1. Der als Wiedereinsetzungsgrund angegebene Sachverhalt muss im Beweismaßstab der Glaubhaftmachung nachgewiesen sein.
2. Bei der Prüfung einer Wiedereinsetzung gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.
3. Wer mit der Zustellung einer gerichtlichen Entscheidung in seinem Urlaub rechnen musst, hat entsprechende Vorkehrunge zu treffen, um ein Fristversäumnis zu verhindern.
4. Ein während der Rechtsmittelfrist wieder weggefallener Hindernisgrund kann dann zu einer Wiedereinsetzung führen, wenn die nach seinem Wegfall verbliebene Restfrist für eine angemessene Überlegung und Beratung nicht ausreicht. Dies setzt aber voraus, dass dem die Frist Versäumenden kein Verschulden an diesem Hindernisgrund trifft.
5. Das Verschulden seines Bevollmächtigten muss sich ein Beteiligter zurechnen lassen.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.05.2019 wird als unzulässig verworfen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Streitig ist die Anerkennung von Folgen eines Arbeitsunfalls vom 10.04.2015.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) München vom 09.05.2019, zu der der Kläger samt seinem anwaltlichen Bevollmächtigten erschienen war, ist die gegen den Bescheid vom 01.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2016 gerichtete Klage abgewiesen worden.
Das schriftlich abgefasste Urteil ist dem Bevollmächtigten des Klägers mittels Empfangsbekenntnis am 29.05.2019 zugestellt worden.
Am 03.07.2019 hat der Kläger selbst zu Protokoll des Bayer. Landessozialgerichts (LSG) Berufung eingelegt. Dabei hat er erklärt, dass ihm das Urteil des SG am 01.07.2019 mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 12.06.2019 formlos per Post übermittelt worden sei. Gleichzeitig hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dies wie folgt begründet: Er sei vom 15.06.2019 bis zum 30.06.2019 in Ungarn in Urlaub gewesen und habe dort seine Freundin und Freunde besucht. Sein Bevollmächtigter hätte ihn anrufen können, habe dies aber nicht getan. Vor seiner Abreise sei nichts im Briefkasten gewesen. Er könne nicht sagen, wann der Bevollmächtigte ihm das Urteil geschickt habe, das Schreiben datiere vom 12.06.2019. Der Kläger hat mitgeteilt, dass er sich von seinem Bevollmächtigten im erstinstanzlichen Verfahren nicht weiter vertreten lassen wolle, er möchte dies selbst tun. Vorgelegt hat der Kläger das Schreiben seines ehemaligen Bevollmächtigten vom 12.06.2019, mit dem dieser dem Kläger das vollständige Urteil des SG München vom 09.05.2019 übermittelt hatte. Der Rechtsanwalt hatte darin darauf hingewiesen, dass er, der Rechtsanwalt, das Urteil am 29.05.2019 erhalten habe, sodass die Möglichkeit bestehe, "zumindest bis 28.06.2019 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht" einzulegen, wobei die Berufungsschrift innerhalb der Frist beim Bayer. LSG eingegangen sein müsse, um die Frist einhalten zu können. Ohne ausdrücklichen Auftrag - so der Bevollmächtigte weiter - werde von ihm keine Berufung eingelegt werden. Im Übrigen hat der Bevollmächtigte auf die Rechtsmittelbelehrung am Ende des Urteils verwiesen.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 18.07.2019 ist der Kläger um Vorlage aussagekräftiger Nachweise für seinen Urlaub und um Mitteilung gebeten worden, ob er besondere Vorsorge hinsichtlich seiner Post oder seiner Erreichbarkeit für seinen Prozessbevollmächtigten getroffen habe.
Nachdem eine Reaktion des Klägers nicht erfolgt war, ist der Kläger mit richterlichem Schreiben vom 16.07.2020, zugestellt am 17.07.2020, darauf hingewiesen worden, dass nach derzeitigem Verfahrensstand seine Berufung als unzulässig, weil verfristet, zurückzuweisen sei. Da seinem Bevollmächtigten das Urteil am 21.05.2019 zugestellt worden sei, habe die Frist zur Einlegung der Berufung am Montag, den 01.07.2019, 24:00 Uhr, geendet. Unabhängig davon, dass der Kläger während seiner urlaubsbedingten Abwesenheit dafür hätte Sorge tragen müssen, dass er über rechtserhebliche Schreiben Kenntnis erlange, um gegebenenfalls rechtzeitig reagieren zu können, hätte er auch nach seiner Urlaubsrückkehr am Montag, 01.07.2019, ausreichend Zeit gehabt, fristwahrend Berufung einzulegen. Unter Hinweis auf § 106a Abs. 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme und Vorlage von Beweismitteln binnen vier Wochen ab Zugang des gerichtlichen Schreibens gegeben worden. Im Übrigen ist dem Kläger anheimgestellt worden, die Berufung zurückzunehmen.
Nachdem auch hierauf keine Reaktion des Klägers erfolgt war, ist er mit weiteren richterlichen Schreiben vom 11.11.2021 und 18.11.2021 zur Absicht des Gerichts angehört worden, durch Beschluss, also ohne mündliche Verhandlung, gemäß § 158 Satz 2 SGG zu entscheiden.
Die Kläger beantragt (zu Protokoll des Bayer. LSG am 03.07.2019),
ihm Wiedereinsetzung für das Berufungsverfahren zu gewähren, das Urteil des SG München vom 09.05.2019 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides vom 01.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2016 festzustellen, dass die Beschwerden an der rechten Schulter, am rechten Ellenbogen, am rechten Knie, die Kopfschmerzen und der Schwindel Folgen des Arbeitsunfalls vom 10.04.2015 sind.
Die Beklagte beantragt (Schriftsatz vom 23.07.2019),
die Berufung zurückzuweisen.
Vorgelegen hat neben der Akte des Bayer. LSG die Klageakte des SG. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten verwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Der Senat hat im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch Beschluss gemäß § 158 Satz 2 SGG zu entscheiden. Einer mündlichen Verhandlung bedurfte es nicht. Die Beteiligten sind mit Schreiben des Gerichts vom 11.11.2021 und 18.11.2021 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss angehört worden und haben keine Einwände erhoben. Es ist auch nichts erkennbar, was Anlass dafür gäbe, eine mündliche Verhandlung für angezeigt zu halten. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass sich bei einer mündlichen Verhandlung neue Erkenntnisse ergeben könnten, die eine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach sich ziehen könnten. Gäbe es noch für den Kläger günstige Tatsachen und Beweismittel, hätte er diese sicherlich umgehend nach dem gerichtlichen Schreiben vom 16.07.2020 vorgelegt, weil ihm nach diesem Schreiben klar sein musste, dass er umgehend zu handeln habe, um ein Verlieren im Berufungsverfahren zu vermeiden. Schließlich hat auch der Kläger selbst offensichtlich kein Bedürfnis, sich gegenüber dem Gericht nochmals, auch nicht in einer mündlichen Verhandlung, zu äußern. Darauf deutet jedenfalls hin, dass er zuletzt wiederholt auf gerichtliche Schreiben nicht geantwortet hat.
Die Berufung ist unzulässig, weil sie nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt worden und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren ist.
1. Berufung verfristet
Der Kläger hat seine Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt.
Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung beim LSG bei Zustellung der angefochtenen Entscheidung im Inland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist gemäß § 151 Abs. 2 SGG auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle eingelegt wird. Unter den Voraussetzungen des § 65a SGG ist auch eine Einlegung der Berufung in elektronischer Form möglich.
Gemäß § 64 Abs. 1 SGG beginnt die Berufungsfrist mit der Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung zu laufen. Voraussetzung für einen Fristbeginn ist gemäß § 66 Abs. 1 SGG, dass der Beteiligte über das mögliche Rechtsmittel, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, seinen Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Die Zustellung hat gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) zu erfolgen. Bei einem anwaltlichen Bevollmächtigten kann die Zustellung gemäß § 174 Abs. 1 ZPO gegen Empfangsbekenntnis erfolgen.
Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG endet die einmonatige Berufungsfrist mit dem Ablauf desjenigen Tages des nächsten Monats, welcher nach der Zahl dem Tag entspricht, an dem die Zustellung erfolgt ist. Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Samstag, so endet die Frist gemäß § 64 Abs. 3 SGG mit Ablauf des nächsten Werktages.
Im vorliegenden Fall ist die Zustellung des mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehenen Urteils vom 09.05.2019 an den damaligen Bevollmächtigten des Klägers laut Empfangsbekenntnis am 29.05.2019 erfolgt. Der Kläger hätte damit - gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGG - bis zum 01.07.2019 (Montag), 24:00 Uhr, Zeit gehabt, mit Einlegung der Berufung beim SG oder LSG die Berufungsfrist zu wahren. Der Kläger hat aber erst am 03.07.2019 (Mittwoch) zu Protokoll beim LSG Berufung eingelegt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Berufungsfrist bereits abgelaufen war.
2. Keine Wiedereinsetzung
Dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG zu gewähren. Denn ein Wiedereinsetzungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht.
§ 67 SGG sieht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, sofern der Antrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt und die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft gemacht worden sind sowie innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung nachgeholt worden ist. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG ist auch eine Wiedereinsetzung von Amts wegen möglich (§ 67 Abs. 2 Satz 4 SGG). Darüber hinaus darf seit dem Ende der versäumten Frist nicht bereits ein Jahr vergangen sein, außer wenn der Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich gewesen ist (vgl. § 67 Abs. 3 SGG).
Verschulden bedeutet gemäß § 276 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Von fehlendem Verschulden betreffend die Fristeinhaltung ist daher dann auszugehen, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt nicht außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten ist (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 27.05.2008, B 2 U 5/07 R). Dabei ist im sozialgerichtlichen Verfahren als Sorgfaltsmaßstab - anders im zivilgerichtlichen Verfahren (dort: objektiver Maßstab - vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 233, Rdnr. 12; Bundespatentgericht München, Beschluss vom 11.10.2016, 27 W (pat) 554/16; Bundesgerichtshof - BGH -, Beschluss vom 03.11.1971, IV ZB 43/71) - ein subjektiver, auf die Person des Antragstellenden bezogener Maßstab anzulegen, bei dem insbesondere dessen Erkenntnisvermögen (Geisteszustand, Alter, Bildungsgrad, Geschäftsgewandtheit, Rechtserfahrenheit) zu berücksichtigen ist (vgl. BSG, Urteile vom 15.08.2000, B 9 VG 1/99 R, und vom 02.02.2006, B 10 EG 9/05; Senger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. Stand: 27.07.2021, § 67, Rdnr. 28; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 67, Rdnr. 3; Wolff-Dellen, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 67, Rdnr. 4; anders bei einer Entscheidung nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.07.2012, L 18 SF 391/11 E).
"Ohne Verschulden verhindert ..., eine gesetzliche Frist einzuhalten" (§ 67 Abs. 1 SGG), ist nach der Rspr. des BSG ein Prozessbeteiligter aber auch dann, "wenn ein solches Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist bzw ihm nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre" (wortgleich BSG, Urteil vom 30.01.2002, B 5 RJ 10/01 R, und Beschluss vom 20.12.2011, B 4 AS 161/11 B; vgl. auch BSG [Großer Senat], Beschluss vom 10.12.1974, GS 2/73; a.A. Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 25.11.1977, V C 12.77: "An der Kausalität und der Vorwerfbarkeit seines Verhaltens ändert sich nichts dadurch, daß ein späteres Verhalten eines Dritten, sei es schuldhaft gewesen oder nicht, für die Fristversäumnis ebenfalls kausal war (dergestalt, daß dieser Dritte die vom Kläger schuldhaft verursachte Fristversäumnis noch hätte verhindern können). Die Wiedereinsetzung ist auch zu versagen, wenn das Verschulden der Partei mit ursächlich dafür blieb, daß die Frist versäumt worden ist; denn nach Wortlaut und Sinn des § 60 Abs 1 VwGO genügt ein Mitverschulden der Partei, um eine Wiedereinsetzung auszuschließen (zutreffend Redeker, Anm zu dem Vorlagebeschluß des 12. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 23. November 1973 "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1974, 240)."). Das BSG orientiert sich in den zitierten Entscheidungen ("aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich") offenbar an den Grundsätzen, wie sie zur Kausalität entwickelt worden sind, nimmt aber in Fällen, in denen es mehrere Ursachen für die Fristversäumnis, nämlich das Verschulden des die Frist Versäumenden einerseits und das der dritten Stelle andererseits, als ursächlich ansieht, keine tiefergehende Prüfung der Wesentlichkeit der Mitursachen (vgl. zum Begriff der [Mit-]Ursächlichkeit: Bayer. LSG, Urteil vom 07.09.2021, L 20 KR 286/19) vor. Vielmehr geht das BSG - in Abweichung von der sonst üblichen und gebotenen sozialrechtlichen Handhabung - schon dann davon aus, dass das Verschulden des Antragstellers für die Fristversäumnis keine wesentliche (Mit-)Ursache mehr darstellt, wenn der weitere Umstand als ursächlich im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie für die Fristversäumnis zu betrachten ist (sogenannte conditio sine qua non). Die Regeln der Theorie der wesentlichen Bedingung und der Abgrenzung bei mehreren Mitursachen werden aus nicht offengelegten und auch nicht auf der Hand liegenden Gründen unbeachtet gelassen.
Seine - im Vergleich mit dem BVerwG - großzügige Rechtsprechung hat das BSG mit der besonderen, nicht nur materiell-rechtlichen, sondern auch prozessualen Schutzbedürftigkeit des vor den Sozialgerichten klagende Personenkreises begründet (vgl. BSG, Beschluss vom 10.12.1974, GS 2/73) und aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2002, B 5 RJ 10/01 R). Danach - so das BSG - stehe eine vom Antragsteller verschuldete Fristversäumnis nur dann einer Wiedereinsetzung entgegen, wenn die Fristversäumnis nicht durch ein pflichtgemäßes Verhalten einer "anderen Stelle" (BSG, Beschluss vom 10.12.1974, GS 2/73) hätte verhindert werden können. Unter einer anderen Stelle hat das BSG im Beschluss vom 10.12.1974, GS 2/73 ein unzuständiges Gericht, aber auch eine "unzuständige Behörde oder Verwaltungsstelle" genannt, ohne dass differenziert worden wäre, ob für die unzuständige Stelle auch eine (gesetzliche) Pflicht zur Weiterleitung besteht. In späteren Entscheidungen hat das BSG dann unter dem Begriff der anderen Stelle nur noch die Gerichte genannt und dies mit einer aus der prozessualen Fürsorgepflicht resultierenden Weiterleitungspflicht begründet (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 20.03.2019, B 1 KR 7/18 B - m.w.N.). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren - so das BSG in den Beschlüssen vom 31.10.2012, B 13 R 165/12 B, und vom 31.03.2015, B 12 KR 84/13 B - dürfe ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Beteiligten des Gerichtsverfahrens ableiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.02.1982, 1 BvR 1379/80) und sei zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.04.1988, 1 BvR 669/87). Dementsprechend sei Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruhe, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht lägen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.06.1995, 1 BvR 166/93). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts bestehe immer dann, wenn es darum gehe, einen Beteiligten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter könne daher erwarten, dass offenkundige Versehen in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen würden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (vgl. BSG, Beschluss vom 10.12.1974, GS 2/73). Welche Gerichte eine solche Fürsorgepflicht trifft, ist den Entscheidungen des BSG nicht eindeutig zu entnehmen; die vom BVerfG im Beschluss vom 20.06.1995, 1 BvR 166/93, gesehene Fürsorgepflicht betrifft jedenfalls nur das vorbefasste Gericht (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 03.01.2001, 1 BvR 2147/00). Von einer Weiterleitungspflicht geht das BVerfG aber auch dann aus, wenn "eine leicht und einwandfrei als fehlgeleitet erkennbare Rechtsbehelfsschrift" (BVerfG, Beschluss vom 17.01.2006, 1 BvR 2558/05) vorliegt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 02.09.2002, 1 BvR 476/01.
Bei der Rechtsfindung kommt es gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG ("Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden") auf den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung an. Glaubhaftmachung in diesem Sinne bedeutet, dass nicht die beim Vollbeweis geforderte, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss, sondern dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht (vgl. BSG, Beschluss vom 11.11.2003, B 2 U 293/03 B - m.w.N.; Bayer. LSG, Beschlüsse vom 13.11.2012, L 15 SF 168/12 - mit eingehender Differenzierung zwischen der Glaubhaftmachung im Sinne der vom Antragsteller im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags zu leistenden Glaubhaftmachung einerseits und des vom Gericht bei den Ermittlungen von Amts wegen zu beachtenden Beweismaßstabs andererseits - unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 09.07.1969, 2 BvR 753/68, und vom 05.02.2020, L 20 KR 451/16 NZB; zum Grundsatz der Amtsermittlung bei einem Wiedereinsetzungsantrag vgl. auch BSG, Urteil vom 24.10.1957, 10 RV 285/55). Zu berücksichtigen bei der Prüfung der Wiedereinsetzung ist, dass es der in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt und der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gebieten, dass die Anforderungen an die Wiedereinsetzung im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung im Sinn des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG bei der Prüfung, ob eine für die Wiedereinsetzung erforderliche Tatsache glaubhaft gemacht ist, nicht überspannt werden (vgl. z.B. BVerfG, Beschlüsse vom 27.09.2012, 2 BvR 1766/12, und vom 18.10.2012, 2 BvR 2776/10). Dies resultiert auch aus dem Gebot, dass nicht mit zu hoch angesetzten Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung der Zugang zum Gericht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 16.12.1975, 2 BvR 854/75, und vom 11.02.1976, 2 BvR 849/75).
Mit Blick auf den vorstehend aufgezeigten Beweismaßstab kann sich der Senat der vereinzelt vertretenen Ansicht, dass allein das Bestehen der (bloßen) Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumnis eine Wiedereinsetzung ausschließt (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 08.01.2010, L 14 R 677/09: "Besteht aber die Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumnis, scheidet eine Wiedereinsetzung aus (vgl. Keller, a.a.O., § 67 Rdn. 3)"), in der vorliegenden Pauschalität nicht anschließen. Die in der Entscheidung vom 08.01.2010 angeführte Kommentierung von Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 67, Rdnrn. 3, 10d, stützt sich auf den Beschluss des BGH vom 10.10.1996, VII ZB 31/95, in dem Folgendes ausgeführt worden ist: "Läßt sich aufgrund des dargelegten Sachverhalts nicht ausschließen, daß die Fristversäumung auf einem Verschulden des Prozeßbevollmächtigten beruht, das der von ihm vertretenen Prozeßpartei zuzurechnen ist, ist der Wiedereinsetzungsantrag unbegründet (BGH, Beschluß vom 26. September 1994 - II ZB 9/94 = NJW 1994, 3171, 3172)." Diese zivilgerichtliche Rechtsprechung, die vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist, lässt sich aber, anders als dies Keller damals getan hat, nicht auf das sozialgerichtliche Verfahren mit dem dort geltenden Amtsermittlungsgrundsatz übertragen, auch wegen des unterschiedlichen - subjektiven bzw. objektiven - Sorgfaltsmaßstabsbegriffs (dazu vgl. oben). So ist auch die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen und deren Glaubhaftmachung durch den Antragsteller im Zivilprozess zwingend (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO: "muss", "sind"), wohingegen dies im sozialgerichtlichen Verfahren nur als Soll-Vorschrift (§ 67 Abs. 2 Satz 2 SGG: "sollen") ausgestaltet ist. Zudem geht die Annahme, dass allein die nicht ausschließbare Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumnis einer Wiedereinsetzung entgegenstehe, von einem falschen und zu hohen Beweismaßstab für den Wiedereinsetzungsgrund, nämlich dem des Vollbeweises anstelle der Glaubhaftmachung, aus. Letzterer Beweismaßstab, der mildeste im Sozialrecht (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B), ist aber geprägt durch das Erfordernis nur einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit und damit einer Relativität (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R: "Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen."). Allein die Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumnis steht daher einer Wiedereinsetzung im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entgegen, sondern nur dann, wenn sie ein solches Gewicht hat, dass die Möglichkeit einer unverschuldeten Fristversäumnis nicht mehr das Übergewicht gegenüber der/n anderen Möglichkeit(en), die ein Verschulden beinhaltet/n, hat.
Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies Folgendes:
Als Wiedereinsetzungsgrund trägt der Kläger vor, dass ihm zum einen von seinem erstinstanzlich Bevollmächtigten das Urteil erst mit Verzögerung übermittelt worden sei, er sich zum anderen dann rund zwei Wochen (bis zum 30.06.2019) in Ungarn in Urlaub befunden habe und er erst am 01.07.2019 (Tag des Fristablaufes) das Urteil des SG in seinem Briefkasten aufgefunden habe. Sinngemäß erklärt er damit, dass ihm zu wenig Zeit verblieben sei, rechtzeitig Berufung einzulegen.
Dies - die dargestellten rechtlichen Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsgrund einerseits, die Angaben des Klägers zum tatsächlichen Geschehen andererseits - zugrunde gelegt, ist bereits der als Wiedereinsetzungsgrund vom Kläger angegebene Sachverhalt mit einem zweiwöchigen Urlaub bis kurz vor Fristablauf nicht glaubhaft gemacht.
Dem liegen folgende Überlegungen zugrunde:
* Der Kläger hat trotz wiederholter gerichtlicher Aufforderungen (Schreiben vom 18.07.2019 und vom 16.07.2020), zuletzt mit Hinweis auf § 106a Abs. 2 SGG und zugestellt mit Postzustellungsurkunde, keinerlei Nachweise für den von ihm als Wiedereinsetzungsgrund vorgetragenen Urlaub vorgelegt. Irgendwelche Ermittlungsmöglichkeiten für den Senat zur weiteren Aufklärung des behaupteten Sachverhalts gibt es nicht. Es erscheint dem Senat mangels jeglicher Nachweise nicht wahrscheinlicher, dass sich der Kläger in dem von ihm behaupteten Urlaub befunden hat, als dass er überhaupt nicht urlaubsbedingt abwesend gewesen ist. Somit ist es für den Senat nicht im Sinne der Glaubhaftmachung nachgewiesen, dass sich der Kläger tatsächlich im Urlaub befunden hat und er deshalb die Berufungsfrist versäumt haben könnte.
Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht zwingend die Glaubhaftmachung der Tatsachen im Sinne des § 202 SGG i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags durch den die Frist Versäumenden verlangt, weil diese Regelung lediglich eine Soll-Vorschrift darstellt und das Amtsermittlungsprinzip gilt. Es kann daher unter Umständen bereits die schlichte Erklärung des Antragstellers ausreichen, um im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 SGG) die richterliche Überzeugung von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines vorgetragenen Versäumnisgrundes zu begründen. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich bei der vorgetragenen Tatsache um einen ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumungsgrund handelt und auch kein Anlasse besteht, an der Wahrscheinlichkeit des vorgebrachten Sachverhalts zu zweifeln (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.07.1969, 2 BvR 753/68).
Vorliegend kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass allein mit dem Vortrag des Klägers der von ihm als Wiedereinsetzungsgrund angegebene Urlaub im Sinne der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wäre. Weder existiert eine allgemeine Lebenserfahrung, die einen Urlaub im maßgeblichen Zeitraum und mit der behaupteten Dauer als naheliegend erscheinen lassen würde, noch gibt es im konkreten Verfahren, wie es sich in der Klageakte des SG und der Berufungsakte des LSG darstellt, irgendwelche Hinweise darauf, dass der Kläger den vom ihm behaupteten Urlaub tatsächlich geplant/durchgeführt hätte. Erhebliche Zweifel an dem Vortrag des Klägers weckt auch der Umstand, dass er trotz wiederholter Aufforderungen des Gerichts, auch verbunden mit dem Hinweis auf § 106a Abs. 2 SGG und förmlich zugestellt, keine weiteren Angaben gemacht und auch keine Belege für den angeblichen Urlaub in Ungarn vorgelegt hat, obwohl ihm sowohl mit dem gerichtlichen Schreiben vom 16.07.2020 als auch vom 11.11.2021 deutlich vor Augen geführt worden war, dass er ein Verlieren im Prozess allenfalls dadurch verhindern könne, wenn er die von ihm erbetenen Angaben machen und Nachweise vorlegen würde.
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass zwar die verzögerte Übermittlung der erstinstanzlichen Entscheidung an den Kläger durch seinen Bevollmächtigten - dieser hat die Entscheidung erst mehrere Tage nach Erhalt weitergeleitet, nicht umgehend - glaubhaft gemacht ist, sich aber daraus, d.h. jedenfalls ohne den vom Kläger behaupteten Urlaub, kein Wiedereinsetzungsgrund ergeben kann. Denn der Kläger hätte auch angesichts der verzögerten Übermittlung durch seinen Rechtsanwalt nach einem den üblichen Postlaufzeiten entsprechenden Zugang der erstinstanzlichen Entscheidung bei sich immer noch rund zwei Wochen Zeit gehabt, Berufung einzulegen.
Aber selbst dann, wenn der vom Kläger behauptete Urlaub glaubhaft wäre, wäre dies kein Grund für eine Wiedereinsetzung. Denn die Fristversäumnis wäre nicht unverschuldet. Dabei geht der Senat mit Blick auf die Lebensgeschichte des in Siebenbürgen geborenen und erst ab dem 16. Lebensjahr sich überwiegend in Deutschland aufhaltenden Klägers, seine berufliche Tätigkeit (Berufsausbildung als Kfz-Spengler in Siebenbürgen, angelernte Tätigkeiten in der Baubranche in Deutschland) und die aus dem Gerichtsverfahren bekannten Unterlagen (nervenärztliche Befunde und Gutachten nach persönlicher Untersuchung im erstinstanzlichen Verfahren) unter Zugrundelegung eines subjektiven Sorgfaltsmaßstab davon aus, dass der Kläger weder besonders gerichtserfahren noch besonders geschäftsgewandt ist und daher an seinen Sorgfaltsmaßstab eher unterdurchschnittliche Anforderungen zu stellen sind.
Eine Wiedereinsetzung könnte aus folgenden Gründen nicht gewährt werden:
* Der Kläger hat auch auf gerichtlicher Nachfrage hin nicht vorgetragen, Vorkehrungen getroffen zu haben, dass sein Urlaub nicht die Einhaltung der Berufungsfrist gefährde.
Zwar muss ein Verfahrensbeteiligter, der auf eine (gewöhnliche) Urlaubsreise geht, regelmäßig noch keine besonderen Vorkehrungen treffen, um von Zustellungen Kenntnis zu erhalten, denn es handelt sich bei Urlauben, die dem üblichen Rahmen bis zum Umfang eines Jahresurlaubs (ca. sechs Wochen) entsprechen, um Abwesenheiten, die einem sozial üblichen Verhalten entsprechen und mit denen der Rechtsverkehr daher rechnen muss (vgl. Keller, a.a.O., § 67 Rdnr. 7). Wer aber mit Post des Gerichts rechnen muss, muss Vorsorge treffen, dass sie ihn erreicht oder seine Ortsabwesenheit mitteilen (vgl. Wolff-Dellen, a.a.O., § 67, Rdnr. 12).
Der Kläger musste vorliegend mit der Zustellung des Urteils vom 09.05.2019 rechnen. Er war selbst in der mündlichen Verhandlung am 09.05.2019 anwesend und es war ihm daher bekannt, dass in der nachfolgenden Zeit mit der Übermittlung des Urteils und damit mit dem Beginn der Rechtsmittelfrist zu rechnen sei. Gleichwohl hat er keinerlei Vorkehrungen dafür getroffen, wie die Einhaltung der Berufungsfrist gewährleistet werden könnte. Beispielsweise hätte er vor Urlaubsantritt bei seinem Bevollmächtigten nachfragen können, ob diesem das Urteil bereits zugestellt sei. Hätte er dies gemacht, hätte er vor seinem Urlaubsantritt am 15.06.2019 ohne jede Schwierigkeit selbst Berufung einlegen können - das Urteil war seinem Bevollmächtigten am 29.05.2019 und damit vor Urlaubsantritt zugegangen. Der Kläger hätte - alternativ - auch seinen Bevollmächtigten über seinen Urlaub informieren können und ihn mit der Berufungseinlegung für den Fall beauftragen können, dass dem Kläger selbst urlaubsbedingt eine fristgemäße Berufungseinlegung nicht möglich sein sollte. Der Kläger hätte - wiederum alternativ -seinen Bevollmächtigten auch darüber informieren können, wie er in seinem Urlaub telefonisch erreichbar sei, und ihn für den Fall des Zugangs der erstinstanzlichen Entscheidung bei seinem Bevollmächtigten um eine telefonische Information bitten können, um so eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu ermöglichen. Dadurch, dass der Kläger derartige Vorkehrungen nicht getroffen hat, hat er die ihm gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen. Somit liegt ein schuldhaftes Verhalten vor, das auch kausal für die Fristversäumnis war. Der Kläger hätte - ohne vorherige entsprechende Vorgabe seinerseits - nicht darauf vertrauen dürfen, dass ihn sein Rechtsanwalt telefonisch informieren werde, wenn bei diesem das Urteil eingegangen sei. Dies gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass der Kläger lediglich zwei Wochen urlaubsbedingt abwesend war, die Berufungsfrist aber einen Monat beträgt. Denn der Kläger musste damit rechnen, dass ihm sein Bevollmächtigter das Urteil - ohne vorherige telefonische Information - per Post zuleitet. Unter Berücksichtigung einer nicht ausschließbaren bürobedingten Verzögerung beim Rechtsanwalt und der üblichen Postlaufzeiten hätte der Kläger trotz des bei ihm zugrunde zu legenden unterdurchschnittlichen subjektiven Sorgfaltsmaßstabs erkennen müssen, dass auch ein zweiwöchiger Urlaub die Einhaltung der Berufungsfrist gefährden kann.
* Der Umstand, dass der Bevollmächtigte des Klägers diesem die sozialgerichtliche Entscheidung nicht umgehend zugesandt hat, kann kein fehlendes Verschulden des Klägers hinsichtlich der Fristversäumnis begründen.
Kein Grund, dem Kläger Wiedereinsetzung zu gewähren, ergibt sich daraus, dass sein für die Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung zustellungsbevollmächtiger - dass der Kläger das Mandat vor der Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung gekündigt hätte, was einer Verschuldenszurechnung entgegen stehen könnte (vgl. Senger, a.a.O., § 67, Rdnr. 35), ist weder vorgetragen noch ersichtlich; der Kläger hat lediglich angegeben, dass er sich im Berufungsverfahren vom Bevollmächtigten "nicht weiter vertreten lassen will" (Erklärung zu Protokoll des Bayer. LSG am 03.07.2019) - Bevollmächtigter die ihm am 29.05.2019 zugestellte Entscheidung erst mit zweiwöchiger Verzögerung am 12.06.2019 weitergeleitet hat und damit in Zusammenspiel mit dem vom Kläger behaupteten Urlaub für zwei Wochen ab dem 15.06.2019 einen Beitrag dazu geleistet hat, dass dem Kläger wenig Zeit verblieben ist, Berufung einzulegen. Ob diese verzögerte Weiterleitung an den Kläger ein schuldhaftes Verhalten des Anwalts darstellt oder nicht, kann dahingestellt bleiben. Denn selbst dann, wenn das Verhalten des Rechtsanwalts als schuldhaft betrachtet würde, könnte sich der Kläger ein solches (Fremd-)Verschulden nicht zu Nutze machen und sich damit nicht hinsichtlich der Fristversäumnis exkulpieren. Denn ein Verschulden seines Bevollmächtigten müsste sich der Kläger wegen § 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO als eigenes Verschulden zurechnen lassen (vgl. auch BSG, Beschluss vom 10.12.2014, B 1 KR 11/14 B).
* Der Kläger kann sich auch nicht darauf stützen, dass ihn sein Bevollmächtigter falsch über die einzuhaltende Berufungsfrist informiert habe und ihn deshalb kein Verschulden an der Fristversäumnis treffe.
Der Senat kann schon keine Falschinformation des Rechtsanwalts erkennen. Zwar hat dieser in seinem Schreiben vom 12.06.2019 an den Kläger darauf hingewiesen, dass "zumindest bis 28.06.2019 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht" eingelegt werden könne, obwohl wegen des Wochenendes am Fristende die Einlegung der Berufung bis zum 01.07.2019 (Montag) möglich gewesen wäre. Wegen des Wortes "zumindest" hätte aber der Kläger erkennen können, dass die Fristangabe des Rechtsanwalts nicht verbindlich war, zumal er auch aus der Rechtsmittelbelehrung der erstinstanzlichen Entscheidung und dem vom Bevollmächtigten mitgeteilten Zustellungsdatum das Fristende hätte errechnen können.
Aber selbst dann, wenn von einer für den Kläger nicht erkennbaren Falschinformation des Rechtsanwalts ausgegangen würde, würde dies den Kläger nicht exkulpieren. Ganz abgesehen davon, dass der Bevollmächtigte mit seinem Fristhinweis dem Kläger keinen Anlass gegeben hat, die Berufung erst am 03.07.2019 zu erheben (die vom Anwalt angegebene Frist war zu kurz, nicht zu lang), wäre selbst dann, wenn davon ausgegangen würde, dass die anwaltlichen Angaben zur Frist den Kläger zur Fristversäumnis veranlasst hätten (z.B. weil er der Meinung war, dass die Frist ohnehin versäumt sei, er aber Wiedereinsetzung beantragen könne), die Fristversäumnis nicht unverschuldet. Denn der Kläger müsste sich dann das in der falschen/missverständlichen Angabe zur Berufungsfrist liegende Verschulden seines Rechtsanwalts wegen § 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO als eigenes Verschulden zurechnen lassen.
* Der Kläger hat die Berufungseinlegung innerhalb der Berufungsfrist schuldhaft versäumt, obwohl ihm eine fristgerechte Berufungseinlegung möglich und zumutbar gewesen wäre.
Fristen dürfen bis zu ihrem Ende ausgeschöpft werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.02.1976, 2 BvR 652/75; BSG, Urteile vom 31.03.1993, 13 RJ 9/92, und vom 07.07.1998, B 5 RJ 16/98 R). Je näher das Ende der Frist rückt, umso höher werden aber die Anforderungen an die Sorgfalt dessen, der die Frist einzuhalten hat (vgl. BSG, Urteil vom 31.03.1993, 13 RJ 9/92). Entsprechendes gilt im Hinblick auf in der Urlaubszeit anstehende Fristabläufe; die Anforderungen an die Sorgfalt erhöhen sich vor der Urlaubsabwesenheit (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.01.1987, 4 AZR 86/86) genauso wie nach der Rückkehr aus dem Urlaub.
Dies zugrunde gelegt, wäre der Kläger nach Rückkehr aus dem Urlaub gehalten gewesen, die im Urlaub eingegangene Post umgehend auf darin enthaltene fristgebundene Angelegenheiten durchzusehen (vgl. Wolff-Dellen, a.a.O., § 63, Rdnr. 36) und, falls nötig, umgehend zu reagieren. Dies hat er aber nicht getan. Der Kläger ist, die Richtigkeit seines Vortrags unterstellt, bis zum 30.06.2019 (Sonntag) im Urlaub gewesen und damit jedenfalls am 01.07.2019 (Montag) (wenn nicht schon am 30.06.2019) wieder zu Hause gewesen. Er hätte dann zumindest am 01.07.2019 ausreichend Zeit gehabt, die Post von zwei Wochen durchzusehen und noch am selben Tag Berufung beim Bayer. LSG einzulegen, sei es per Fax, oder, wenn ihm diese Möglichkeit nicht zur Verfügung gestanden hat, zu Protokoll des Gerichts oder per selbst eingeworfenem Brief, beides Handlungen, die schon aufgrund des gerichtsnahen Wohnorts des Klägers (Entfernung Luftlinie rd. 4 km) diesem zumutbar gewesen wären. Dadurch, dass er dies nicht getan hat, hat er schuldhaft die Frist versäumt.
* Dem kann der Kläger auch nicht entgegen halten, dass ihm eine angemessene Überlegensfrist nach seiner Urlaubsrückkehr zugestanden hätte, über die Einlegung der Berufung zu entscheiden und diese - über eine Wiedereinsetzung - auch nach Ablauf der einmonatigen Berufungsfrist zu erheben.
Zwar kann eine Fristversäumnis auch dann als unverschuldet zu betrachten sein, wenn während der Berufungsfrist vorübergehend ein Hindernis bestanden hat, dieses aber dann schon vor Ablauf dieser Frist wieder weggefallen ist (vgl. Keller, a.a.O., § 67 Rdnr. 11b). Dies wird damit begründet, dass jedem Beteiligten eine Beratungs- und Überlegensfrist zusteht, über die Einlegung eines Rechtsmittels zu entscheiden. Der unmittelbare Grund für die Fristversäumnis in einer solchen Konstellation ist dann nicht das vorübergehende und während der Rechtsmittelfrist wieder beendete Hindernis, sondern die bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs bestehende Unmöglichkeit einer angemessenen Überlegung und Beratung (vgl. BSG, Urteil vom 29.10.1987, 11b RAr 68/86). In einem solchen Fall beginnt dann aber nicht vom Zeitpunkt des Wegfalls des (vorübergehenden und während der Rechtsmittelfrist wieder beseitigten) Hindernisses an ohne Weiteres eine Überlegens- und damit Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG oder der Dauer, wie sie für das im Raum stehende Rechtsmittel vorgesehen ist. Vielmehr ist nur eine zusätzliche Beratungs- und Überlegensfrist einzuräumen, die dann gegebenenfalls über die eigentliche Rechtsmittelfrist hinausreichen kann und in diesem darüber hinausreichenden Zeitraum eine Wiedereinsetzung ermöglicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.06.2013, 10 B 10/13 - m.w.N.; BSG, Urteile vom 29.10.1987, 11b RAr 68/86, und vom 30.01.2002, B 5 RJ 10/01 R).
Vorliegend ist aber keine Verlängerung der Berufungsfrist im vorstehend aufgezeigten Sinn eingetreten, weil dem Kläger wegen der geltend gemachten vorübergehenden Hindernisse während der Berufungsfrist (zu späte Weiterleitung durch seinen Rechtsanwalt einerseits, fahrlässig vom Kläger unterlassene Vorkehrungen für die Urlaubszeit andererseits) ein eigenes oder zuzurechnendes Verschulden vorzuwerfen ist (vgl. oben). Die Hindernisse und die dadurch bedingte Fristversäumnis sind damit vom Kläger verschuldet im Rechtssinne. Eine "Verlängerung" der Berufungsfrist unter dem Gesichtspunkt einer angemessenen Beratungs- und Überlegensfrist kommt daher nicht in Betracht.
Die Berufung ist daher gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).