L 16 AS 652/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 AS 280/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 652/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Vor der Entziehung der Leistungen nach § 66 SGB I muss dem Leistungsempfänger eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung erteilt werden, die konkret, richtig und vollständig sein muss. Die beabsichtigte Entscheidung muss mitgeteilt werden. Eine Ermessensentscheidung über die vollständige Entziehung der Regelleistung nach dem SGB II zur Klärung der Erwerbsfähigkeit, bei unstrittiger Hilfebedürftigkeit, bedarf einer besonderen Begründung. Eine Ermessensentscheidung, die aus formelhaften Wendungen zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Sparsamkeit und Gleichbehandlung besteht, leidet an einem Abwägungsdefizit.

 

I. Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10. September 2020 sowie der Bescheid des Beklagten vom 19.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2019 aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab 01.03.2019 streitig.

Die 1972 geborene Klägerin bezog zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden 1996 und 1998 geborenen Kindern Leistungen nach dem SGB II vom Beklagten. Mit Bescheid vom 19.12.2018 wurden der Klägerin und ihrer Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II von Januar bis Dezember 2019 bewilligt. Ab März 2019 betrug die Bewilligung 1637 € monatlich, wobei auf die Klägerin Leistungen in Höhe von 512,75 € entfielen.

Nach einem amtsärztlichen Gutachten vom 10.10.2011 war die Klägerin voraussichtlich bis zu sechs Monate täglich weniger als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig. In der Folgezeit nahm die Klägerin Termine zur medizinischen Begutachtung nicht wahr. In einem Erörterungstermin vor dem Sozialgericht Regensburg am 29.07.2015 teilte die Klägerin mit, dass es ihr nahezu unmöglich sei, der von dem Beklagten geforderten Mitwirkungshandlung nachzukommen, da ihre Schwester, ihre Mutter und ihr Vater infolge von ärztlichen Behandlungen ums Leben gekommen seien. Nach Aufklärung über ihre Mitwirkungspflicht durch das Sozialgericht nahm die Klägerin einen Termin bei M wahr, der am 21.09.2015 ein Gutachten erstellte, wonach die Klägerin für voraussichtlich länger als sechs Monate, aber nicht auf Dauer täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig sei. Er empfahl eine Überprüfung des Leistungsbildes frühestens nach zwei Jahren.
Zu einem Termin zur medizinischen Begutachtung am 12.12.2018 erschien die Klägerin nicht. Mit Schreiben vom 21.01.2019 wurde sie aufgefordert einen Untersuchungstermin am 31.01.2019 wahrzunehmen. Ihre Erwerbsfähigkeit sei ungeklärt, daher müsse diese vom amtsärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit überprüft werden. Im Schreiben heißt es weiter "Wenn sie ohne wichtigen Grund dieser Einladung zur ärztlichen Untersuchung nicht Folge leisten, können die Leistungen ganz entzogen oder versagt werden, da ihre Erwerbsfähigkeit und damit die Anspruchsvoraussetzungen nicht geklärt werden können. Siehe hierzu auch beiliegende Anlage." Als Anlage beigefügt war der Gesetzestext der §§ 60, 61, 65, 65a und 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Die Klägerin erschien zu dem Termin am 31.01.2019 ohne Angabe von Gründen nicht.

Mit Bescheid vom 19.02.2019 entzog der Beklagte nach Anhörung der Klägerin die Leistungen nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfs von monatlich 382 € gemäß §§ 62, 66 SGB I ab dem 01.03.2019 ganz. Es lägen keine Gründe vor, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu ihren Gunsten berücksichtigt werden könnten. Bis heute habe sie sich nicht dazu geäußert, warum sie den Termin beim amtsärztlichen Dienst nicht wahrgenommen habe. Daher könne der Anspruch nicht geprüft werden. Nach Abwägung des Sinns und Zwecks der Mitwirkungsvorschriften mit ihrem Interesse an den Leistungen sowie dem öffentlichen Interesse an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit würden die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ab dem 01.03.2019 ganz entzogen.

Die Klägerin erhob am 21.02.2019 Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.02.2019. Zur Widerspruchsbegründung trug ihre Bevollmächtigte vor, dass die Klägerin schwer erkrankt sei, unter Bluthochdruck leide und nur kurze Strecken laufen könne. Sie sei nicht reisefähig. Ein Gutachten nach Aktenlage hätte geprüft werden müssen. Es wäre auch möglich gewesen, die Klägerin zu Hause zu untersuchen. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2019 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die ärztliche Untersuchung sei erforderlich gewesen, um die Erwerbsfähigkeit der Klägerin zu klären. Aufgrund fehlender ärztlicher Befunde könne diese nur im Wege einer ärztlichen Untersuchung überprüft werden. Ein Gutachten nach Aktenlage sei nicht möglich, weil nach Mitteilung des ärztlichen Dienstes die nach Aktenlage vorliegenden Befunde für ein aussagekräftiges Gutachten nicht ausreichend seien. Eine Ermessensentscheidung liege vor. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Die Interessen der Klägerin seien angemessen berücksichtigt worden. Bei der Ermessensausübung sei besonders zu beachten, dass die Klägerin trotz Aufforderung keine Gründe angegeben habe, die ihr Verhalten erklären könnten. Insbesondere sei ein ärztliches Attest über die Wegeunfähigkeit nicht vorgelegt worden. Anhaltspunkte, die ein Überwiegen des Interesses der Klägerin an der Zahlung des Arbeitslosengeldes II gegenüber den Interessen der Allgemeinheit rechtfertigten, würden nicht vorliegen. Trotz Ankündigung sei keine Bestätigung des behandelnden Arztes nachgereicht worden, dass sie sich in akuter ärztlichen Behandlung befunden habe oder wegeunfähig gewesen sei. Auch eine eidesstattliche Versicherung sei nicht abgegeben worden, AU - Bescheinigungen seien nicht vorgelegt worden, daher überwiege das öffentliche Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler, die die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus Steuermitteln erbringen würden, an der Entziehung der Leistungen das persönliche Interesse der Klägerin an dem weiteren Bezug der Leistung. Die Entziehung beschränke sich zudem auf den Regelbedarf, sodass die Unterkunft weiterhin gesichert sei.

Am 20.05.2019 erhob die Bevollmächtigte der Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 19.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2019 zum Sozialgericht Regensburg. Der Bescheid sei rechtswidrig, da er ermessensfehlerhaft ergangen sei. Zudem sei die Klägerin im Schreiben vom 21.01.2019 nicht hinreichend über die Rechtsfolgen einer möglichen Mitwirkungspflicht belehrt worden. Im Schreiben vom 21.01.2019 fehle der Hinweis auf die drohende konkrete Rechtsfolge. Mit Urteil vom 10.09.2020 wies das Sozialgericht Regensburg die Klage ab. Die Klägerin sei der Aufforderung sich untersuchen zu lassen mehrfach nicht nachgekommen. Dadurch habe sie die Aufklärung des Sachverhalts wesentlich erschwert, denn die Feststellung ihrer Erwerbsfähigkeit sei zur Überprüfung des Leistungsanspruchs gemäß § 7 SGB II notwendig. Aufgrund der amtsärztlichen Gutachten aus den Jahren 2011 und 2015 hätten hinreichende Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Klägerin vorgelegen. Der Beklagte habe die Erwerbsfähigkeit der Klägerin klären müssen und dürfen. Ein milderes Mittel zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit habe nicht vorgelegen. Auf die Notwendigkeit ihrer Mitwirkung sei die Klägerin im Einladungsschreiben vom 21.01.2019 hinreichend hingewiesen worden. Es seien ihr konkret und unmissverständlich die Folgen einer fehlenden Mitwirkung aufgezeigt worden. Dieser Hinweis erfülle auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.10.2018 in ausreichender Weise die Warn- und Appellfunktion, die der Hinweis nach § 66 Abs. 3 SGB I haben solle. Die Klägerin hätte aus dem Hinweis auf Entziehung oder Versagung genau erkennen können, dass sie keine Leistungen mehr erhalten werde, wenn sie ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkomme. Der Beklagte habe auch sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
Die Bevollmächtigte der Klägerin hat am 19.10.2020 Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.09.2020 zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag wiederholt.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.09.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die zulässige Berufung sei nicht begründet. Zur Begründung seines Antrags hat er auf die überzeugenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Nach seiner Auffassung sei die Klägerin ausreichend auf die Folgen der fehlenden Mitwirkung hingewiesen worden. Auch die Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 153, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung ist begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.09.2020 und der Bescheid des Beklagten vom 19.02.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2019, mit dem der Klägerin die Leistungen nach dem SGB II ab dem 01.03.2019 teilweise entzogen wurden.

Richtige Klageart ist die isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage einer isolierten Anfechtungsklage ist der Abschluss des Verwaltungsverfahrens, hier der Erlass des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2019.

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt. Die Voraussetzungen des § 66 Abs. SGB I lagen nicht vor. Grundsätzlich ist die Klägerin zur Mitwirkung an einer gemäß § 60 Abs. 1 iVm § 62 SGB I angeordneten Teilnahme an einer ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahme verpflichtet. Dieser Mitwirkungspflicht ist die Klägerin, ohne einen wichtigen Grund durch Vorlage z.B. eines aussagekräftigen Attestes nachzuweisen, nicht nachgekommen. Gleichwohl ist die Anfechtungsklage begründet, da der Beklagte vor der Entscheidung zur Entziehung der Leistungen die Klägerin nicht ausreichend konkret im Sinne des § 66 Abs. 3 SGB I auf die mögliche Rechtsfolge einer Mitwirkungsverweigerung schriftlich hingewiesen hat. Zudem hat er die gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I erforderliche Ermessensentscheidung nicht ordnungsgemäß getroffen.

Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I (hier: Teilnahme an ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen gemäß § 62 SGB I) nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ohne weitere Ermittlungen bis zur Nachholung der Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind.

Die Klägerin ist ihrer Mitwirkungspflicht nach § 62 SGB I nicht nachgekommen. Die Mitwirkungspflicht trifft sowohl den Antragsteller als auch den Empfänger von Sozialleistungen. Die Teilnahme an einer Untersuchung kann auch zur Überprüfung des Fortbestehens der Leistungsvoraussetzungen verlangt werden (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 62 SGB I (Stand: 05.10.2018), Rn. 14). Die Untersuchung war auch erforderlich, um über das Fortbestehen des Leistungsanspruchs der Klägerin nach dem SGB II entscheiden zu können (vgl. §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 SGB II). Damit besteht dem Grunde nach eine Obliegenheit der Klägerin, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Die Grenzen der Mitwirkungspflicht nach § 65 Abs. 2 SGB I wurden durch das Verlangen des Beklagten nicht überschritten.

Durch das Verhalten der Klägerin wurde die notwendige Sachverhaltsaufklärung erheblich erschwert (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Einen wichtigen Grund gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I, warum die von ihr geforderte Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung für sie nicht zumutbar ist, hat die Klägerin nicht nachgewiesen. Sie hat keine ausreichenden Atteste zu den von ihr behaupteten gesundheitlichen Einschränkungen, die sie an der Teilnahme an einer ärztlichen Begutachtung hindern würden, vorgelegt.

Grundsätzlich ist somit der Beklagte berechtigt, die Klägerin zur Mitwirkung aufzufordern und die der Klägerin gewährten Leistungen bei fehlender Mitwirkung zu entziehen. Die Entziehungsentscheidung ist jedoch rechtswidrig, weil der Beklagte die Klägerin zuvor nicht gemäß § 66 Abs. 3 SGB I auf die mögliche Rechtsfolge bei einer Mitwirkungsverweigerung schriftlich hingewiesen hat. Gemäß § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seine Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Dem schriftlichen Hinweis nach § 66 Abs. 3 SGB I kommt Warn- und Appellfunktion zu. Er ist eine zwingende formelle Voraussetzung für die Entziehung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung im Verwaltungsverfahren (vgl. BSG, Urteil vom 12.10.2018, B 9 SB 1/17 R, Rn. 27). Dieser Hinweis muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die notwendige Bestimmtheit aufweisen, damit der zur Mitwirkung Aufgeforderte eindeutig erkennen kann, was ihm bei Unterlassung der Mitwirkung droht. Dh er muss konkret, richtig und vollständig sein und zeitnah im Zusammenhang mit dem jeweils geforderten Verhalten erfolgen, sowie in verständlicher Form erläutern, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen sich aus der fehlenden Mitwirkung ergeben kann, wenn für diese kein wichtiger Grund vorliegt. Diese strengen Anforderungen ergeben sich aus der Funktion der Rechtsfolgenbelehrung, über die gravierenden Folgen der Entziehung bzw. Versagung zu informieren und den Betroffenen in allgemeiner Form vorzuwarnen (vgl. zur Rechtsfolgenbelehrung bei Sanktionen, BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 30/09 R - RdNr 22 ff; BSG, Urteil vom 18.02.2010 - B 14 AS 53/08 R - RdNr 19 ff, BSGE 105, 297; BSG, Urteil vom 09.11.2010 - B 4 AS 27/10 R -, SozR 4-4200 § 31 Nr 6, Rn. 26). Daher darf sich der Hinweis nicht auf eine allgemeine Belehrung oder Wiedergabe des Gesetzeswortlautes beschränken, sondern muss anhand der dem Leistungsträger durch § 66 Abs. 1 SGB I eingeräumten Entscheidungsalternativen unmissverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnen, die im Einzelfall beabsichtigt ist, wenn der Betroffene dem Mitwirkungsverlangen innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommt. D.h. er muss Ausführungen enthalten, weshalb die geforderte Mitwirkungshandlung geboten ist und mit welchen konkreten Leistungseinschränkungen - teilweise oder ganz - zu rechnen ist, wenn ohne triftigen Grund der Pflicht nicht nachgekommen wird. Ggf. sind auch Ausführungen notwendig, weshalb der Leistungsträger solche Gründe im vorliegenden Fall für nicht gegeben hält (BSG, a.a.O.; Voelzke in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 66 SGB I (Stand: 30.10.2020), Rn. 49; Sichert in Hauck/ Noftz, SGB I, Stand: 11/11, § 66 RdNr 19). Darüber hinaus muss eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung einen Hinweis darauf enthalten, dass die Leistungen nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt bzw. entzogen werden (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2017, L 7 SO 1138/17, Rn. 35, juris). Ausnahmsweise entbehrlich ist die Rechtsfolgenbelehrung, wenn feststeht, dass sich der Mitwirkungspflichtige des Inhalts der von ihm erwarteten Mitwirkungshandlung und der Folgen der Obliegenheitsverletzung bewusst ist und auch ein schriftlicher Hinweis ihn nicht veranlassen würde, ernsthaft an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken (Voelzke, a.a.O., Rn. 52).

Vorliegend fehlt es bereits an der Mitteilung der beabsichtigten konkreten Rechtsfolgen bei fehlender Mitwirkung und an dem Hinweis zur Nachholung der Mitwirkung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Darauf, ob der Beklagte ordnungsgemäß eine angemessene Frist gemäß § 66 Abs. 3 2. HS SGB I gesetzt hat, kommt es daher nicht an. Der Beklagte hat im Schreiben vom 21.01.2019 lediglich ausgeführt, dass die Leistungen entzogen oder versagt werden können. Er hat weder ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie entzogen werden, noch hat er den Umfang der Leistungsentziehung angekündigt. Eine voraussichtlich zu treffende konkrete Entscheidung wird der Klägerin nicht aufgezeigt. Ergänzende mündliche Hinweise des Beklagten sind, anders als es das Sozialgericht meint, unbeachtlich, da Voraussetzung nach dem Wortlaut des § 66 Abs. 3 SGB I die schriftliche Belehrung der Klägerin ist.

Der Bescheid ist auch deshalb aufzuheben, weil der Beklagte bei der Ausübung seines Ermessens nicht alle maßgebenden Ermessensgesichtspunkte in die Entscheidung einbezogen hat und deswegen ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 26 ff m.w.N.).

Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I steht die Entziehung der Leistungen im Ermessen des Leistungsträgers. Fehler in der Ermessensausübung sind Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung bzw. Ermessensmangel und schließlich Ermessensfehlgebrauch bzw. Ermessensmissbrauch. Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn überhaupt keine Ermessenserwägungen angestellt werden und so gehandelt wird, als ob eine gebundene Entscheidung zu treffen ist. Bei einer Ermessensüberschreitung wird eine Rechtsfolge gesetzt, die in der gesetzlichen Regelung nicht vorgesehen ist. Ermessensmissbrauch liegt vor, wenn ein unsachliches Motiv oder ein sachfremder Zweck verfolgt wird. Ermessensfehlgebrauch liegt als Abwägungsdefizit vor, wenn nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach Lage des Falles zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einfließen. Der Fehlgebrauch kann auch als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn die Behörde die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch erfolgt sein, wenn die Behörde ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Schließlich liegt eine Ermessensunterschreitung oder ein Ermessensmangel vor, wenn zwar Ermessenserwägungen angeführt werden, diese aber unzureichend sind, weil sie z.B. nur aus formelhaften Wendungen bestehen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020 § 54, Rn. 27; BSG, Urteil vom 09.11.2010, Rn. 15).

Bei der Erteilung des Bescheides vom 19.02.2019 war dem Beklagten zwar bewusst, dass ihm Ermessen zusteht, er führt nämlich aus, dass die Klägerin keine Gründe mitgeteilt habe, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu ihren Gunsten berücksichtigt werden könnten. Dies reicht jedoch für eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung nicht aus. Diese wurde auch nicht im Widerspruchsverfahren nachgeholt.

Der Beklagte macht in der angefochtenen Verwaltungsentscheidung keine Ausführungen zum Umfang der Entziehung der Regelleistung. Insoweit liegt Ermessensnichtgebrauch vor. Der Beklagte entzieht die Regelleistung ganz, ohne dies näher zu begründen oder eine teilweise Entziehung in Betracht zu ziehen. Der Beklagte hätte berücksichtigen müssen, dass auch bei fehlender Erwerbsfähigkeit der Klägerin diese einen Leistungsanspruch auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII in vergleichbarer Höhe hätte. Die Klärung der Erwerbsfähigkeit kann vorliegend nur der Frage dienen, welcher Leistungsträger für die existenzsichernden Leistungen zuständig ist und ob die Klägerin weiterhin in Arbeit vermittelt werden kann. Der Beklagte ist verpflichtet, das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum der Klägerin sicherzustellen. Wird wie hier die Regelleistung ganz entzogen, so stellt dies einen Eingriff in das nach Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Existenzminimum dar. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen im SGB II (BVerfG, Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, BVerfGE 152, 68-151) zu beanstanden und stellt einen Ermessensfehler dar. Ein vollständiger Entzug der Regelleistung wegen der Klärung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin bei gleichzeitiger unstrittiger Hilfebedürftigkeit bedarf auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls einer besonderen Begründung (vgl. Beschluss des Senats vom 12.06.2019, L 16 AS 374/19 B ER, Rn. 22).

Zudem besteht ein Ermessensfehlgebrauch im Sinne eines Abwägungsdefizits. Interessen der Klägerin werden vom Beklagten nicht gesehen und in die Abwägung nicht eingestellt, da sich die Klägerin nicht geäußert habe, warum sie den Termin beim amtsärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit nicht wahrgenommen habe. Der Widerspruchsbescheid vom 17.05.2019 setzt das Abwägungsdefizit des Bescheides vom 19.02.2019 fort, indem er Bezug auf den Ausgangsbescheid nimmt mit der Ausführung, die Interessen der Klägerin seien angemessen berücksichtigt worden. Zusätzlich enthält er Erwägungen zur fehlenden Vorlage von ärztlichen Attesten und Unterlagen durch die Klägerin. Die aus der Verwaltungsakte des Beklagten sich ergebende Vorgeschichte der Klägerin hätte bei den Ermessenserwägungen berücksichtigt werden müssen, insbesondere, ob die abverlangte Mitwirkungshandlung der Klägerin aus gesundheitlichen Gründen zumutbar ist. Ebenso wäre zu erwarten gewesen, dass die Bedeutung der existenzsichernden Leistungen für den Lebensunterhalt der Klägerin berücksichtigt wird. Dies ist unterblieben. Vielmehr ist die Ermessensentscheidung durch formelhafte Wendungen geprägt und berücksichtigt den zu entscheidenden Einzelfall nicht ausreichend. Der Hinweis auf die Interessen der Steuerzahler geht schon deshalb fehl, weil es lediglich um die Klärung der Frage geht, welcher Leistungsträger die in beiden Fällen steuerfinanzierten Leistungen zu erbringen hat. Allgemeine Ausführungen zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Sparsamkeit und Gleichbehandlung kombiniert mit der Feststellung, Interessen der Klägerin könnten nicht berücksichtigt werden, da sie sich nicht geäußert habe und Atteste bzw. weitere Unterlagen nicht vorgelegt habe, genügen nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG sind nicht ersichtlich.

 

Rechtskraft
Aus
Saved