L 19 R 491/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 20 R 747/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 491/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.

 

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.08.2020 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund seines Antrags vom 10.11.2016 hat. 

Der am 10.05.1958 in der Türkei geborene Kläger ist im Jahr 1966 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen. In der Zeit von 1973 - 1976 absolvierte er mit Erfolg eine Ausbildung zum Zimmermann und war anschließend in diesem Beruf bis 1979 auch versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend verrichtete er Tätigkeiten als Schlosserhelfer, Bauzimmermann, Galvanikhelfer, Maschinenführer, Druckplattenspanner und bis Mai 2002 als angelernter Berufskraftfahrer. Danach bestand Arbeitslosigkeit, zuletzt seit 01.01.2005 durchgehend Bezug von Arbeitslosengeld II. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Merkzeichen G wurden mit Bescheid des Zentrum Bayern Familie und Soziales - ZBFS - Region Mittelfranken, Versorgungsamt Nürnberg vom 30.07.2014 zuerkannt.

Ein erster Antrag auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente vom 30.08.2010 war erfolglos (Bescheid der Beklagten vom 17.08.2011, Widerspruchsbescheid vom 24.01.2012). Die hiergegen zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhobene Klage, die unter dem Aktenzeichen S 20 R 157/12 geführt wurde, wurde nach Einholung eines internistischen Terminsgutachtens von Dr. S. vom 30.07.2013 im Erörterungstermin vom 30.07.2013 zurückgenommen. Ein weiterer Antrag vom 23.09.2014 wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 18.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2015 abgelehnt. In dem hiergegen beim SG Nürnberg geführten Klageverfahren S 4 R 540/15 wurde zunächst ein internistisches Gutachten von Dr. G. vom 26.11.2015 eingeholt, der aus internistischer Sicht zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen des Klägers für den allgemeinen Arbeitsmarkt gelangt war, jedoch relevante Gesundheitsstörungen des Klägers auf psychiatrischem Fachgebiet sah, die entsprechend gutachterlich bewertet werden sollten. Das SG holte daraufhin ein nervenärztliches Gutachten von  Dr. B. ein, der am 03.02.2016 zu dem Ergebnis gelangte, dass auf psychiatrischem Fachgebiet keine krankheitswertige Störung vorliege, jedoch auf neurologischem bzw. neuro-psychologischem Fachgebiet infolge des vom Kläger im Jahr 2006 erlittenen Kleinhirninfarktes. Eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens sei dadurch jedoch nicht bedingt. Die Klage wurde daraufhin in der mündlichen Verhandlung vom 04.05.2016 zurückgenommen. 

Bereits am 10.11.2016 beantragte der Kläger erneut bei der Beklagten die Gewährung von Erwerbsminderungsrente und gab hierbei an, sich seit langem erwerbsgemindert zu fühlen. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen holte die Beklagte ein neurologisch/psychiatrisches Gutachten von Dr. T. vom 30.01.2017 und ein internistisch/sozialmedizinisches Gutachten von Dr. M. vom 05.04.2017 ein. Zusammengefasst wurden folgende Diagnosen gestellt: 

1.  Periphere arterielle Verschlusskrankheit vom Becken-Bein-Typ beids. mit Z. n. mehreren operativen und konventionellen Interventionen und zuletzt Verschluss der Beckenetage bzw. des aorto-femoralen Bypasses rechts und Z. n. erfolgreicher PTA der A. iliaca communis und der A. iliaca externa linksseitig 06/2016, Fontaine-Stadium IIb

2.  Zustand nach Kleinhirninfarkt rechts 2006 mit leichter cerebellärer Ataxie

3.  Chronisch obstruktive Bronchitis GOLD Stadium II (mittelgradig) mit mittelgradiger Lungenüberblähung, schwerer Minderung der Diffusionskapazität und Hinweis auf respiratorische Partialinsuffizienz

4.  Leichte kognitive Störung bei mikroangiopathischen Veränderungen des ZNS

5.  Vorbeschriebene degenerative Veränderung der LWS, aktuell ohne Hinweis auf neuromuskuläre Defizite bzw. leistungsrelevante Funktionseinschränkung

6.  Inhalatives Tabakrauchen.
Sowohl Dr. T. als auch Dr. M. sahen den Kläger nicht mehr in der Lage, die letzte Tätigkeit als LKW-Fahrer mehr als 3 Stunden zu verrichten. Für den allgemeinen Arbeitsmarkt wurde übereinstimmend aber ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen des Klägers gesehen, wenn auch unter Beachtung qualitativer Einschränkungen.  Dr. M. kam des Weiteren zu einer aktuell eingeschränkten Wegefähigkeit des Klägers infolge der Verschlusskrankheit. Der Kläger habe zwar einen Pkw-Führerschein, nach seinen eigenen Angaben aber kein Kfz. Es bestünde eine OP-Option bezüglich der Verschlusskrankheit, die der Kläger wegen des befürchteten OP-Risikos gegenwärtig nicht nutzen wolle. 

Die Beklagte bewilligte dem Kläger wegen der von Dr. M. gutachterlich festgestellten Wegeunfähigkeit mit Bescheid vom 04.05.2017 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Übernahme der notwendigen Fahrtkosten, um Vorstellungsgespräche zur Erlangung eines Arbeitsplatzes führen und den künftigen Arbeitsplatz oder Ausbildungsplatz regelmäßig erreichen zu können. 

Mit weiterem Bescheid vom 12.05.2017 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab. Der Kläger verfüge über ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Hinsichtlich der Wegefähigkeit werde auf den Bescheid vom 04.05.2017 verwiesen. Eine Rente wegen § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - stehe dem Kläger mangels entsprechenden Berufsschutzes nicht zu. Er müsse sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen. 

Der hiergegen am 22.05.2017 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2017 als unbegründet zurückgewiesen, nachdem der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angekündigte Befundbericht der behandelnden Ärztin  Dr. W. nicht vorgelegt worden war. 

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 02.08.2017 Klage zum SG Nürnberg erhoben. Eine Begründung ist nicht erfolgt, es wurden lediglich mit Schriftsatz vom 29.08.2017 medizinische Unterlagen vorgelegt. 

Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, nämlich vom Hausarzt und Internisten Dr. D. vom 28.09.2017, von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie W. vom 06.11.2017, von der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie  Dr. W. vom 10.10.2017, vom Klinikum N-Stadt, von der chirurgischen Klinik des Klinikums F. (Bericht vom 31.05.2016) sowie vom Universitätsklinikum E-Stadt. Ferner hat das SG die Akten des ZBFS zum Verfahren beigenommen. 

Sodann hat das SG ein internistisch/sozialmedizinisches Gutachten von Dr. V. eingeholt, der am 19.01.2018 zu folgenden Diagnosen gelangt ist: 

1.  Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) bei Z. n. thromboembolischem Verschluss der kompletten Beckenstrombahn rechts mit nachfolgender Embolektomie (2009) und Z. n. rechtsseitigem aortofemoralen Bypass (2013) mit Verschluss und notwendiger und erfolgreicher linksseitiger PTA der linken A. liliaca (2016) mit Einschränkung der Wegstrecke im sozialmedizinischen Sinn

2.  Kleinhirnatrophie und Z. n. Kleinhirninfarkt (2006) mit konsekutiver Gangstörung im Sinne einer zerebellären Ataxie. Anpassungsstörung geringgradiger Ausprägung. Z. n. Fahrradunfall (mit u. a. Kopfverletzung) ohne anhaltende Residuen

3.  Chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung (COPD) Gold Stadium II und Lungenemphysem bei fortgesetztem Nikotinabusus (60 packyears)

4.  Toxischer Leberparenchymschaden mit Erhalt der Lebersynthese. Z. n. Perforation eines Duodenalulkus mit Peritonitis und laparoskopischer Übernähung (2009)

5.  Kardiovaskuläres Risikoprofil: Hyperlipidämie, fortgesetzter Nikotinabusus

6.  Chronisches Wirbelsäulensyndrom betont der Lendenwirbelsäule geringgradiger Ausprägung.

Das Leistungsvermögen des Klägers sei mit mindestens 6 Stunden täglich zu bewerten. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung lägen nicht vor. Es seien qualitative Einschränkungen zu beachten. Die Wegefähigkeit des Klägers sei eingeschränkt. Dies gelte sowohl für die Fußwege als auch für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Einen Führerschein habe der Kläger aber erworben. Fahrpraxis habe er aufgrund eines fehlenden Pkw jedoch nicht. Der beschriebene Zustand bestehe seit Antragstellung. Eine wesentliche Änderung sei im Laufe des Rentenverfahrens nicht eingetreten. Er weiche von den Vorgutachten deshalb auch nicht ab. Beim Kläger werde eine Anpassungsstörung beschrieben. Im Vordergrund würden aber nicht nur die zerebelläre Ataxie, sondern die zunehmenden kognitiven Defizite stehen. Die Einholung eines Fachgutachtens auf nervenärztlichem Fachgebiet, auch zur Überprüfung der Fahrtauglichkeit des Klägers, sei unabdingbar. 

Das SG hat daraufhin ein nervenärztliches Gutachten von Dr. R. eingeholt, der am 07.06.2018 zu folgenden Diagnosen gelangt ist: 

1.  Kleinhirnischämie rechts (2016; gemeint wohl 2006?) mit beinbetonter und rechtsbetonter leichter bis mittelgradiger Kleinhirnataxie

2.  Leichte kognitive Störung bei cerebraler Makroangiopathie, nicht fortschreitend seit 2015

3.  Periphere arterielle Verschlusskrankheit im Becken- und Beinbereich mit einer anamnestischen Gehstrecke von 20 Metern

4.  Chronische obstruktive Lungenerkrankung.

Bei der leichten kognitiven Beeinträchtigung handele es sich um ein echtes psychisches Krankheitsbild, das der Kläger weder unter eigener zumutbarer Willensanstrengung noch mit ärztlicher Hilfe in absehbarer Zeit überwinden könne. Aktuell bestehe keine Gemütserkrankung oder Angsterkrankung. Eine solche sei möglicherweise durch die Einnahme des angstlösenden Antidepressivums Venlafaxin in angemessener Dosis von 150 mg vollständig remittiert. Der Kläger könne wegen der pAVK nur noch körperlich leichte, vorübergehend mittelschwere körperliche Tätigkeiten verrichten, überwiegend im Sitzen, vorübergehend im Stehen und Gehen. Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an das Konzentrationsvermögen stellen würden, könne der Kläger wegen der leichten kognitiven Störungen nicht leisten, ebenso wenig Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung oder Tätigkeiten an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen. Der Kläger könne unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen aber noch mindestens 6 Stunden täglich Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter den üblichen Bedingungen verrichten. Die Wegefähigkeit des Klägers sei eingeschränkt wegen der pAVK. Hier seien aber offensichtlich die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Der Kläger sei wegen der Kleinhirnataxie auch nicht in der Lage einen Pkw zu steuern. Er sei jedoch in der Lage zweimal täglich in der Hauptverkehrszeit öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Das Leistungsbild bestehe seit Antragstellung. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass nach einer entsprechenden, vom Klinikum F-Stadt bereits vorgeschlagenen Therapie sich die Wegefähigkeit des Klägers zu Fuß bessere. Wegen der Kleinhirnataxie sei er aber nicht mehr in der Lage einen Pkw zu steuern. 

Im Rahmen eines Erörterungstermins vom 02.08.2018 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG). 

Das SG hat sodann mit Gerichtsbescheid vom 07.08.2018 die Klage gegen den Bescheid vom 12.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.07.2017 als unbegründet abgewiesen und hat zugleich in Ziff 3 des Tenors dem Kläger Verschuldenskosten in Höhe von 325,00 € auferlegt. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens 6 Stunden täglich leichte Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einschränkungen verrichten könne. Dies ergebe sich aus den überzeugenden Gutachten von Dr. V. und Dr. R.. Nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass die Wegefähigkeit des Klägers eingeschränkt und der Kläger nicht mehr in der Lage sei, viermal täglich mindestens 500 m in jeweils einer Viertelstunde zurückzulegen. Auch könne er nachvollziehbar gesundheitsbedingt nicht mehr selbst Auto fahren. Offenbleiben könne in diesem Zusammenhang, ob der Kläger in der Lage sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, weil die Beklagte mit zwischenzeitlich bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 04.05.2017 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Kostenübernahme sowohl für öffentliche Verkehrsmittel als auch für Taxifahrten bewilligt habe. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI. Die Vorschrift sei zwar auf den Kläger wegen seines Alters grundsätzlich anzuwenden. Er genieße jedoch keinen Berufsschutz im Sinne des Mehrstufenschemas des Bundessozialgerichts (BSG), weil er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Für die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Lkw-Fahrer habe er keine Ausbildung durchlaufen. Mit der beruflich erlernten Tätigkeit als Zimmermann bestehe auch kein Zusammenhang. Die Verhängung von Verschuldenskosten nach § 192 SGG sei rechtlich zulässig, weil die Klage - unter verständiger Würdigung der vorliegenden Gutachten - offensichtlich aussichtslos sei. Sämtliche Gutachten seien zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen des Klägers gelangt. Die Aufrechterhaltung der Klage sei ohne inhaltlich substantiierte Argumentation des Klägers erfolgt. 

Zur Begründung der hiergegen am 16.08.2018 beim SG Nürnberg eingelegten Berufung, die am 17.08.2018 an das Bayer: Landessozialgericht weitergeleitet wurde, weist der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 14.01.2019 darauf hin, dass der Kläger der festen Überzeugung sei, dass hier seine schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausreichend dargestellt seien, um ein unter 6stündiges Leistungsvermögen zu begründen. Insbesondere die periphere arterielle Verschlusskrankheit und die Kleinhirnartrophie bei Zustand nach Kleinhirninfarkt machten dem Kläger große Probleme und würden im Hinblick auf eine geregelte Erwerbstätigkeit große Probleme bereiten. Auch die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung und der toxische Lebenparenchymschaden führten zu weiteren Beeinträchtigungen, die es dem Kläger unmöglich machten, einer Erwerbstätigkeit geregelt nachzugehen. Mit Schriftsatz vom 20.05.2019 wurden zahlreiche - überwiegend in den Akten bereits vorhandene - ärztliche Unterlagen des Klägers übersandt. 

Der Senat hat einen Befundbericht vom Hausarzt und Internisten Dr. D. eingeholt, der unter dem Datum "28.09.2017" für den Zeitraum ab 07/2018 berichtet, dass sich keine wesentlichen Änderungen im Gesundheitszustand des Klägers ergeben hätten. Der Kläger leide hauptsächlich unter Schwindel mit Gangstörungen, Konzentrationsschwächen sowie Schmerzen in beiden Beinen, betont beim Laufen. Beigefügt war ein Bericht des Klinikums N-Stadt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 20.11.2018 über eine Vorstellung des Klägers am 16.07.2018 und 17.08.2018 in der dortigen Gedächtnisambulanz mit den Diagnosen: Leichte kognitive Störung; rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelschwere Episode. Der Senat hat des Weiteren die Schwerbehindertenakten des ZBFS zum Verfahren beigenommen. 

Sodann hat der Senat ein internistisch/sozialmedizinisches Gutachten von Dr. E. eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers am 27.07.2020 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die türkische Sprache zu folgenden Diagnosen gelangt ist: 

1. Kognitive Leistungseinschränkungen und Störung der Koordination von Bewegungsabläufen (Ataxie) bei mikroangiopathischen Durchblutungsstörungen des Gehirns und Substanzdefekten der rechten Kleinhirnhälfte

2. Rezidivierende depressive Störung

3. Periphere arterielle Durchblutungsstörung (pAVK)

4. Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD)

5. Rückenschmerzen bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule. 

Seit Jahren lägen beim Kläger kognitive Leistungseinschränkungen und eine bein- und armbetonte Bewegungsstörung (Ataxie) vor. Ursache seien Durchblutungsstörungen insbesondere der kleinen Hirngefäße und Defektherde der rechten Kleinhirnhälfte, die wahrscheinlich ebenfalls durchblutungsbedingt und bereits in den nuller Jahren nachgewiesen worden seien. Gleichwohl bestehe kein Zweifel, dass diese Erkrankungen das Leistungsvermögen des Klägers in qualitativer Hinsicht einschränkten, nicht jedoch in quantitativer Hinsicht. Die hirnorganischen Leistungseinschränkungen stünden einer leichten Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegen, wobei keine Tätigkeiten mehr zugemutet werden könnten, die mit besonderen Anforderungen an Konzentrations-, Reaktionsvermögen und Flexibilität einhergingen, hohe Anforderungen an die Umstellungsfähigkeit stellten, ein dauerhaft erhöhtes Aufmerksamkeitsniveau erforderten oder auf andere Weise in nervlich-seelischer Hinsicht besonders belastend seien, z. B. aufgrund eines hohen Arbeitstempos oder eines hohen Verantwortungsdrucks. Montage-, Kontroll-, Packarbeiten, aber auch Maschinenarbeit an vorschriftmäßig gesicherten Maschinen könnten vom Kläger im Falle eines Wiedereintritts in das Erwerbsleben durchaus auch weiterhin ausgeübt werden. Es sei nunmehr davon auszugehen, dass die Wegefähigkeit des Klägers zwischenzeitlich durch die Intervention im Juni 2016 (apparative Aufdehnung der Beckenarterien links) wiederhergestellt sei. Er sei durchaus wieder im Stande, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und Wegstrecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand zurückzulegen. Das festgestellte mindestens 6stündige Leistungsvermögen des Klägers bestehe seit Antragstellung. Eine Tätigkeit als Lkw-Fahrer sei nicht mehr möglich. 

Zum Gutachten von Dr. E. hat der Kläger eine ausführliche persönliche Stellungnahme vorlegen lassen, in der er das Gutachten als "zu 90 % nicht richtig, mit falschen Feststellungen und Lügen" von Dr. E. bezeichnet hat. Hierzu hat Dr. E. am 05.10.2020 ergänzend Stellung genommen und ist bei seiner Einschätzung im Gutachten vom 20.08.2020 geblieben.

In der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2020 hat der Kläger nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er das Gutachten von Dr. E. ablehne. Dies sei alles eine Lüge, auch die weitere Stellungnahme von Dr. E.. Er könne nicht mehr aus dem Haus gehen, könne nicht mehr laufen. Er habe sich einen Elektroscooter auf eigene Kosten angeschafft, weil er nicht mehr laufen könne. Damit könne er wenigstens zur "Norma" zum Einkaufen. 

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt, 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.08.2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.07.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund seines Antrags vom 10.11.2016 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, 

die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.08.2018 zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten, die Akten des SG Nürnberg mit den Aktenzeichen S 20 R 157/12 und S 4 R 540/15, die Akten des ZBFS, Versorgungsamt Nürnberg, Az 2546 324, sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen. 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). 

Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 07.08.2018 einen Anspruch des Klägers auf eine Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 12.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.07.2017 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch aktuell hat der Kläger eine Einschränkung seines zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht nachgewiesen. 

Gemäß § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise erwerbsgemindert sind, 

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und    

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 
6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. 

Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 
Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. 

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten. Zu vermeiden sind körperlich schwere oder anhaltend mittelschwere Tätigkeiten, ebenso solche mit dauerhaftem Stehen oder permanentem Hin- und Hergehen sowie in körperlichen Zwangshaltungen (Bücken, Knien, Hocken, Manipulationen über Augenhöhe) und unter klimatischen Belastungen (Kälte, Nässe). Zudem darf der Kläger nicht zu nervlich-seelisch besonders belastenden Arbeiten herangezogen werden, z. B. Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, an die Flexibilität und das Umstellungsvermögen, Tätigkeiten, die ein dauerhaft erhöhtes Aufmerksamkeitsniveau erfordern oder durch hohes Arbeitstempo und hohen Verantwortungsdruck gekennzeichnet sind. Ferner darf der Kläger keine Tätigkeiten mit Absturzgefahr (Leitern und Gerüste) verrichten und auch keine Nachtarbeit. 

Der Senat stützt seine Überzeugung auf das eingeholte internistisch/ sozialmedizinische Sachverständigengutachten von Dr. E. vom 20.08.2020, der - ebenso wie die beiden im sozialgerichtlichen Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen Dr. V. und Dr. R. - lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers gelangt ist, jedoch eine Einschränkung des zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gerade nicht feststellen konnte. Die Sachverständigen sind in ihren Gutachten zu übereinstimmenden Diagnosen gelangt, ebenso zu vergleichbaren Bewertungen des zeitlichen Leistungsvermögens des Klägers. Allerdings bejaht Dr. E. nunmehr das Vorliegen der Wegefähigkeit des Klägers bei noch bestehenden, dem Kläger bereits von der behandelnden Klinik vorgeschlagenen operativen Interventionen. 

Der Kläger leidet im Wesentlichen an den Folgen der im Jahr 2006 erlittenen Schädigung des Kleinhirns, die zu leichten kognitiven Einschränkungen führt und zu einer bein- und armbetonten Ataxie. Diese begründet aber nach der übereinstimmenden Wertung der Sachverständigen lediglich qualitative Einschränkungen bezüglich der Schwere der Tätigkeit, der Arbeitshaltung sowie der nervlichen Belastbarkeit des Klägers, steht aber grundsätzlich leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich nicht entgegen. 

Des Weiteren liegt eine Verschlusskrankheit (pAVK) vor, die jedoch nach den Feststellungen des Dr. E. infolge einer Intervention im Juni 2016 zwischenzeitlich gebessert ist. Zudem bestehen weitere Behandlungsoptionen, die dem Kläger vom Klinikum F. bereits vorgeschlagen wurden, die er gegenwärtig aber nicht ergreifen möchte. Nach Auffassung von Dr. E. ist der Kläger aber auch ohne diese Interventionen durchaus in der Lage, die nach ständiger Rechtsprechung erforderlichen Wegstrecken für eine Erwerbstätigkeit - 4 x 500 m innerhalb von jeweils 20 Minuten - zurückzulegen. Dr. E. weist in seinem Gutachten diesbezüglich aber auch ausdrücklich auf bestehende Inkonsistenzen im Verhalten des Klägers hin: Der Kläger hat bei Dr. E. angegeben und auch demonstriert, dass er nach einer kurzen Strecke stehen bleiben müsse, weil der Schmerz ein Weitergehen nicht zulasse und er mit dem schmerzenden rechten Bein im Stehen quasi gymnastische Übungen vornehmen müsse, damit der Schmerz abklinge und die Kraft im Bein wiederkomme. Diese Bewegungen bestünden darin, dass das schmerzende rechte Bein angehoben, in Hüft- und Kniegelenk leicht gebeugt und gestreckt werde, auch im Fußgelenk würden dabei gleichzeitig streckende und beugende Bewegungen vorgenommen. Dies entspreche - so Dr. E. - nicht dem üblichen Verhalten bei belastungsabhängig auftretenden und durchblutungsbedingten Beinschmerzen. Der belastungsabhängig aufgrund schlechter Durchblutung auftretende Gliedmaßenschmerz (sog. Klaudikatioschmerz) bedürfe zu seiner Behebung/Linderung einer Ruhigstellung der betroffenen Gliedmaße, nicht jedoch einer zusätzlichen Beanspruchung der Beinmuskulatur durch gymnastische Bewegungen. Der Klaudikatioschmerz würde im Gegenteil sogar nur noch verstärkt. Dr. E. stellt anschließend fest, dass aufgrund der vorliegenden apparativen und klinischen Befunde durchaus von einer relevanten Durchblutungsstörung des rechten Beines des Klägers auszugehen sei, nur sei das gezeigte bzw. behauptete Ausmaß der Störung hochgradig unwahrscheinlich. Es liegt allerdings zusätzlich eine LWS-Symptomatik sowie eine leichte Polyneuropathie vor, die insoweit Schmerzen mitverursachen könnten, die aber - so Dr. E. - keine zusätzliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit in funktioneller Hinsicht begründen würden. 

Daneben sind an weiteren Erkrankungen eine COPD zu benennen, die zu einer mäßig bis mittelgradig ausgeprägten obstruktiven Ventilationsstörung und einer ausgeprägten Gasaustauschstörung führt. Diese steht aber einer leichten Tätigkeit ebenfalls nicht entgegen und kann außerdem durch Reduzierung des Nikotinabusus oder sogar völligen Verzicht und durch eine dauerhafte Behandlung mit bronchialerweiternden und entzündungshemmenden Medikamenten deutlich gebessert werden. Lediglich qualitativ zu berücksichtigen sind der Verwachsungsbauch des Klägers, die Rückenschmerzen und der leichte Tinnitus. 

Hinsichtlich der psychischen Einschränkungen des Klägers hatte Dr. R. keine relevante psychische Erkrankung feststellen können. Dr. R. hat eine völlige Remittierung einer Angsterkrankung des Klägers durch Verordnung von Venlafaxin konstatiert. Dr. E. hat in seinem Gutachten ebenfalls keine besonders einschränkende psychische Erkrankung sehen können. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass der Kläger weder medikamentös noch psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt wird und auch im zurückliegenden letzten halben Jahr nicht entsprechend behandelt wurde. Die Verordnung von Mirtazapin durch die behandelnde Ärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie  Dr. W. wurde nach einmaliger Einnahme des Medikaments durch den Kläger eingestellt, weil er danach angeblich sehr starke Rückenschmerzen bekommen habe. Bei einer nochmaligen Vorstellung bei  Dr. W. im Juli 2020 hat diese erneut empfohlen dieses Medikament einzunehmen, was der Kläger aber nicht macht. Eine psychotherapeutische Behandlung wurde noch nicht durchgeführt, sollte aber nach Ansicht von Dr. E. erfolgen. Der aktuell bestehenden psychischen Situation des Klägers kann aber im Rahmen der genannten qualitativen Einschränkungen hinsichtlich der nervlichen Belastbarkeit des Klägers Rechnung getragen werden. 

Zur Erwerbsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne gehört nach ständiger Rechtsprechung auch die sogenannte Wegefähigkeit des Klägers - so wie oben dargelegt -. Hier gehen allerdings die Einschätzungen der Sachverständigen auseinander.  Dr. M. im Rentenverfahren, Dr. V. und Dr. R. im sozialgerichtlichen Verfahren haben eine Einschränkung der Wegefähigkeit des Klägers gesehen, während Dr. E. die Wegefähigkeit des Klägers als gegeben erachtet. Übereinstimmend waren die Sachverständigen der Auffassung, dass der Kläger aufgrund der kognitiven Einschränkungen infolge des 2006 erlittenen Hirninfarktes nicht mehr in der Lage ist, ein Kraftfahrzeug zu fahren. Inwieweit der Kläger aber Wege zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zurücklegen kann - so Dr. E. wegen der im Jahr 2016 erfolgten Aufweitung der Beinarterie - oder nicht - so  Dr. M., Dr. V. und Dr. R. -, kann vorliegend dahingestellt bleiben, weil die Beklagte mit dem bestandskräftigen Bescheid vom 04.05.2016 rechtlich die notwendige Wegefähigkeit hergestellt hat. Dieser Bescheid ist ausreichend bestimmt hinsichtlich des Umfangs der Übernahme von Fahrtkosten durch Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch Nutzung von Taxis, soweit es um die Erreichbarkeit von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen für den Kläger geht - also berufsbezogene Wege, die er zurücklegen müsste - oder zur Wahrnehmung von Vorstellungsterminen bei potentiellen Arbeitgebern. Es ist deshalb nicht relevant, ob der Kläger die notwendige Wegefähigkeit zu Fuß bewerkstelligen könnte. Nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten fällt hingegen die Frage, ob der Kläger auch in der Lage ist, private Wege, u.a. zum Einkaufen, ohne Hilfsmittel zurückzulegen oder ob er hierfür Hilfen vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung benötigen würde. Nicht entscheidend ist deshalb für die vorliegende Frage der rentenrechtlich notwendigen Wegefähigkeit der Umstand, dass der Kläger sich selbst wohl einen Elektroscooter gekauft hatte. 

Aufgrund der Komplexität der Fragestellung der Wegefähigkeit, insbesondere, ob diese durch den Bescheid der Beklagten vom 04.05.2016 rechtlich hergestellt werden konnte, hat der Senat mit gesondertem Beschluss in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2020 die vom SG in Ziff 3 des Tenors des Gerichtsbescheids des SG Nürnberg verhängten Verschuldenskosten in Höhe von 325,00 € aufgehoben. Das hierfür notwendige Maß an Uneinsichtigkeit kann nicht allein deshalb angenommen werden, weil der Kläger hier von seiner Leistungsunfähigkeit nachhaltig überzeugt ist und er deshalb die Ergebnisse der eingeholten Gutachten nicht akzeptieren kann, auch dann, wenn er durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten im Verfahren vertreten wurde.

Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Nürnberg vom 07.08.2018 als unbegründet zurückzuweisen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor. 
 

Rechtskraft
Aus
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