicht. Es fordert - auch insoweit nur als ergänzender Anhaltspunkt -, daß die Lastgewichte mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen worden sind, um als Ursache von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule in Frage zu kommen. Beispielhaft nennt es Untersuchungen, nach denen Schwesternhelferinnen zu ca. 12 % der Schicht Arbeiten mit Heben oder Tragen von schweren Lasten zu verrichten hatten, sowie Stahlbetonarbeiter, die ca. vierzigmal pro Schicht Gewichte von mehr als 20 kg zu heben oder zu tragen hatten. Im Hinblick auf die, wie dargelegt, zu konkretisierenden Anforderungen an die Exposition wird das SG - ggf. unter Einbeziehung des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten oder von Sachverständigen - aufzuklären haben, in welcher Körperhaltung der Kläger welche Gewichte mit welcher Häufigkeit regelmäßig gehoben und getragen hat und ggf. (vgl. oben), welche spezifischen Konstitutionsmerkmale der Kläger aufweist. Einzubeziehen sind auch die Tätigkeiten als Maurer in Frankreich, unabhängig von der nicht fachkundigen Eigeneinschätzung des Klägers. Schließlich wird das Sozialgericht unter Nutzung medizinischen Sachverstands abzuklären haben, ob aufgrund eines spezifischen Schädigungsmusters an der Lendenwirbelsäule auf das langjährige Heben und Tragen schwerer Lasten zurückgeschlossen werden kann. Sollte sich danach ergeben, daß der Kläger bei versicherter Tätigkeit langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen hat, wird das Sozialgericht aufgrund eingehender medizinischer Aufklärung unter Würdigung aller zu erhebenden Vorbefunde und sachverständiger Begutachtung abzuklären haben, ob zumindest mit Wahrscheinlichkeit wesentlich mitbedingt durch die genannte Exposition es zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule gekommen ist, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
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