L 3 U 353/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 23 U 717/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 353/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine fiktive Klagerücknahme setzt aus verfassungsrechtlichen Gründen voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des objektiven Rechtsschutzbedürfnisses oder des subjektiven Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben.
2. Hat der anwaltliche Vertreter des Klägers bei Klageerhebung eine Klagebegründung ausdrücklich angekündigt, legt er diese aber trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderung innerhalb angemessener Frist nicht vor und verhält sich auch sonst in keiner Weise gegenüber dem Gericht, so rechtfertigt dies eine Betreibensaufforderung gemäß § 102 Abs. 2 SGG.

 

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. August 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung wie folgt neu gefasst wird:

      I. Die Klage gegen den Bescheid vom 8. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2017 wird abgewiesen.

     II. Es wird festgestellt, dass die unter dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 geführte Klage gegen den Bescheid vom 22. Dezember 2016 in der Gestalt des     
         Widerspruchsbescheides vom 20. April 2017 durch Klagerücknahme erledigt ist.

    III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III.  Die Revision wird nicht zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Das Berufungsverfahren betrifft - nach einem Teilvergleich der Beteiligten vor dem Senat - nur noch die Frage der Beendigung eines Rechtsstreites durch Klagerücknahmefiktion.

Der 1981 geborene Kläger erlitt am 12.8.1999 einen versicherten Arbeitsunfall, bei welchem er sich Verletzungen im Bereich des linken Unterarmes und Handgelenks zuzog. Die Beklagte bewilligte ihm daraufhin eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 20 v.H. (Bescheid vom 14.3.2000). Nach Einholung eines zweiten Rentengutachtens des R, der zu dem Ergebnis kam, dass die MdE nur mehr 10 v.H. betrage, entzog die Beklagte die Rente für die Zeit ab Februar 2001 (Bescheid vom 25.1.2001).

Am 3.9.2015 kam es zu einem weiteren Arbeitsunfall, bei welchem der Kläger u.a. im Bereich der rechten Hand verletzt wurde. Aufgrund dieses zweiten Versicherungsfalles holte die Beklagte ein fachorthopädisches Rentengutachten des L und S ein, wonach die MdE mit 10 v.H. einzuschätzen sei, und lehnte hierauf gestützt die Bewilligung einer Verletztenrente ab (Bescheid vom 22.12.2016; Widerspruchsbescheid vom 20.4.2017).

Im Weiteren nahm die Beklagte in Bezug auf das Unfallereignis aus dem Jahre 1999 Ermittlungen zu einem (Stütz-)Rententatbestand auf und gab ein chirurgisches Gutachten bei L1 in Auftrag. Dieser führte aus, dass das Bewegungsdefizit der linken Hand als sehr gering zu bezeichnen sei, das Bewegungsausmaß habe sich gegenüber der Untersuchung bei R (Oktober 2000) gebessert. Die gelegentlichen Sensibilitätsstörungen und Belastungsschmerzen seien unfallbedingt. Die Unfallfolgen seien jetzt mit unter 10 v.H. anzunehmen, über die Vergangenheit lasse sich diesbezüglich keine sichere Aussage treffen. Somit werde bis einen Tag vor der Untersuchung bei ihm (16.6.2017) eine MdE von 10 v.H. angenommen, ab Untersuchungstag von unter 10 v.H. Daraufhin lehnte die Beklagte wegen des Unfalls aus dem Jahre 1999 weiterhin die Gewährung einer Verletztenrente - auch in Form einer Stützrente - ab (Bescheid vom 8.8.2017; Widerspruchsbescheid vom 21.11.2017).

Der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers hat bezüglich des Arbeitsunfalls aus dem Jahre 2015 am 4.5.2017 unter dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 und bezüglich des Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1999 am 19.12.2017 unter dem Aktenzeichen S 23 U 717/17 Klagen zum Sozialgericht München (SG) erhoben. Zu der unter dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 geführten Klage hat der vormalige Prozessbevollmächtigte des Klägers zunächst um Akteneinsicht gebeten und zugleich angekündigt, dass er danach den Klageantrag konkret formulieren und die Klage begründen werde. Die Akteneinsicht ist mit gerichtlichem Schreiben vom 26.5.2017 unter Hinweis darauf, dass einer Klagebegründung bis 26.6.2017 entgegengesehen werde, gewährt worden. Weil der frühere Prozessbevollmächtigte sich nach Rückgabe der Akten am 6.6.2017 nicht verhalten hatte, hat das SG ihn hieran mit Schreiben vom 3.7.2017 unter Fristsetzung bis zum 17.7.2017 und mit Schreiben vom 3.8.2017 unter Fristsetzung bis zum 17.8.2017 erinnert. Nachdem dieser hierauf weiterhin nicht reagiert hatte, hat die Kammervorsitzende ihn mit Schreiben vom 21.8.2017 zum Betreiben des Verfahrens durch Übersendung einer Klagebegründung aufgefordert und auf die Rechtsfolgen eines Nichtbetreibens hingewiesen. Das Schreiben ist dem vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23.8.2017 zugestellt worden. Nachdem hierauf weiterhin keine Reaktion zu verzeichnen war, hat die Kammer diesem mit Schreiben vom 4.12.2017 mitgeteilt, dass die Klage als zurückgenommen gilt.

Mit Schriftsatz vom 7.12.2017 hat der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers gerügt, es seien keine präzisen Anforderungen gestellt worden. Zudem sei nach dortigem Aktenstand eine Klagebegründung am 29.9.2017 erstellt und versandt worden; zur Glaubhaftmachung wurde der Ausdruck einer E-Mail an den Kläger vom 29.9.2017 übersandt, wonach diesem die Klagebegründung in Anlage übermittelt werde. Er beantrage Wiedereinsetzung und Korrektur. Daraufhin hat das SG das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 23 U 707/17 fortgeführt.

Nach Verbindung der beiden Verfahren unter dem Aktenzeichen S 23 U 717/17 (Beschluss vom 2.5.2018) hat das SG die Klagen abgewiesen (Urteil vom 29.8.2018). Die Klage sei unzulässig, soweit sie den Unfall aus dem Jahre 2015 betreffe, weil sie nach   § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers sei vorliegend die nicht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist von drei Monaten eingegangene Klagebegründung ausreichend, eine Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG zu begründen. Zwar diene § 102 SGG nicht dazu, lediglich unkooperatives Verhalten eines Klägers zu sanktionieren. Allerdings werde von der Rechtsprechung auch bei fehlender Klagebegründung ein Greifen des § 102 Abs. 2 SGG bejaht. Im vorliegenden Falle habe der Bevollmächtigte des Klägers explizit angekündigt, nach Akteneinsicht einen Klageantrag zu formulieren und die Klage zu begründen. Dies sei trotz zweifacher Erinnerung des Gerichts und weiterer förmlicher Aufforderung gemäß § 102 SGG nach erfolgter Akteneinsicht rund sechs Monate lang nicht geschehen. Zudem habe die Frage eines bei Klageerhebung verwaltungsseitig noch nicht entschiedenen Stützrententatbestandes wegen des Unfalls aus dem Jahre 1999 im Raum gestanden. Insofern sei es angezeigt gewesen, eine nähere Konkretisierung des Klagebegehrens und/oder eine Klagebegründung anzufordern. Dass ein entsprechender Begründungsentwurf vor Ablauf der Frist dem Kläger per E-Mail übersandt worden sei, ersetzt den Eingang bei Gericht nicht. Bezüglich des Unfalls aus dem Jahre 1999 sei die Klage zwar zulässig, aber unbegründet. Der Kläger habe aufgrund der Unfallfolgen keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente, auch nicht in Form einer Stützrente.

Gegen das am 26.9.2018 zugestellte Urteil hat die jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers am 22.10.2018 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Frage der Anwendbarkeit der Klagerücknahmefiktion werde auf den Vortrag im Klageverfahren verwiesen. Bezüglich der Höhe der MdE aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalles aus dem Jahre 1999 sei ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen.

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vor dem Senat am 24.2.2021 verglichen sich die Beteiligten dahin, dass sich aus dem Arbeitsunfall vom 12.8.1999 im Zeitraum vom 3.9.2015 bis 25.10.2016 eine MdE in Höhe von 10 v.H. ergibt und mit diesem Teilvergleich der Rechtsstreit bezüglich des Arbeitsunfalles vom 12.8.1999 vollumfänglich erledigt ist. In Bezug auf den noch verbliebenen Streitgegenstand (Arbeitsunfall vom 3.9.2015) haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. August 2018 aufzuheben und festzustellen, dass sich der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht München mit dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 nicht erledigt hat.

Die Beklagte beantragt,

      die Berufung zurückzuweisen.
      
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), bleibt ohne Erfolg. Zu Recht ist das Vordergericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der dortige Rechtsstreit S 23 U 258/17 infolge fiktiver Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG erledigt ist.

Zwar hat das SG im Tenor des Urteils die Klage abgewiesen, obwohl ein anhängiger Rechtsstreit, der abgewiesen werden könnte, im Zeitpunkt der Entscheidungsverkündung nicht mehr vorlag, weil die Rücknahmefiktion bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen ipso iure eintritt (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 7). Indes lässt sich den in den Entscheidungsgründen niedergelegten Erwägungen mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass das Vordergericht die Klage als durch fiktive Klagerücknahme erledigt angesehen und sich deswegen verfahrensfehlerfrei zur Sache nicht mehr eingelassen hat. Dass es die Erledigung nicht auch im Tenor festgestellt hat, begründet keine eigene Beschwer des Klägers und eröffnet insbesondere nicht die Möglichkeit einer vorgezogenen Sachprüfung durch das Rechtsmittelgericht. Vielmehr war im Berufungsverfahren lediglich klarstellend auszusprechen, dass die im Tenor bezeichnete und vormals unter dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 geführte Klage gegen den Bescheid vom 22.12.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.4.2017 erledigt ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - juris Rn. 18 - "feststellende Entscheidung").

Streitgegenstand des Berufungsverfahren ist nach dem Teilvergleich der Beteiligten vor dem Senat nur noch die Frage, ob die am 28.4.2017 beim SG erhobene und dort ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 23 U 258/17 geführte Klage als zurückgenommen gilt und der Rechtsstreit damit in der Hauptsache erledigt ist. Nach § 157 Satz 1 SGG prüft das Berufungsgericht den Streitfall dabei im gleichen Umfang wie das Erstgericht. Im Berufungsverfahren gegen die Feststellung des SG, dass die Klage als zurückgenommen gilt, hat sich das Rechtsmittelgericht also nur hiermit auseinanderzusetzen. Eine Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch ist dem Berufungsgericht in jedem Fall verwehrt, weil es an einer diesbezüglichen Sachentscheidung des Vordergerichts fehlt; bei dem Zwischenstreit über die Erledigung oder Fortsetzung des Verfahrens handelt es sich um ein vom Ausgangverfahren zu unterscheidendes, selbständiges Verfahren (h.M., vgl. BayLSG, Urteil vom 13.7.2016 - L 6 R 149/16 - juris Rn. 16; BayLSG, Urteil vom 12.7.2011 - L 11 AS 582/10 - juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.2.2017 - L 25 AS 931/16 - juris Rn. 19; Burkiczak, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 102 Rn. 100, Stand 15.3.2021 mit Nachweisen zum Meinungsstand; offengelassen zuletzt von BSG, Urteil vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - juris Rn. 19). Zutreffende Klageart ist hiernach allein die isolierte Feststellungsklage gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Entsprechend war der Antrag des Berufungsklägers auszulegen.

Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG). Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt nach § 102 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 SGG den Rechtsstreit in der Hauptsache.

Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 SGG, die ihr Vorbild in der dem Asylverfahrensrecht nachgebildeten Vorschrift des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO und der hierzu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung hat (vgl. BT-Drucks. 16/7716, 19), basiert auf der Prozessvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses bzw. Rechtsschutzinteresses. Sie knüpft die Fiktion der Klagerücknahme an die sich aus dem passiven Verhalten des Klägers ergebende - durch "Betreiben" des Verfahrens widerlegbare - Vermutung, sein Interesse an der Aufrechterhaltung der Klage sei entfallen. § 102 Abs. 2 SGG eröffnet die Möglichkeit, die Untätigkeit des Klägers zu sanktionieren, wenn dieser sich - insbesondere auch mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justizgewährung - nicht zu einer gemessen an Art. 19 Abs. 4 GG zumutbaren Mitwirkung an dem von ihm angestrengten Verfahren bewegen lässt (zum Vorstehenden vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.9.2016 - 1 WB 17/16 - juris Rn. 14; Decker, BayVBl. 1997, 673, 674).

Eine fiktive Klagerücknahme setzt allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des objektiven Rechtsschutzbedürfnisses und/oder des subjektiven Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben. Dieses in ständiger Rechtsprechung des BVerwG zu der entsprechenden asylverfahrensrechtlichen Regelung entwickelte, ungeschriebene Tatbestandsmerkmal gilt auch für Vorschrift des    § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG (BSG, Beschluss vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 8 f.; BSG, Urteil vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - juris Rn. 20). Solche konkreten Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.7.2005 - 10 BN 1/05 - juris Rn. 4 zu § 92 VwGO). Stets muss sich daraus der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Denn § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen. Nicht geboten ist insoweit allerdings ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss (vgl. BSG, Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 74/09 R - juris Rn. 51; BVerwG, Beschluss vom 7.7.2005 - 10 BN 1/05 - juris Rn. 4 zu § 92 VwGO). Die Klagerücknahmefiktion kann auch dann Platz greifen, wenn zweifelsohne eine belastende Verwaltungsentscheidung des Klägers vorliegt, sich aus seinem Verhalten jedoch schließen lässt, dass er kein Interesse (mehr) an der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Beseitigung hat. Auf die Gründe dieses fehlenden Interesses kommt es dabei nicht an; es kann etwa auf den als gering erkannten Erfolgsaussichten beruhen oder auf einer Abwägung von Aufwand und Nutzen (zum Vorstehenden BSG, Beschluss vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 8 zur Berufungsrücknahmefiktion nach § 156 Abs. 2 SGG).

Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung iS des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG liegen hier vor.

Die Klagerücknahmefiktion kann einen Rechtsstreit nur beenden, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Eine Betreibensaufforderung muss nach der Rechtsprechung des BSG vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sein; ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (so BSG, Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - juris Rn. 49; BayLSG, Urteil vom 13.7.2016 - L 6 R 149/16 - juris Rn. 13; dagegen zu Recht kritisch Burkiczak, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 102 Rn. 100, Stand 15.03.2021 Rn. 74). Die Aufforderung muss konkret und klar sein. Der Adressat der Aufforderung ist in dieser auf die Rechtsfolgen, die gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG eintreten können, hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG). Endlich ist die Betreibensaufforderung dem Kläger oder ggf. seinem Bevollmächtigten gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG förmlich zuzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - juris Rn. 49; BVerwG, Urteil vom 23.4.1985 - 9 C 48/84 - juris Rn. 19 zu § 33 Abs. 1 Asylerfahrensgesetz).

Diesen Anforderungen genügt die Betreibensaufforderung vom 21.8.2017. Sie war mit vollem Namen der damaligen Vizepräsidentin als zuständiger Kammervorsitzender beim SG unterschrieben, benannte den Anlass, nämlich die fehlende Klagebegründung, forderte zur Vorlage derselben auf und wies auf die Rechtsfolgen (Klagerücknahmefiktion) im Fall der Nichtvorlage innerhalb der Frist von drei Monaten nach Zugang des Schreibens hin. Eines Hinweises auf eine Kostenfolge bedurfte es nicht, da es sich nicht um ein nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG kostenpflichtiges Verfahren handelt (vgl. BSG, Urteil vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - juris Rn. 25). Die Betreibensaufforderung ist dem früheren Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Empfangsbekenntnis am 23.8.2017 zugestellt worden. Die Dreimonatsfrist endete mithin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG mit Ablauf des 23.11.2017, einem Donnerstag.

Zutreffend hat das Vordergericht entschieden, dass die Betreibensaufforderung auch die Fiktion der Klagerücknahme ausgelöst hat.

Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG tritt nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie ihren verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn neben den formellen Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses vorliegen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - juris Rn. 14; BSG, Urteil vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - juris Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - juris; vgl. auch BT-Drucks. 16/7716, 19). Im Rahmen der insoweit gebotenen Gesamtbetrachtung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des Klägers in den Blick zu nehmen (BSG, Urteil vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - juris Rn. 28 m.w.n.). Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich - wie ausgeführt - insbesondere aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben.

Überzeugend und in Übereinstimmung mit höchstrichterlicher Rechtsprechung hat das SG dargetan, dass auch die Nichtvorlage einer Klagebegründung Anlass für und die Aufforderung zur Vorlage einer solchen Gegenstand einer Betreibensaufforderung sein kann. Bei der Klärung des Streitgegenstandes (siehe dazu eingehend Senatsbeschluss vom 25.1.2021 - L 3 U 205/20 - S 2 des Beschlussumdruckes) und der wesentlichen Einwendungen ist der Kläger nicht von Mitwirkungsobliegenheiten befreit (vgl. bereits BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - juris Rn. 29). Dass die Vorlage einer Klagebegründung eine regelhafte Obliegenheit des Klägers ist, ergibt sich schon aus der Soll-Vorschrift des § 92 Abs. 1 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 13; Burkiczak, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 102 Rn. 63, Stand 15.3.2021). Auch das BVerfG und ihm folgend das BSG haben die Aufforderung, eine Klage bzw. Berufung zu begründen, als einen zulässigen Inhalt einer Betreibensaufforderung erachtet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.8.1984 - 2 BvR 187/84 - NVwZ 1985, 33; BSG, Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - juris Rn. 47), was wiederum der Rechtsprechung des BVerwG zu § 92 Abs. 2 VwGO entspricht (vgl. stellv. BVerwG, Beschluss vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - juris Rn. 4 zu § 92 Abs. 2 VwGO). Die fehlende Vorlage einer Klagebegründung kann hiernach insbesondere dann Anlass für eine Betreibensaufforderung sein, wenn auf Aufforderung ohne Fristsetzung eine beträchtliche Zeit verstrichen ist (BVerwG, Beschluss vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - NVwZ 2000, 1297, 1298; Burkiczak, NZS 2011, 326, 329) oder die Klagebegründung trotz Fristsetzung (vgl. BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 13; BVerwG, Beschluss vom 18.9.2002 - 1 B 103/02 - juris Rn. 7) oder trotz Ankündigung (vgl. BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 15.1.1991 - 9 C 96/89 - juris Rn. 11) nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums vorgelegt wird. Die vor allem in der Instanzrechtsprechung (vgl. stellv. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.5.2016 - L 27 R 240/16 - juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.8.2009 - L 14 AS 1005/09 B - juris) und in der sozialrechtlichen Literatur (vgl. stellv. Schmidt, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 102 Rn. 8c) verbreitete Meinung, ein Kläger könne nicht gezwungen werden, eine schriftliche Klagebegründung vorzulegen, mit der Folge der Unanwendbarkeit von § 102 Abs. 2 SGG in derartigen Fällen, trifft nicht das eigentliche Problem und erweist sich zudem auch in der Sache als untaugliches Argument. Richtig ist zwar, dass das Gesetz eine Klagebegründung nicht einfordert. Hieraus folgt im Kontext des § 102 Abs. 2 SGG jedoch nur, dass der vermutete Wegfall des Rechtsschutzinteresses nicht schon daraus hergeleitet werden kann, dass ein Kläger seine Klage nicht von sich aus begründet (so zutreffend VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.10.1999 - 6 S 1870/99 - juris Rn. 4 zu § 92 Abs. 2 VwGO).

Hiernach durfte das SG an den früheren Prozessbevollmächtigen des Klägers eine Betreibensaufforderung richten, denn im Zeitpunkt dieser Aufforderung bestanden bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Der vormalige Prozessbevollmächtigte des Klägers war vom SG im Rahmen des gewährten Akteneinsichtsgesuches unter angemessener Fristsetzung (vgl. § 92 Abs. 2 Satz 1 SGG) zur Vorlage seiner Klagebegründung aufgefordert und hieran im Weiteren zweimal erinnert worden, ohne sich hierauf in irgendeiner Weise zu verhalten. Er hat sich damit zwischen Aktenübersendung und der Betreibensaufforderung vom 21.8.2017 über einen Zeitraum von knapp drei Monaten gegenüber dem SG nicht geäußert. Solange eine Klagebegründung nicht in Vorlage gebracht wird und auch sonst klägerseits keine Äußerungen vorliegen, kann das angerufene Gericht aber nicht wissen, ob die Klageerhebung nur vorsorglich zur Fristwahrung erfolgt ist oder ob und welches Klagebegehren tatsächlich verfolgt wird (vgl. BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 14 zur Berufungsrücknahmefiktion). Dies gilt im besonderen Maße dann, wenn - wie hier - mit Einlegung der Klage zugleich deren Begründung nach gewährter Akteneinsicht ausdrücklich angekündigt worden ist und der Kläger anwaltlich vertreten ist. Wenn vorliegend das SG den Prozessbevollmächtigten des Klägers wiederholt und unter Fristsetzung zur Vorlage einer angekündigten Klagebegründung über einen angemessen langen Zeitraum auffordert, ohne hierauf irgendeine Reaktion verzeichnen zu können, liegt deshalb der Schluss nahe, dass der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens kein Interesse (mehr) hat. Das Gericht ist dann zur Klärung dieser Frage durch Aufforderung zur Vorlage einer Berufungsbegründung berechtigt, bevor es eine Sachprüfung aufnimmt (vgl. BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 14 zur Berufungsrücknahmefiktion). Die personellen Ressourcen der Justiz müssen so eingesetzt werden, dass möglichst viele Verfahren einerseits zeitsparend, andererseits in einem rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Rahmen behandelt und entschieden werden (BVerfG, Beschluss vom 27.11.2018 - 1 BvR 957/18 - juris Rn. 7; BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 14).

Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, warum es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen wäre, eine zumindest kurze Klagebegründung innerhalb der reichlich bemessenen Frist vorzulegen. Zumindest aber konnte die Mitteilung erwartet werden, aus welchen Gründen eine Klagebegründung noch nicht möglich sei. Eine Klagebegründung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil mit dem Widerspruchsbescheid bereits eine Verwaltungsentscheidung auf Rechtsbehelf hin vorliegt; denn gerade diese Entscheidung bewirkt eine Zäsur und gibt dem Kläger Anlass und Gelegenheit, die Argumente der Verwaltung zu wägen und über die Fortführung des Verfahrens im Klagewege mit all den damit einhergehenden gesteigerten Obliegenheiten und zusätzlichen Kosten zu befinden. Diese Feststellung wird nicht durch die dem erkennenden Senat bekannte Tatsache entkräftet, dass in sozialgerichtlichen Verfahren sich die Klagebegründung regelmäßig auf eine Wiederholung des bereits im Widerspruchsverfahren Vorgetragenen beschränkt. Mit dem Unterlassen jeglicher Antwort über einen Zeitraum von knapp drei Monaten nach gewährter Akteneinsicht verletzte der Prozessbevollmächtigte mithin seine prozessualen Mitwirkungspflichten in einer Weise, die geeignet war, hinreichende Zweifel - und dies ist ausreichend - an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse auszulösen.

Das hier gefundene Ergebnis wird auch durch die Entscheidung des BSG vom 4.4.2017 (B 4 AS 2/16 R - juris) gestützt. Dort hatte das Erstgericht den Prozessbevollmächtigten des Klägers unter zweimaliger Fristsetzung zur Abgabe einer verfahrensbezogenen Stellungnahme aufgefordert (Schreiben vom 14.10.2008, Erinnerung vom 18.11.2008), die dieser nach späterem Akteneinsichtsgesuch (vom 25.11.2008; Erhalt der Akten am 11.12.2008) und entsprechender Ankündigung (18.12.2008) nicht abgegeben hatte. Die am 19.2.2009 verfasste Betreibensaufforderung hatte das BSG - trotz Berichtigungsschreiben (vom 27.11.2008) des Erstgerichts zum Inhalt der ersuchten Antwort und trotz kurzer Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Sache im Schreiben vom 18.12.2008 - als von § 102 SGG umfasst gesehen. Wenn aber bereits bei derartiger Sachlage eine Betreibensaufforderung als rechtmäßig erachtet wird, muss dies erst recht für einen Fall wie hier gelten, in dem sich eine Partei über einen Zeitraum von knapp drei Monaten nach gewährter Akteneinsicht trotz (nachfolgender) mehrfacher, inhaltlich zutreffender Aufforderung überhaupt nicht am Verfahren beteiligt hat.

Schließlich hat der frühere Prozessbevollmächtigte des Klägers das Verfahren innerhalb der durch die Betreibungsaufforderung in Gang gesetzten Frist nicht betrieben.

Ob das weitere Verhalten des Klägers nach der Betreibensaufforderung als Betreiben zu qualifizieren ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Den Maßstab bildet insofern insbesondere die Betreibensaufforderung selbst. Je konkreter diese war, desto konkreter muss der Kläger vortragen. Schweigen stellt nie Betreiben dar (zum Vorstehenden BSG, Urteil vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 21 mit Nachweisen zur Rspr. des BVerwG).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat der vormalige Prozessbevollmächtigte des Klägers das Verfahren (von Beginn an) nicht betrieben. Bis zum Ablauf der gesetzten Frist am 24.11.2017 erfolgte keine Reaktion des Prozessbevollmächtigten. Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass ein entsprechender Entwurf der Klagebegründung vor Ablauf der Frist zwar dem Kläger am 29.9.2017 per E-Mail übersandt wurde, dies aber den Eingang bei Gericht nicht ersetzt. Im Ergebnis hat der Prozessbevollmächtigten des Klägers also mit Ausnahme der einleitenden Klageerhebung vom 28.4.2017 keine einzige Erklärung zur Sache oder zum Verfahren abgegeben, weder einen konkreten Antrag gestellt noch die Klage begründet.

Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Bei der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG handelt es sich um eine Ausschlussfrist, bei welcher eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allenfalls in Fällen höherer Gewalt in Betracht kommt, also bei Naturereignissen und anderen unabwendbaren Ereignissen (vgl. BSG, Beschluss vom 8.12.2020 - B 4 AS 280/20 B - juris Rn. 22 zu § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG; BVerwG, Beschluss vom 25.11.2002 - 8 B 112/02 - juris Rn. 2 f. zu § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Derartige Wiedereinsetzungsgründe sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193, 183 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Rechtskraft
Aus
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