1. Die Erbringung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Wege eines Überprüfungsverfahrens setzt für Anträge seit dem 1.4.2011 keine ununterbrochen bestehende Bedürftigkeit mehr voraus (Abgrenzung zu BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R = BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20).
2. Ein fortbestehender tatsächlicher Aufenthalt im Inland ist nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf Nachzahlung vorenthaltener Leistungen nach dem AsylbLG.
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit der Rechtsstreit die Zeit vom 1. Januar bis zum 27. Juni 2011 betrifft. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
G r ü n d e :
I
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Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 10.8.2009 bis zum 27.6.2011.
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Der 1966 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger. In der Zeit von Dezember 2003 bis Juni 2015 hielt er sich ‑ unterbrochen durch einen Aufenthalt in Pakistan vom 26.8.2010 bis zum 7.10.2010 ‑ in Deutschland auf. Bei Asylantragstellung gab er einen falschen Namen und einen falschen Geburtsort an. Nach Ablehnung seines Asylantrags 2004 wirkte er nicht an der Passbeschaffung mit. Aufgrund der Geburt seiner deutschen Tochter verfügte der Kläger seit dem 17.8.2010 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Seit 2015 lebt er wieder in Pakistan.
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Der Kläger erhielt von der Beklagten von Januar 2004 bis November 2011 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, und zwar ua für Oktober und November 2009, April bis Juni und August 2010 sowie Januar bis Mai 2011 auf Grundlage von Bewilligungsbescheiden (Bescheide vom 13.10.2009, 12.11.2009, 8.3.2010, 18.5.2010, 21.5.2010, 27.7.2010 und 18.4.2011) sowie für den übrigen streitgegenständlichen Zeitraum außer September 2010 durch Auszahlung der Leistungen. Die vom Kläger am 28.6.2011 beantragte Gewährung sog Analogleistungen nach § 2 AsylbLG lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 26.9.2011; Widerspruchsbescheid der Landesdirektion Sachsen vom 23.5.2012); das anschließende Klageverfahren endete mit einem Vergleich, in dem sich die Beklagte infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18.7.2012 zur Gewährung von höheren Leistungen für die Zeit vom 28.6.2011 bis 31.10.2011 verpflichtete. Am 31.1.2012 beantragte der Kläger die Überprüfung der Bescheide aus den Jahren 2009 und 2010 sowie vom 18.4.2011 im Hinblick auf die Gewährung von Analogleistungen für die Zeit vom 10.8.2009 bis zum 5.7.2011. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 23.5.2012; Widerspruchsbescheid der Landesdirektion Sachsen vom 24.9.2012).
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Klage und Berufung (beschränkt auf höhere Leistungen für die Zeit vom 10.8.2009 bis zum 27.6.2011) sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts <SG> Dresden vom 6.5.2014; Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts <LSG> vom 26.2.2020). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Klage sei wegen der Ausreise des Klägers sowohl unzulässig als auch unbegründet. Unbegründet sei die Klage zudem, weil der Kläger die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe und schließlich nicht von seiner fortbestehenden Hilfebedürftigkeit auszugehen sei.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 20 Abs 1 Grundgesetz (GG) und § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ‑ Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz ‑ (SGB X). Wegen des Rechtsstaatsprinzips könne die Ausreise nicht zum Erlöschen von Ansprüchen führen. Die Annahme, dass Asylbewerberleistungen im Überprüfungswege nur bei fortbestehender Hilfebedürftigkeit zu gewähren seien, stehe in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die auf das Asylbewerberleistungsrecht übertragbar sei. Seit der Geburt seiner Tochter könne ihm rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht mehr entgegengehalten werden.
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Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2020 und des Sozialgerichts Dresden vom 6. Mai 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. September 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Bescheide vom 13. Oktober 2009, 12. November 2009, 8. März 2010, 18. Mai 2010, 21. Mai 2010, 27. Juli 2010 und 18. April 2011 sowie die in den jeweiligen Auszahlungen liegenden Bewilligungen zu ändern und dem Kläger für die Zeit vom 10. August 2009 bis zum 27. Juni 2011 höhere Leistungen zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II
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Die zulässige Revision ist zum Teil im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>), im Übrigen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger im Zeitraum vom 1.1.2011 bis 27.6.2011 Anspruch auf höhere Asylbewerberleistungen hat; in Betracht kommen insoweit allerdings nur höhere Grundleistungen. Soweit der Rechtsstreit den Zeitraum vom 10.8.2009 bis zum 31.12.2010 betrifft, kann der Kläger höhere Leistungen schon deshalb nicht beanspruchen, weil ausgehend von der Stellung seines Überprüfungsantrags am 31.1.2012 die rückwirkende Zahlung von vorenthaltenen Leistungen nur für ein Jahr in Betracht kommt.
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Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 23.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2012 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger unter teilweiser Rücknahme der bestandskräftigen Bewilligungen für die Zeit ab 10.8.2009 höhere Leistungen zu gewähren, und zwar nach Beschränkung des Antrags im Klageverfahren nur noch für die Zeit bis 27.6.2011. Dabei ist nach dem sog Meistbegünstigungsprinzip (vgl nur BSG vom 10.3.1994 ‑ 7 RAr 38/93 ‑ BSGE 74, 77, 79 = SozR 3‑4100 § 104 Nr 11 S 46 f; BSG vom 10.11.2011 ‑ B 8 SO 18/10 R ‑ SozR 4‑3500 § 44 Nr 2 RdNr 13) davon auszugehen, dass der Kläger mit seinem Antrag auf Überprüfung der bestandskräftig gewordenen Entscheidungen höhere Leistungen unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt geltend gemacht und die Beklagte entsprechend umfassend entschieden hat. Es handelt sich (auch soweit die Überprüfung der Voraussetzungen von § 2 AsylbLG betroffen ist) bei zutreffender Auslegung um die Ablehnung eines Überprüfungsantrags wegen der Höhe eines dem Grunde nach zugestandenen Anspruchs (vgl BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8/9b AY 1/07 R ‑ BSGE 101, 49 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 2, RdNr 14; anders noch zum Verhältnis von Analogleistungen zu Grundleistungen BSG vom 8.2.2007 ‑ B 9b AY 1/06 R ‑ BSGE 98, 116 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 1, RdNr 14). Der Kläger verfolgt sein Begehren mit einer kombinierten Anfechtungs‑, Verpflichtungs‑ und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4, § 56 SGG), die auch bei Anwendung des § 44 SGB X im Höhenstreit zulässigerweise auf ein Grundurteil (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) gerichtet ist (vgl nur BSG vom 26.6.2013 ‑ B 7 AY 6/12 R ‑ BSGE 114, 20 = SozR 4‑3520 § 9 Nr 4, RdNr 9).
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Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Entgegen der Auffassung des LSG ist die Klage nicht dadurch unzulässig geworden, dass der Kläger während des Berufungsverfahrens nach Pakistan umgezogen ist. Ein tatsächlicher (und ggf fortbestehender) Aufenthalt im Inland ist im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) nicht Voraussetzung für das Rechtsschutzinteresse einer Klage auf Nachzahlung (rechtswidrig vorenthaltener) Leistungen nach dem AsylbLG im Wege eines Überprüfungsverfahrens. Soweit das LSG davon ausgeht, dass infolge der bloßen Ausreise ein Anspruch auf (höhere) Asylbewerberleistungen für Zeiträume vor der Ausreise nicht mehr geltend gemacht werden könne, verkennt es den verfassungsrechtlich vorgegebenen Maßstab, an dem das Rechtsschutzinteresse zu bestimmen ist, und misst § 1 Abs 1 AsylbLG, wonach die Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, eine Bedeutung zu, die die Norm nicht hat. § 1 Abs 1 AsylbLG regelt allein die Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG dem Grunde nach (vgl BT‑Drucks 12/4451 S 7).
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Das Rechtsschutzbedürfnis, also ein berechtigtes Interesse, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen, ist Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage. Es muss noch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehen und ist auch vom Rechtsmittelgericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl etwa BSG vom 22.3.2012 ‑ B 8 SO 24/10 R ‑ NZS 2012, 798 = juris RdNr 10 mwN); dadurch sollen zweckwidrige Prozesse verhindert und eine unnötige Inanspruchnahme des Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte vermieden werden. Bei Leistungsklagen folgt das Vorhandensein des Rechtsschutzinteresses regelmäßig bereits aus dem Umstand, dass ein Kläger einen auf Leistung an sich selbst gerichteten, bislang nicht erfüllten Anspruch geltend macht. Gewährt die Rechtsordnung ein materielles Recht, erkennt sie in aller Regel auch das Interesse am gerichtlichen Rechtsschutz dessen an, der sich als der Inhaber dieses Rechtes sieht (vgl Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 17.1.1989 ‑ 9 C 44.87 ‑ BVerwGE 81, 164 = Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr 9 = juris RdNr 9; Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl 2018 § 42 RdNr 335). Mit der bloßen Ausreise eines Klägers aus dem Bundesgebiet ‑ bei fortbestehender Erreichbarkeit für die Gerichte ‑ entfällt das Rechtsschutzbedürfnis nicht (vgl bereits BVerwG vom 17.1.1989 ‑ 9 C 44.87 ‑ BVerwGE 81, 164 = Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr 9; Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl 2018 § 42 RdNr 351; anders ggf, wenn ein Asylsuchender seit längerem "untergetaucht" und nicht erreichbar ist, vgl BVerwG vom 6.8.1996 ‑ 9 C 169.95 ‑ BVerwGE 101, 323 = Buchholz 402.25 § 6 AsylVfG Nr 7 = juris RdNr 12; vgl auch W.‑R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl 2021, Vorb § 40 RdNr 54). Dies gebietet auch Art 19 Abs 4 Satz 1 GG (vgl Hessisches LSG vom 21.12.2007 ‑ L 6 AY 4/07 NZB ‑ juris RdNr 8 f). Die sich bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende allgemeine Forderung nach einem angemessenen Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt wird durch diese Verfassungsnorm konkretisiert. Der von Art 19 Abs 4 GG ‑ auch Ausländern (vgl BVerfG vom 18.7.1973 ‑ 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 ‑ BVerfGE 35, 382 = NJW 1974, 227) ‑ gewährleistete substantielle Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; die Einlegung von Rechtsmitteln darf nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden (vgl BVerfG vom 18.7.1973 ‑ 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 ‑ BVerfGE 35, 382 = NJW 1974, 227 = juris RdNr 53; BVerfG vom 29.10.1975 ‑ 2 BvR 630/73 ‑ BVerfGE 40, 272 = NJW 1976, 141 = juris RdNr 11; BVerfG vom 17.3.1988 ‑ 2 BvR 233/84 ‑ BVerfGE 78, 88 = NVwZ 1988, 718 = juris RdNr 24). Ein fortbestehender Aufenthalt im Bundesgebiet während einer nicht absehbaren gerichtlichen Verfahrensdauer wäre eine solche unzulässige außerprozessuale Bedingung. Berechtigte Ansprüche auf Leistungen, bezogen auf Leistungszeiträume vor der Ausreise, erlöschen nicht mit der bloßen Ausreise; rechtswidrig abgelehnte Ansprüche nach dem AsylbLG ‑ bezogen auf die Zeit des Aufenthalts im Bundesgebiet ‑ können deshalb auch nach der Ausreise weiterverfolgt werden.
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Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme der Bewilligungsentscheidungen ist § 9 Abs 3 AsylbLG (idF der Bekanntmachung vom 5.8.1997 <BGBl I 2022>, im Folgenden alte Fassung <aF>) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB X, der zur Korrektur bestandskräftiger, rechtswidriger Leistungsablehnungen im Asylbewerberleistungsrecht anwendbar ist (vgl nur BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8 AY 5/07 R ‑ SozR 4‑3520 § 9 Nr 1 RdNr 12 ff). Ob die Beklagte in formeller Hinsicht die für die Rücknahme sachlich und örtlich zuständige Behörde ist (§ 44 Abs 3 Halbsatz 1 SGB X; vgl dazu BSG vom 26.6.2013 ‑ B 7 AY 3/12 R ‑ InfAuslR 2014, 13; BSG vom 23.5.2012 ‑ B 14 AS 133/11 R ‑ SozR 4‑1300 § 44 Nr 25 RdNr 13 mwN), kann der Senat auf Grundlage der Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Dies mag das LSG noch überprüfen.
14 |
Nach § 44 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind; Sozialleistungen sind dann für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor dem Antrag auf Rücknahme zu erbringen. Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht (§ 9 Abs 3 AsylbLG aF iVm § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X); dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs 4 Satz 3 SGB X). Für Anträge, die ‑ wie hier ‑ nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, verkürzt sich die Vier‑Jahres‑Frist entsprechend § 116a iVm § 136 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch ‑ Sozialhilfe ‑ (SGB XII; jeweils idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453), die bereits vor der Anpassung in § 9 Abs 4 Satz 2 AsylbLG mit dem Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014 (BGBl I 2187) entsprechend anwendbar waren, aber auf ein Jahr (vgl BSG vom 26.6.2013 ‑ B 7 AY 6/12 R ‑ BSGE 114, 20 = SozR 4‑3520 § 9 Nr 4, RdNr 12 ff).
15 |
Für die Zeit vor dem 1.1.2011 kann der Kläger keine höheren Leistungen erhalten, weil der genannte Zeitraum ausgehend von einer Antragstellung am 31.1.2012 außerhalb der Jahresfrist liegt, für die Leistungen rückwirkend zu erbringen sind. Eine isolierte Rücknahme des Bescheids iS von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X kommt dann nicht in Betracht (vgl BSG vom 29.9.2009 ‑ B 8 SO 16/08 R ‑ BSGE 104, 213 = SozR 4‑1300 § 44 Nr 20, RdNr 22).
16 |
Soweit der Rechtsstreit die Zeit vom 1.1.2011 bis zum 27.6.2011 betrifft, kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger Anspruch auf teilweise Rücknahme der Bewilligungen und Gewährung höherer Leistungen hat.
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Die nachträgliche Erbringung von Leistungen im Rahmen von § 44 Abs 4 SGB X setzt insoweit nicht voraus, dass beim Kläger Bedürftigkeit iS des AsylbLG oder des SGB XII bzw des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch ‑ Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ununterbrochen bis zur letzten mündlichen Verhandlung beim LSG fortbestand. Nach der Rechtsänderung zum 1.4.2011 und der Verkürzung der nachträglichen Leistungserbringung auf ein Jahr, hält der Senat in Fällen einer Antragstellung nach § 44 SGB X nach dem 31.3.2011 an der zur früheren Rechtslage im SGB XII und AsylbLG ergangenen Rechtsprechung des 7. und 8. Senats des BSG nicht mehr fest. Danach genügte es für einen Anspruch auf rückwirkende Erbringung von Leistungen über § 44 SGB X weder im SGB XII noch im AsylbLG, dass bei Erlass der bestandskräftigen Verwaltungsakte Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Unter Berücksichtigung des § 44 Abs 4 SGB X ("nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs", also des SGB XII bzw des AsylbLG) war vielmehr den Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts dahin Rechnung zu tragen, dass die Leistungen nach dem AsylbLG und dem SGB XII nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen (sog Gegenwärtigkeitsprinzip oder auch Aktualitätsgrundsatz) und deshalb für zurückliegende Zeiten nur dann zu erbringen waren, wenn die Leistungen ihren Zweck noch erfüllen konnten, weil ununterbrochen bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz Bedürftigkeit bestand (stRspr seit BSG vom 29.9.2009 ‑ B 8 SO 16/08 R ‑ BSGE 104, 213 = SozR 4‑1300 § 44 Nr 20, RdNr 21; vgl BSG vom 9.6.2011 ‑ B 8 AY 1/10 R ‑ SozR 4‑1300 § 44 Nr 22 RdNr 20; BSG vom 20.12.2012 ‑ B 7 AY 4/11 R ‑ SozR 4‑3520 § 3 Nr 3 RdNr 14; BSG vom 26.6.2013 ‑ B 7 AY 3/12 R ‑ InfAuslR 2014, 13 RdNr 13; BSG vom 17.12.2015 ‑ B 8 SO 24/14 R ‑ SozR 4‑3500 § 116a Nr 2 RdNr 16; vgl auch BVerfG vom 7.2.2012 ‑ 1 BvR 1263/11 ‑ juris RdNr 16).
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An den Gedanken des Gegenwärtigkeitsprinzips schließt auch die gesetzgeberische Entscheidung an, mWv 1.4.2011 im SGB XII und im SGB II und nachfolgend mWv 1.3.2015 auch in § 9 Abs 4 AsylbLG festzulegen, dass nach erfolgreichen Überprüfungsverfahren Leistungen längstens bis zum Beginn des Jahres rückwirkend zu erbringen sind, das dem Jahr der Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes oder der darauf gerichteten Antragstellung vorausgegangen ist. Die Änderungen in § 40 Abs 1 SGB II und in § 116a SGB XII (vgl Art 2 Nr 32 und Art 3 Nr 35 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453) hat der Gesetzgeber damit begründet, die Funktion des § 44 SGB X, im Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit und dem Interesse des Leistungsberechtigten an materieller Gerechtigkeit einen Ausgleich für den Fall herzustellen, dass eine Verwaltungsentscheidung zum Nachteil des Leistungsberechtigten rechtswidrig ist, sei auch im Existenzsicherungsrecht unverzichtbar. Die Vierjahresfrist sei allerdings für steuerfinanzierte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vor dem Hintergrund des Aktualitätsgrundsatzes zu lang und eine kürzere Frist von einem Jahr sach‑ und interessengerecht (vgl BT‑Drucks 17/3404 S 114 und S 129; zu § 9 Abs 4 Satz 2 AsylbLG vgl BT‑Drucks 18/2592 S 3 und S 28, "Gleichlauf mit den entsprechenden Regelungen im SGB II und SGB XII"). Damit hat der Gesetzgeber eine Harmonisierung der drei Existenzsicherungssysteme herbeigeführt und dabei vor dem Hintergrund des Gegenwärtigkeitsprinzips einheitliche, aus seiner Sicht sach- und interessengerechte Regelungen bezüglich der nachträglichen Leistungserbringung geschaffen. Diese Regelungen versteht der Senat aber als abschließend (vgl dazu auch Scheider in Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl 2020, § 116a RdNr 15; Coseriu in jurisPK‑SGB XII, 3. Aufl 2020, § 18 RdNr 59, Stand Februar 2020; Schiller in jurisPK‑SGB XII, 3. Aufl 2020, § 116a RdNr 37, Stand 18.5.2020; Siefert in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl 2020, § 9 RdNr 30; zu § 40 SGB II etwa BSG vom 4.4.2017 ‑ B 4 AS 6/16 R ‑ BSGE 123, 76 = SozR 4‑4200 § 40 Nr 12, RdNr 18 ff mit Anm Hengelhaupt, jurisPR‑SozR 2/2018 Anm 1; aA Cantzler in Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 2019, § 9 RdNr 46 f).
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Ein Anspruch auf teilweise Rücknahme der ursprünglichen Leistungsbewilligungen für die Zeit ab dem 1.1.2011 und die Gewährung höherer Leistungen folgt ‑ entgegen der Auffassung des Klägers ‑ nicht aus § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 2 Abs 1 AsylbLG (idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts‑ und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970, im Folgenden aF). Ob die Summe denkbarer Analogleistungen die dem Kläger gewährten Grundleistungen übersteigt, kann dabei dahinstehen. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für Analogleistungen nicht. Nach § 2 Abs 1 AsylbLG aF ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Kläger hat die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.
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Rechtsmissbräuchlich iS von § 2 Abs 1 AsylbLG aF ist ein Verhalten, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8/9b AY 1/07 R ‑ BSGE 101, 49 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 2, RdNr 31 ff; im Einzelnen auch BSG vom 24.6.2021 ‑ B 8 AY 4/20 R). Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes und Angabe einer falschen Identität als typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs an (BT‑Drucks 15/420 S 121).
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So liegt der Fall hier. Durch die Angabe eines falschen Namens und eines falschen Geburtsorts hat der Kläger auch die Dauer seines Aufenthalts selbst beeinflusst. Es genügt, wenn bei abstrakt-genereller Betrachtungsweise das Verhalten typischerweise geeignet ist, die Aufenthaltsdauer zu verlängern. Das gilt nur dann nicht, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8/9b AY 1/07 R ‑ BSGE 101, 49 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 2, RdNr 44; BSG vom 2.2.2010 ‑ B 8 AY 1/08 R ‑ juris RdNr 12). Falsche Angaben zur Identität sind bei abstrakt‑genereller Betrachtung typischerweise geeignet, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, schon weil sie aufenthaltsbeendende Maßnahmen erschweren, wenn nicht vereiteln. Eine etwaige Ausreisepflicht des Klägers hätte ohne das rechtsmissbräuchliche Verhalten jedenfalls während Teilen der seit dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten vergangenen Zeit auch vollzogen werden können. Gegen die Feststellungen des LSG, der Kläger habe im Asylverfahren eine falsche Identität genutzt, hat der Kläger zulässige Rügen im Revisionsverfahren nicht erhoben. Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat für den Senat auch bindend festgestellt, dass gesundheitliche Gründe einer Ausreise nicht entgegenstanden.
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In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass dem Kläger Vorsatz zur Last fällt, der sich sowohl auf das rechtsmissbräuchliche Verhalten als auch auf die Verlängerung der Aufenthaltsdauer beziehen muss (BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8/9b AY 1/07 R ‑ BSGE 101, 49 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 2, RdNr 39). Dies ist nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ebenfalls der Fall.
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Eine mögliche rechtsmissbräuchliche Aufenthaltsverlängerung ist nicht deshalb unbeachtlich, weil der Kläger Vater einer Tochter mit deutscher Staatsangehörigkeit ist. Der Ausschluss von Analogleistungen wegen rechtsmissbräuchlicher Aufenthaltsverlängerung wirkt während des gesamten Leistungsfalls; eine zwischenzeitliche Integration ist unbeachtlich (BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8/9b AY 1/07 R ‑ BSGE 101, 49 = SozR 4‑3520 § 2 Nr 2, RdNr 41; BSG vom 17.6.2008 ‑ B 8 AY 11/07 R ‑ juris RdNr 14). Ob daran uneingeschränkt festzuhalten ist, kann hier dahinstehen (zweifelnd Oppermann/Filges in jurisPK‑SGB XII, 3. Aufl 2020, § 2 AsylbLG RdNr 118, Stand 5.1.2021; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl 2020, § 2 AsylbLG RdNr 31). Für Fallgestaltungen wie die vorliegende hat der Gesetzgeber ohnehin durch die zeitlich nur beschränkte Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG im Anschluss an die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG (vgl § 1 Abs 1 Nr 3 Buchst c AsylbLG idF des Gesetzes vom 10.12.2014) an dieser Rechtsfolge so nicht festgehalten. Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen ergeben sich seither für den betroffenen Personenkreis nach Ablauf von 18 Monaten unmittelbar aus dem SGB II bzw dem SGB XII. Die Ablehnung von höheren Leistungen auf Grundlage von § 2 Abs 1 AsylbLG aF ist hier aber vor dem 31.7.2012 bestandskräftig geworden. Eine ggf vorliegende Verkürzung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) ist nach Ziff 3 Buchst e des Tenors des Urteils des BVerfG vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 ‑ BVerfGE 132, 134 RdNr 113 = SozR 4‑3520 § 3 Nr 2 RdNr 139-140) bis zu diesem Zeitpunkt übergangsweise hinzunehmen.
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Der Senat kann allerdings nicht beurteilen, ob ein Anspruch auf höhere Grundleistungen nach § 3 AsylbLG besteht. Das LSG hat keine für eine abschließende Entscheidung ausreichenden Feststellungen zur Hilfebedürftigkeit (Wohnverhältnisse, Einkommen, Vermögen) des Klägers getroffen. Der Senat weist darauf hin, dass ein Anspruch auf höhere Grundleistungen nicht deshalb besteht, weil dem Kläger für die Zeit vom 1.1.2011 bis zum 27.6.2011 Leistungen in einer Höhe gewährt worden sind, die das BVerfG für verfassungswidrig erklärt hat (BVerfG vom 18.7.2012 ‑ 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 ‑ BVerfGE 132, 134 = SozR 4‑3520 § 3 Nr 2). In Bezug auf den Regelungsgegenstand seiner Entscheidung hat das BVerfG die Anwendung des § 44 SGB X für Zeiträume bis Ende Juli 2012 ausgeschlossen (vgl BVerfG vom 18.7.2012 ‑ 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 ‑ BVerfGE 132, 134 RdNr 113 = SozR 4‑3520 § 3 Nr 2 RdNr 139-140). Nach Ziff 3 Buchst e des Tenors können nur solche Leistungsberechtigte in der Zeit bis 31.7.2012 höhere Leistungen nach Maßgabe der Übergangsregelung des BVerfG beanspruchen, bei denen ‑ anders als vorliegend ‑ die Bewilligungsentscheidung nicht vor diesem Zeitpunkt bestandskräftig geworden ist. Die Stellung eines Überprüfungsantrags allein wahrt diese Frist nicht.
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.