Ein Versorgung mit Medizinal-Cannabis kommt in besonderen Fällen bei schwerwiegenden Erkrankungen unter den Voraussetzungen zum Zuge, dass die Krankheit lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt, keine andere Therapie verfügbar ist und nach den vorliegenden Forschungsergebnissen (innerhalb des Zulassungsverfahren aufgrund der klinischen Prüfung oder außerhalb dieses Verfahrens) die begründete Aussicht besteht, dass mit dem Arzneimittel ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 03.08.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
G r ü n d e :
I.
Streitig ist Rahmen eines Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz die Versorgung mit Medizinal-Cannabis.
Der Antragsteller, geboren 1966, leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einem arzneimittelinduzierten Tremor, Schmerzen in den Extremitäten nach einer im Jahr 2013 operativ versorgten cervikalen Spinal-Kanal-Stenose, Restless-Legs-Syndrom, einer rezidivierenden depressiven Störung sowie an Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr (BMI von 30 bis unter 35). Zuletzt stand er als Diplom-Chemiker bis 31.03.2015 in einem Beschäftigungsverhältnis als Pharmareferent.
In den Jahren 2005 und 2008 wurde er psychiatrisch stationär behandelt wegen einer paranoiden Psychose sowie Depressionen. In der Zeit vom 05.10. bis 13.10 2016 befand er sich auf Veranlassung des Rentenversicherungsträgers in einer stationären medizinischen Rehabilitation in der Argentalklinik 2 in Isny-Neutrauchburg. Von dort wurde er wegen mangelnder Rehafähigkeit vorzeitig nach Hause entlassen. Empfohlen wurde die Durchführung einer Psychotherapie. Aufgrund der Schmerzzustände wurden Opiate verordnet (Tramal), bekannt ist ein Schmerzmittel- und Opiatmissbrauch.
Am 28.01.2020 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Versorgung mit cannabishaltigen Arzneimitteln und legte einen Arztfragebogen des Facharztes für Allgemeinmedizin W. vom 12.02.2020 vor. Verordnet werden sollte Cannabis FLOS Bedrocan zur Inhalation, je nach Effekt 1-3 Gramm täglich. Behandelt werden soll das chronische Schmerzsyndrom mit dem Behandlungsziel einer Schmerzreduktion sowie einer Einsparung von Opiaten. Es handle sich um eine schwerwiegende Erkrankung mit einer starken Einschränkung der Teilnahme am täglichen Leben aufgrund der Schmerzen. Aktuell werde der Antragsteller behandelt mit Oxycodon und Pregabalin. Physiotherapie sowie Schmerztherapie hätten keinen durchschlagenden Erfolg gezeigt. Einer psychotherapeutischen Mitbehandlung sei der Antragsteller nicht zugeneigt.
Die Antragsgegnerin beauftragte am 12.02.2020 den MDK Bayern mit einem Gutachten zur Prüfung der Leistungsvoraussetzungen für die Versorgung mit Cannabinoiden und setzte mit Schreiben vom gleichen Tag den Antragsteller davon in Kenntnis.
Mit Bescheid vom 26.02.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Versorgung mit Medizinal-Cannabis ab mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung aus den zur Verfügung gestellten Unterlage nicht erkennbar seien.
Mit Email vom 10.03.2020 erhob der Antragsteller hiergegen Widerspruch unter Hinweis auf einen schwerwiegenden Schaden des Myelons. Unter dem 12.03.2020 gab der MDK Bayern eine gutachtliche Stellungnahme ab. Es sei davon auszugehen, dass beim Antragsteller ein komplexes Störungsbild mit psychischen und somatischen Faktoren vorliegt, welches zu einer nachhaltig beeinträchtigenden Lebensqualität führt. Die seit 2016 unveränderte Schmerzmedikation sowie die fehlenden Verordnungen von Heilmitteln seit 2015 lassen nicht erkennen, dass allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Leistungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch sei nicht nachvollziehbar, dass diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen nicht zur Anwendung kommen können. Die zwingende Notwendigkeit zur Versorgung mit einem nicht evidenzbasierten Einsatz von Medizinal-Cannabis sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht abzuleiten. Empfohlen werde eine multimodale Schmerztherapie, von dieser sei erfolgversprechende Behandlungsstrategie zu erwarten. Auch eine psychiatrische Abklärung und Mitbehandlung werde empfohlen.
Unter dem 18.03.2020 beauftragte die Antragsgegnerin erneut den MDK mit einer Begutachtung nach Aktenlage zu exakt denselben Fragen wie m vorigen Gutachtensauftrag. Unter dem 20.04.2020 bestätigte der MDK in einem sozialmedizinischen Gutachten das Ergebnis der Begutachtung vom 12.03.2020 mit dem Zusatz, dass zwar die sozialmedizinischen Voraussetzung für eine Cannabisversorgung nicht vorlägen, jedoch aus ärztlicher Sicht ein Therapieversuch mit Cannabis als erfolgversprechend gesehen werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2020 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück unter Bezugnahme auf die Gutachten des MDK.
Hiergegen hat der Kläger am 07.07.2020 Klage erhoben zum Sozialgericht München sowie einen Antrag gestellt auf einstweiligen Rechtsschutz. Bei einem chronischen Schmerzpatienten mit spastischer Parese durch Schaden im Myelon müssten Schmerzmittel, auch Cannabis unverzüglich eingesetzt werden. Daraufhin hat das Sozialgericht die Akten zu den Verfahren S 25 R 935/17 sowie S 25 R 1538/19 ER beigezogen. Die Antragsgegnerin hat Bezug genommen auf die Gutachten des MDK im Verwaltungsverfahren.
Nach richterlichem Hinweis, dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz keine Aussicht auf Erfolg habe, hat der Antragsteller nochmals ausgeführt, dass er an einer schwerwiegenden Erkrankung nach einer Dekompression einer hochgradigen Spinalkanalstenose leide. Das Gutachten von Dr. V. vom 10.11.2017 auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet, das im Rahmen eines rentenrechtlichen Rechtsstreits (S 25 R 935/17) eingeholt worden war, sei nicht zutreffend. Dort werde eine Polytoxikomanie beschrieben im Sinne von Drogenmissbrauch und Rauchen von Cannabis. Hierfür gebe es keine Beweise.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Eilrechtsschutz abgelehnt mit Beschluss vom 03.08.2020 und seine Entscheidung darauf gestützt, dass kein Anordnungsanspruch bestehe, da zunächst Therapiealternativen auszuschöpfen seien. Zudem bestehe ein Hinweis auf eine Missbrauchssyptomatik von Opioiden und Cannabis, dies sei eine potentielle Kontraindikation, zumal die vom Antragsteller begehrte Sorte Bedrocan über einen sehr hohen THC-Gehalt verfüge. Ob diese Kontraindikation tatsächlich vorliege, sei im Hauptsacheverfahren zu prüfen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers mit der er verweist auf eine Stellungnahme seines Hausarztes W. vom 17.08.2020. Darin stellt er nochmals den Krankheitsverlauf seit 2015 dar. Mit der Cannabisbehandlung solle eine Besserung der Schmerzproblematik erreicht werden, ohne eine Steigerung der Opiatdosis durchführen zu müssen. Das Vorliegen einer Kontraindikation erschließe sich nicht, die Schmerzen seien mit der jetzigen Therapie nicht ausreichend gelindert. Er bitte daher, dass wenigstens ein Versuch gewährt werde, mit einem Cannabisprodukt die Schmerzen zu behandeln, um damit eine Dosissteigerung des Opiats zu vermeiden. Vielleicht ließe sich auf diesem Wege sogar eine Herabsetzung der Opiatdosis erreichen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 03.8.2020 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren mit Bedrocan gem. Arztbrief vom 12.02.2020 zu versorgen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akten der Verfahren S 25 R 935/17 und S 25 R 1538/19 ER waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Ergänzend wird hierauf Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 172 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer. LSG, Beschluss vom 07. November 2019 - L 4 KR 397/19 B ER, Rn. 28 ,juris)
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 290 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Für die Glaubhaftigkeit genügt im Gegensatz zum Vollbeweis eine überwiegende Wahrscheinlichkeit. Dabei dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).
Zutreffend hat das Sozialgericht vor diesem Hintergrund den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, da ein Anordnungsanspruch nicht vorliegt. Gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG weist der Senat die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück.
Ergänzend weist der Senat unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten im Beschwerdeverfahren auf Folgendes hin:
Hinsichtlich des Vorliegens einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V beruft sich der Beschwerdeführer rechtlich zutreffend auf das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Die Voraussetzung einer "schwerwiegenden Erkrankung" im Sinne des § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V ist jedenfalls zu bejahen, wenn eine Erkrankung vorliegt, die dem Grunde nach einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V begründen kann. Darüber hinaus dürften auch solche Erkrankungen einen Leistungsanspruch begründen, die zu einer zulassungsüberschreitenden Anwendung berechtigen, also solche, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen (vgl. zum KassKomm-Nolte, SGB V, § 31 Rn. 20 und 75 d). § 31 Abs. 6 SGB V kommt in besonderen Fällen bei schwerwiegenden Erkrankungen unter den Voraussetzungen zum Zuge, dass die Krankheit lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt, keine andere Therapie verfügbar ist und nach den vorliegenden Forschungsergebnissen (innerhalb des Zulassungsverfahren aufgrund der klinischen Prüfung oder außerhalb dieses Verfahrens) die begründete Aussicht besteht, dass mit dem Arzneimittel ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (s. BSGE 89, 184 = SozR 3 - 2500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin(r); BSGE 97, 112 = SozR 4 - 2500 § 31 Nr. 5 Rn. 17 ff. - Ilomedin(r); BSG SozR 4 - 2500 § 31 Nr. 6 Rn. 10 ff. - Cabaseril(r); in allen Fällen jeweils verneint. Zum Ganzen: KassKomm-Nolte, a.a.O., Rn. 20).
Der MDK hat in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass bei dem Beschwerdeführer eine die Lebensqualität beeinträchtigende Erkrankung vorliegt. Allerdings bestehen Behandlungsoptionen im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie bzw. Psychotherapie, die bislang nicht ausgeschöpft sind, so dass nicht von dem Vorliegen einer ultima-ratio-Situation ausgegangen werden kann.
Es muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten sein, insbesondere durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären, ob in der Gesamtschau der Diagnosen und Behandlungen noch etablierte Maßnahmen zur Verfügung stehen, wie auch von Seiten des MDK angeregt. Der Senat bezieht sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf die hier vorliegenden mehrfachen Gutachten des MDK. Aus den medizinischen Unterlagen, insbesondere der Stellungnahme von dem Facharzt für Allgemeinmedizin W. geht keine plausible Einschätzung hervor, warum im Falle des Antragstellers etablierte Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen oder nicht durchgeführt werden können.
Ferner bestehen Hinweise auf den Missbrauch von Betäubungsmitteln. Sofern sich eine Suchterkrankung bestätigt, bestünde eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie, die im Rahmen der Entscheidung zu würdigen wäre. Da im Beschwerdeverfahren das Vorliegen einer Sucht oder eines Cannabismissbrauchs bestritten wird, bleibt auch diese Abklärung einer Kontraindikation dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Allerdings bestehen nach summarischer entscheidungserhebliche Anhaltspunkte für eine Kontraindikation.
Damit ist ein auf § 31 Abs. 6 SGB V gestützter Anordnungsanspruch nicht überwiegend wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes kann somit dahinstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar und beendet das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz.