S 9 P 104/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 104/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 P 50/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

I.   Die Klage gegen den Bescheid vom 19. Oktober 2018 in  der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2019  wird abgewiesen.

II.   Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

T a t b e s t a n d :

Streitgegenständlich ist der geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung.

Die 1935 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Seit April 2014 bezieht sie Leistungen nach Pflegestufe II bzw. Pflegegrad 4 seit Januar 2017 nach Stellung eines Höherstufungsantrages vom 02.01.2017. Mit Bescheid vom 09.03.2017 und Widerspruchsbescheid vom 24.10.2017 wurde von Seiten der Beklagten eine Einstufung der Klägerin in Pflegegrad 5 aufgrund der Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 01.03.2017 und 29.05.2017 mit jeweils persönlicher Begutachtung abgelehnt. Im sich daran anschließenden Klageverfahren mit dem Aktenzeichen S 9 P 102/17 wurde ein Pflegesachverständigengutachten von Amts wegen durch die Pflegesachverständige Frau G. vom 21.04.2018 eingeholt. Die Sachverständige kam dabei zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin im gesamten streitigen Zeitraum zu keinem Zeitpunkt eine Pflegebedürftigkeit entsprechend Pflegegrad 5 vorgelegen habe. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.06.2018 nahm der Sohn der Klägerin als deren Bevollmächtigter die Klage zurück und stellte einen Antrag auf Überprüfung des Sachverhalts nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Hintergrund des Überprüfungsantrags war die Tatsache, dass er viele Tätigkeiten für die Klägerin übernehme, die im Gutachten noch keine Berücksichtigung gefunden hätten, da der Arzt diese bislang nicht explizit verordne. So würden jeden Tag krankengymnastische Übungen mehrfach täglich durchgeführt werden, tägliche Einreibungen stattfinden, Blutdruck und Blutzucker gemessen und eine spezielle Diät aufgrund der Diabetes der Klägerin zubereitet werden. Der Bevollmächtigte der Klägerin werde sich zukünftig diese Maßnahmen vom Arzt verschreiben bzw. bescheinigen lassen. Um den vorgetragenen Sachverhalt auch für die Vergangenheit zu berücksichtigen, stellte der Bevollmächtigte der Klägerin den Überprüfungsantrag.

Mit Fax vom 11.07.2018 übersandte der Bevollmächtigte der Klägerin ein ärztliches Attest von Dr. J. vom 26.06.2018, in dem dieser bescheinigt, dass bei der Klägerin zweimal täglich 30 Minuten Übungen aus dem physiotherapeutischen Formenkreis durchgeführt werden, dreimal täglich der Blutzucker gemessen wird, einmal täglich der Blutdruck und die Ernährung diabetesgerecht umgestellt worden sei. Es erfolgen zwei Hausbesuche im Monat durch den Hausarzt. Die Beklagte beauftragte daraufhin den MDK, der im Gutachten vom 19.09.2018 zu keiner anderen Einschätzung des Pflegegrades der Klägerin kam.

Mit Bescheid vom 19.10.2018 lehnte daraufhin die Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Hiergegen legte der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 24.10.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass er 24 Stunden täglich seine Mutter pflege, dreimal täglich den Blutdruck messe, zwei- bis dreimal täglich Blutzucker messe, mit ihr eine körperliche Therapie durchführe und sie völlig auf seine Hilfe angewiesen sei. Mit Schreiben vom 15.11.2018 regte die Beklagte die Stellung eines Höherstufungsantrages an. Aufgrund des Gutachtens des MDK vom 17.12.2018 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 18.12.2018 Pflegeleistungen nach Pflegegrad 5 ab dem 01.10.2018.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.07.2019 lehnte die Beklagte den Widerspruch als unbegründet ab, da sich aus dem Vorbringen der Klägerin bzw. den sonstigen Umständen keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide entsprechend § 44 SGB X ergeben würden. Die im Sozialgerichtsverfahren beauftragte Sachverständige habe in ihrem Gutachten vom 21.04.2018 ausgeführt, dass sich an der Selbstständigkeit und den Fähigkeiten der Klägerin seit der Antragstellung vom 02.01.2017 nichts geändert habe.

Mit Schriftsatz vom 29.07.2019, bei Gericht eingegangen am 05.08.2019, erhob der Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum Sozialgericht Augsburg mit der Begründung, dass er sich auf die mündliche Verhandlung vom 15.06.2018 berufe, da seine Mutter nichts mehr alleine machen könne und er sie seit Jahren 24 Stunden am Tag pflege.

Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. J. (Allgemein-Mediziner), Frau Dr. E. (Allgemein-Medizinerin), Dr. F. (Internist und Kardiologe), Frau Dr. G. (Allgemein-Medizinerin), Frau Dr. H. (Hautärztin) und Dr. I. (Hautarzt) eingeholt sowie das MDK-Gutachten vom 17.12.2018 bei der Beklagten angefordert.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 23.03.2020 wurde auf den zugrunde liegenden Sachverhalt hingewiesen und die Klagerücknahme wegen fehlender Erfolgsaussichten angeregt. Hierauf teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 24.03.2020 mit, dass die Klage nicht zurückgenommen werde, da seine Mutter seit Jahren nichts mehr machen könne und 24 Stunden täglich auf Hilfe angewiesen sei. Schon bei Pflegegrad 3 habe sie nichts mehr machen können und hätte bereits zu diesem Zeitpunkt Leistungen nach Pflegegrad 5 erhalten müssen.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.04.2020 wurde mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.

Von Seiten des Bevollmächtigten der Klägerin wurde hierzu im Schriftsatz vom 04.04.2020 mitgeteilt, dass die Zahlung für die vergangenen Jahre von der Beklagten nicht rückwirkend bezahlt worden sei, sondern lediglich drei Monate. Die Klägerin benötige aber eine 24-Stunden-Pflege seit Jahren und bekomme von ihrem Bevollmächtigten täglich Physiotherapie. Hierauf teilte die Beklagte mit Schreiben vom 12.05.2020 mit, dass seit Anerkennung des Pflegegrades 5 im Oktober 2018 auch das entsprechende Pflegegeld regelmäßig an die Klägerin zur Auszahlung gebracht worden sei. Auch zuvor sei das Pflegegeld entsprechend dem anerkannten Pflegegrad ausgezahlt worden. Es werde davon ausgegangen, dass mit den fehlenden Zahlungen für die vergangenen Jahre die fehlende Berücksichtigung von Pflegegrad 5 gemeint sei. Der Bevollmächtigte der Klägerin führte hierzu im Schreiben vom 21.05.2020 aus, dass er entsprechend der mündlichen Verhandlung im vorangegangenen Klageverfahren Leistungen nach Pflegegrad 5 beantrage.

Das Vorbringen der Klägerin ist dahingehend auszulegen, dass die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 19.10.2018 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2019 zu verurteilen, den Bescheid vom 09.03.2017 und Widerspruchsbescheid vom 24.10.2017 abzuändern und ihr
Leistungen nach Pflegegrad 5 rückwirkend ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten im streitigen Verfahren sowie im Verfahren S 9 P 102/17 sowie die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Das Gericht kann durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden hierzu gehört, § 105 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und auch im Übrigen zulässig. Sie erweist sich jedoch als nicht begründet.

Die Klägerin begehrt im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, den Bescheid vom 19.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2019 aufzuheben und den Bescheid vom 09.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2017 insoweit abzuändern, als ihr Leistungen nach Pflegegrad 5 bereits ab dem 02.01.2017 gewährt werden.

Die insoweit erstrebte Rücknahme richtet sich nach § 44 SGB X. Danach ist ein im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X nicht begünstigender Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit er rechtswidrig ist. Der Verwaltungsakt ist immer mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen; § 44Abs. 2 Satz 1 SGB X, soweit er noch Rechtswirkungen hat, also noch nicht im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X erledigt ist. Die Rücknahme hat als gebundene Entscheidung für die Vergangenheit zu erfolgen, wenn wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts "Sozialleistungen" zu Unrecht nicht erbracht oder "Beiträge" zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Das Gebot zur rückwirkenden Rücknahme gilt nicht in bestimmten Fällen der Bösgläubigkeit. Im Übrigen "kann" der anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakt auch in sonstigen Fällen, also über die Fälle des Abs. 1 Satz 1 hinaus, für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X).

Vorliegend wäre der Bescheid vom 19.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2019 aufzuheben, wenn der Bescheid vom 09.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2017 rechtswidrig wäre. Vorliegend wurden der Klägerin mit Bescheid vom 09.03.2017 und Widerspruchsbescheid vom 24.10.2017 Leistungen nach Pflegegrad 4 bewilligt. Grundlage dieser Bewilligung waren Gutachten des MDK vom 01.03.2017 und 29.05.2017, in denen bei der Klägerin jeweils 87,5 gewichtete Punkte festgestellt wurden. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Feststellungen der Pflegesachverständigen Frau G., die in ihrem Sachverständigengutachten vom 21.04.2018 bei der Klägerin ebenfalls 87,5 gewichtete Punkte sowohl zum Zeitpunkt des Hausbesuchs wie auch zum Zeitpunkt der Antragstellung feststellte. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 15.06.2018 wurde vom Bevollmächtigten der Klägerin vorgetragen, dass krankengymnastische Übungen, Einreibungen, Blutdruck und Blutzucker messen sowie die Einhaltung einer speziellen Kost nicht berücksichtigt worden seien.

Im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X wurde ein ärztliches Attest von Dr. J. vom 26.06.2018 eingereicht, in dem dieser bestätigt, dass der Bevollmächtigte der Klägerin bei dieser täglich zweimal 30 Minuten Übungen aus dem physiotherapeutischen Formenkreis durchführt, dreimal täglich den Blutzucker und einmal täglich den Blutdruck misst sowie dass die Ernährung der Klägerin diabetesgerecht umgestellt wurde. Weiter wurde bescheinigt, dass zweimal im Monat ein Hausbesuch durch Dr. J. erfolge. Ein zeitlicher Beginn dieser Maßnahmen wurde vom behandelnden Arzt nicht genannt. Im vorangegangenen MDK-Gutachten vom 01.03.2017 wurde im Modul 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) im Item 4.5.1 die Häufigkeit der Medikation mit dreimal pro Tag sowie im Item 4.5.6 die Messung und Deutung von Körperzuständen mit einmal pro Woche angenommen, sodass sich hier eine Summe von 2 Einzelpunkten und eine Anzahl von 10 gewichteten Punkten ergab. Im darauf folgenden MDK-Gutachten vom 29.05.2017 wurden im Modul 5 weiterhin 10 gewichtete Punkte berücksichtigt. Im Sachverständigengutachten vom 21.04.2018 im Klageverfahren S 9 P 102/17 wurden im Modul 5 von der Gutachterin ebenfalls 10 gewichtete Punkte vergeben. Die Sachverständige setzte die zweimalige Gabe von Medikamenten und die Injektion von Lantus-Insulin einmal täglich sowie Messung und Deutung von Körperzuständen (Messung von Blutdruck und Blutzucker) mit zweimal täglich an. Einreibungen sowie Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung wurden in keinem der Gutachten angesetzt. Dies deckt sich mit den sowohl im Verfahren S 9 P 102/17 wie auch im Verfahren S 9 P 104/19 eingeholten ärztlichen Befundberichten, in denen jeweils spezielle Therapiemaßnahmen wie z.B. Krankengymnastik als nicht verordnet bzw. nicht erforderlich aufgeführt wurden. Ebenso wurden Einreibungen von keinem der behandelnden Ärzte in einem Befundbericht als über einen längeren Zeitraum verordnet benannt. Insofern konnten hier keine weiteren Einzelpunkte bzw. gewichteten Punkte berücksichtigt werden.

Auch hinsichtlich von Arztbesuchen war eine weitergehende Berücksichtigung von Einzelpunkten bzw. gewichteten Punkten im Modul 5 nicht möglich, da der behandelnde Hausarzt zum einen von durchgeführten Hausbesuchen berichtete, die im Rahmen der Begutachtungsrichtlinie nicht berücksichtigungsfähig sind, zum anderen in den MDK-Gutachten aus dem Jahr 2017 einmal monatlich ein Arztbesuch berücksichtigt wurde bzw. gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen mitgeteilt wurde, dass der Hausarzt nicht regelmäßig aufgesucht wird.

Eine weitergehende Berücksichtigung von Einzel- und gewichteten Punkten im Modul 5 war der Beklagten somit nicht möglich, sodass die Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach Pflegegrad 5 im Bescheid vom 09.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2017 rechtmäßig war. Insofern war auch der Überprüfungsbescheid nach § 44 SGB X vom 19.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2019 korrekt.

Die Klage war daher als unbegründet mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge abzuweisen.

 

Rechtskraft
Aus
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