L 15 U 97/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 6 (17) U 70/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 97/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 29. März 1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Verletzungen, die der Kläger am 17.07.1997 bei einem Verkehrsunfall erlitten hat, Folgen eines Arbeitsunfalls sind.

Der im Jahre 1960 geborene und in H , G , wohnende Kläger ist als Wach- und Hundeführer beim R Wachinstitut beschäftigt und in der Abteilung Bundeswehr/Bereich H tätig. Am 17.07.1997 sollte er um 06:45 Uhr die Arbeit antreten. An diesem Tage befuhr er gegen 06:00 Uhr mit seinem Mofa in H den Radweg der B Straße in Richtung B , als er an der Einmündung der Straße B mit einem Pkw zusammenstieß. Hierbei zog er sich einen Kompressionsbruch des zweiten Lendenwirbelkörpers, einen Grundplatteneinbruch des ersten Lendenwirbelkörpers, eine Prellung der Brustwirbelsäule sowie eine Unterschenkelplatzwunde links zu.

Da Dr. P , Chefarzt der Abteilung für Unfall-, Wiederherstellungs- und Handchirurgie des E Krankenhauses W, im Durchgangsarztbericht vom 17.07.1997 vermerkt hatte, der Kläger habe sich auf dem Weg zur Arbeit befunden, übersandte die Beklagte dem Arbeitgeber einen Fragebogen bei Wegeunfällen. Darin wurde angegeben, der Kläger habe am 17.07.1997 gegen 05:50 Uhr den Weg zur Arbeitsstätte von der Wohnung der Frau S N , B 7, H , aus angetreten. Dort habe er sich während ihres Urlaubs zur Tier- und Wohnungsbetreuung aufgehalten. Die Unfallstelle liege auf dem direkten, kürzesten Weg zwischen der Wohnung der Frau N s und der Arbeitsstätte.

Mit Bescheid vom 06.10.1997 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, weil der Kläger am 17.07.1997 keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Der Weg von der Wohnung der Frau N , die rechtlich als dritter Ort zu qualifizieren sei, zur Arbeitsstätte sei dreimal so lang wie der übliche Weg des Klägers von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte. Der Aufenthalt in der Wohnung der Frau N habe auch in keinem Zusammenhang mit seiner Arbeitstätigkeit gestanden, sondern sei von privatem Interesse gewesen. Unter Berücksichtigung aller Umstände unterscheide sich der am 17.07.1997 beabsichtigte Weg so erheblich von dem üblichen Weg des Klägers, daß er nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe. Der Kläger erhob Widerspruch. Er machte geltend, die unterschiedliche Länge der Weg strecken von der Wohnung der Frau N zur Arbeitsstätte einerseits und seiner Wohnung zur Arbeitsstätte andererseits könne ihm nicht entgegengehalten werden, weil er in der Wohnung der Frau N im wesentlichen nur genächtigt habe. Im übrigen sei der Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte im Verhältnis zu dem Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte auch nicht außergewöhnlich weit. Während der Weg von seiner Wohnung zur Arbeit üblicherweise 15 Minuten dauere, betrage die Fahrt von der Wohnung der Frau N zur Arbeitsstätte etwa 50 Minuten. Im Dienstreisebericht vom 16.01.1998 über ein Gespräch mit dem Kläger am 15.01.1998 sind als Angaben des Klägers vermerkt: Seine Freundin Frau N sei mit ihren drei Kindern 14 Tage lang in Urlaub gefahren. Während dieser Zeit habe er im Haus nach dem Rechten geschaut, um den gemeinsamen Hund, der bei der Freundin lebe, zu versorgen. Nach Beendigung seiner Arbeitsschicht sei er zuerst zu seiner Wohnung nach H gefahren und habe sich erst von dort aus nach H begeben. Nachdem er dort den Hund versorgt und kleinere Arbeiten am Haus erledigt habe, sei er wieder zurück nach H gefahren. Er habe während des Urlaubs der Frau N in der Regel nicht in H übernachtet. Dies sei höchstens dreimal vorgekommen, wenn es nach Erledigung der Arbeiten zu spät geworden sei, um noch nach H zurückzufahren. Aus diesem Grund habe er auch in der Nacht vor dem Unfall in H übernachtet. Auch vor dem Urlaub der Frau N habe er nur selten bei ihr übernachtet, im Regelfall sei er nach Hause gefahren. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.05.1998 wies die Beklagte den Rechtsbehelf des Klägers zurück. Hiergegen hat der Kläger am 25.06.1998 Klage erhoben.

Mit Urteil vom 29.03.1999 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Vorfall vom 17.07.1997 als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 19.04.1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.05.1999 Berufung eingelegt. Sie trägt vor: Der Aufenthalt des Klägers in der Wohnung seiner Freundin am Abend des 16.07.1997 bis zum frühen Morgen des 17.07.1997 habe in keinem inneren sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden, so daß auch der Weg von dort zur Arbeitsstelle nicht nach den vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Kriterien zum Versicherungsschutz auf dem Weg von einem dritten Ort zur Arbeit unfallversichert gewesen sei. Das Übernachten des Klägers in der Wohnung seiner Lebensgefährtin stelle eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit dar, die wie bei jedem anderen Arbeitnehmer der allgemeinen Erholung diene. Da der Aufenthalt allein von privaten Motiven geprägt gewesen sei, spiele die erhebliche Wegeverlängerung um das Fünffache eine entscheidende Rolle. Der Weg stehe nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Klägers von seiner Wohnung zum Ort der Tätigkeit.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 29.03.1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Das Berufungsgericht hat eine Auskunft vom Kreis W eingeholt. Danach beträgt die kürzeste öffentliche Wegstrecke von der Wohnung der Frau N zur Arbeitsstätte des Klägers 28,6 km, während die kürzeste öffentliche Wegstrecke von der Wohnung des Klägers zu seiner Arbeitsstätte 7,8 km lang ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die über den Kläger geführte Unfallakte und die Gerichtsakten verwiesen. Der wesentliche Inhalt der Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, daß der Kläger am 17.07.1997 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Eine versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift setzt nicht voraus, daß der Weg von der Wohnung des Versicherten aus angetreten oder diese wieder erreicht wird. In § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist allein der Ort der Tätigkeit als Ende des Hinweges oder als Ausgangspunkt des Rückweges festgelegt. Infolgedessen muß der Hinweg weder von der Wohnung aus angetreten werden noch der Rückweg in der Wohnung enden (ständige Rechtsprechung des BSG, s. BSGE 1, 171, 172; 22, 60, 61 = SozR Nr. 54 zu § 543 RVO a. F.; BSGE 32, 38, 41 = SozR Nr. 10 zu § 550 RVO; BSG SozR 2200 § 550 Nr. 78; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 10). Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ist, ob der Weg zur Arbeitsstätte rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten geprägt ist, seine versicherte Tätigkeit am Ort der Tätigkeit aufzunehmen (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 10).

In Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten unter Versicherungsschutz gestanden, als er am 17.07.1997 verunglückte.

Der Kläger befand sich im Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg von der in H , B , gelegenen Wohnung seiner Freundin S N zu seiner in H gelegenen Arbeitsstätte, um dort seine Tätigkeit als Wach- und Hundeführer aufzunehmen. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers, deren Richtigkeit auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht, fest. Da der Kläger zufolge seiner eigenen Angaben seinen Lebensmittelpunkt damals nicht bei seiner Freundin hatte und auch nicht von zwei getrennten Bereichen seines häuslichen Wirkungskreises gesprochen werden kann, handelt es sich bei der Wohnung der Frau N um einen sogenannten dritten Ort. Hiervon gehen auch die Beteiligten und das Sozialgericht übereinstimmend aus. Der vom dritten Ort aus angetretene Weg zur Arbeitsstätte stand trotz der größeren Entfernung im Verhältnis zu dem üblichen Weg des Klägers mit seiner versicherten Tätigkeit in einem inneren Zusammenhang. Er war nicht von dem vorangegangenen Aufenthalt in der Wohnung der Frau N , sondern rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Klägers geprägt, seine versicherte Tätigkeit in H aufzunehmen. Bei der Beurteilung des inneren Zusammenhangs zwischen dem Zurücklegen des Weges vom dritten Ort und der versicherten Tätigkeit ist der Länge des Weges nicht die alleinige Bedeutung beizumessen (BSG SozR 2200 § 550 Nr. 78 m. w. N.). Vor allem ist auch eine Begrenzung allein nach einem bestimmten Vielfachen der regelmäßig vom häuslichen Bereich zum Ort der Tätigkeit zurückgelegten Wegstrecke kein geeignetes Kriterium, weil es den nahe zum Ort der Tätigkeit wohnenden und in der Regel nur ein geringes Wegeunfallrisiko tragenden Versicherten unfallversicherungsrechtlich nicht vertretbar benachteiligen würde gegenüber dem weit von dem Ort der Tätigkeit wohnhaften Versicherten, der schon in der Regel ein wesentlich höheres Wegeunfallrisiko trägt und dann außerdem einen um ein entsprechend Vielfaches weiteren dritten Ort als Grenzpunkt des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit wählen dürfte (BSG, Urteile vom 27.08.1987 - 2 RU 15/87 - und 27.07.1989 - 2 RU 10/89 -). Ausschlaggebend ist vielmehr, ob der nicht zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegte Weg sich unter Berücksichtigung aller Umstände von dem üblichen Weg nach und von der Arbeitsstätte so erheblich unterscheidet, daß er nicht von dem Vorhaben des Versicherten geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren (BSGE 62, 113, 117; BSG SozR 2200 § 550 Nr. 78). Das BSG hat wiederholt darauf hingewiesen, daß dies, vorbehaltlich der Lage des Einzelfalls, vor allem für Wege mit ungewöhnlichen Entfernungen, insbesondere bei Erholungsfahrten in eine andere Ortschaft und von dort unmittelbar zu rück zur Arbeitsstätte anzunehmen sein wird (BSGE 22, 60, 62; 62, 113, 117). Hier lagen die Verhältnisse aber anders. Der Kläger hat sich am 16.07.1997 nicht wesentlich allein zum Zweck der Erholung nach H begeben, sondern um während der urlaubsbedingten Abwesenheit seiner Freundin in deren Wohnung nach dem Rechten zu sehen und den gemeinsamen Hund zu versorgen. Da es aufgrund der dort verrichteten Tätigkeiten spät geworden war, hat der Kläger in der Wohnung seiner Freundin übernachtet, um von dort am nächsten Morgen direkt zur Arbeitsaufnahme zu fahren. Der um rund 21 km längere Weg kann bei den heutigen Straßenverhältnissen weder als ungewöhnlich lang angesehen werden, noch erforderte er bei der Zurücklegung mit dem Mofa eine derartige Fahrtdauer, daß deshalb das Vorhaben des Klägers, sich unmittelbar zur Arbeitsstätte zu begeben, nicht mehr als rechtlich wesentlich für die Wahl des längeren Weges angesehen werden kann. Auch das BSG hat in seinem Urteil vom 11.10.1973 (2 RU 1/73) den Versicherungsschutz nicht schon allein deshalb verneint, weil die Wohnung der Verletzten 2 km, der Ort, von dem aus sie am Unfalltag den Weg zu ihrer Arbeitsstätte antrat, dagegen 22 km von dieser entfernt lag. Das BSG hat es viel mehr auch als bedeutsam angesehen, daß die Verletzte auf dem Weg von einem Urlaub zur Arbeitsstätte verunglückte (vgl. auch BSG, Urteil vom 30.07.1971 - 2 RU 229/68 - zur Fahrt von einem Urlaub in Lübeck zur Aufnahme der Arbeit in Hamburg).

Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zu dem von der Beklagten herangezogenen Urteil des BSG vom 04.12.1991 (2 RU 15/91), in dem der Versicherungsschutz eines Busfahrers auf einer Fahrt von einem Übernachtungsbesuch bei seiner Braut zur Ausgangshaltestelle verneint wurde. Die Umstände des vom BSG entschiedenen Falles sind mit den hier vorliegenden nicht vergleichbar.

Dem Versicherungsschutz des Klägers steht schließlich auch nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen, nach der eine andere Stelle als die Wohnung dann nicht den zweiten Grenzpunkt des Weges bildet, wenn der Versicherte von dort aus nur den Rückweg von einer Verrichtung, die nicht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand, zum Ort der Tätigkeit antritt (vgl. BSGE 1, 171, 173; 32, 38, 41; BSG SozR 2200 § 550 Nr. 68). Der Kläger hat sich nicht vom Ort der Tätigkeit zur Wohnung seiner Freundin in H begeben und ist deshalb nicht auf dem Rückweg zum Ort der Tätigkeit verunglückt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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