L 4 R 2180/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 6762/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 2180/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahme der Bewilligung von Witwenrente ab dem 1. September 2015 und die Rückforderung erbrachter Rentenleistungen i.H.v. 4.701,30 €.

Die 1947 geborene Klägerin ist die Witwe des am 14. August 2015 verstorbenen K (im Folgenden: Versicherter), mit dem sie seit dem 22. Juli 1988 verheiratet gewesen ist. Die Ehe, in die die Klägerin einen 1965 geborenen Sohn miteinbrachte, blieb kinderlos. Der Versicherte bezog von der Beklagten ab November 2005 Altersrente. Die Rentenleistung wurde im Sterbemonat August 2015 letztmals ausgezahlt. Die Klägerin erhält seit Juni 2012 von der Deutschen Rentenversicherung Bund eine Regelaltersrente. Der monatliche Zahlbetrag der Rente (ohne Zuschuss zum Krankenversicherungsbeitrag) betrug ab September 2015 1.510,71 €, ab Juli 2016 1.574,84 € sowie ab Juli 2017 1.604,84 €.

Nach dem Tod ihres Ehemanns beantragte die Klägerin bei der Beklagten am 25. August 2015 (Eingang bei der Beklagten am 29. Oktober 2015) die Gewährung einer Hinterbliebenenrente. In dem Antrag gab sie an, seit „01.09.2015 - laufend“ selbstständig im Bereich der Marketingberatung tätig zu sein und seit „01.01.2014 - laufend“ auch Arbeitseinkommen zu erzielen. Den Vordruck der Beklagten zum Arbeitseinkommen (Formular R 0666) reichte sie Anfang November 2015 nach. Darin erklärte die Sgesellschaft mbH im Auftrag der Klägerin, dass der Gewinn aus selbstständiger Tätigkeit im Jahr 2014 29.856,00 € betragen habe; ein Einkommenssteuerbescheid für dieses Jahr liege nicht vor.

Mit Bescheid vom 20. November 2015 bewilligte die Beklagte daraufhin der Klägerin ab 1. September 2015 große Witwenrente in Höhe eines monatlichen Zahlbetrags ab 1. Januar 2016 von 369,33 € (Rentenleistung i.H.v. 241,42 € zzgl. Zuschuss zum Krankenversicherungsbeitrag i.H.v. 127,91 €) sowie einer Rentennachzahlung für die Zeit vom 1. September 2015 bis 31. Dezember 2015 i.H.v. 887,28 €. Der Bescheid enthielt u.a. Hinweise zu den „Mitteilungspflichten und Mitwirkungspflichten“. Darin wurde die Klägerin neben anderem darüber belehrt, dass sie unverzüglich mitteilen müsse, wenn sie Erwerbseinkommen, wozu auch Arbeitseinkommen (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb oder selbstständige Arbeit) gehöre, beziehe und eine nicht rechtzeitige Erfüllung ihrer Mitteilungspflichten zur Folge habe, dass der Bescheid – auch rückwirkend – ganz oder teilweise aufgehoben werde, sobald Tatsachen bekannt würden, die den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe beeinflussten. Wegen der Einzelheiten zur Höhe der Rente und der Berücksichtigung des anzurechnenden Einkommens verwies der Bescheid auf die Anlage „Berechnung der Rente“. In der in Bezug genommenen, insgesamt siebzehnseitigen Anlage zum Witwenrentenbescheid stellte die Beklagte die Berechnung der Rente in ihren Einzelschritten dar und ermittelte dabei im letzten Teil der Anlage unter Wiedergabe der einzelnen Berechnungsschritte aus dem Erwerbseinkommen und der monatlichen Rente der Klägerin ein anzurechnendes Einkommen i.H.v. 271,14 €. Hierbei machte sie u.a. folgende Ausführungen (vgl. Anlage „Ermittlung des anzurechnenden Einkommens“ vom 20. November 2015, S. 1, Verwaltungsakte der Beklagten, nicht nummeriert):

„Die Rente trifft mit Einkommen zusammen. Es ist deshalb zu prüfen, ob auf die Rente Einkommen anzurechnen ist. Hierfür ist das zu berücksichtigende monatliche Einkommen zu ermitteln.

Berechnung für die Zeit ab 01.09.2015

Das monatliche Einkommen ist aus dem Erwerbseinkommen des Kalenderjahres zu ermitteln, das dem Jahr 2015 vorausgeht.

Arbeitseinkommen für 2014 aus

selbstständiger Tätigkeit    2.985,60 EUR

abzüglich 39,8%                   1.188,27 EUR

verbleiben jährlich              1.797,33 EUR

Das Einkommen ist während zwölf Kalendermonaten erzielt worden.

Das monatliche Einkommen aus dem Kalenderjahr 2014

beträgt somit:                       1.797,33 EUR : 12 Kalendermonate  =  149,78 EUR

[…]

Das monatliche Einkommen ist um das Erwerbsersatzeinkommen für September 2015 zu erhöhen.

Erwerbsersatzeinkommen ist die Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung

Monatliche Rente                        1.510,71 EUR

abzüglich 14,0 %                          - 211,50 EUR

zu berücksichtigende Rente      1.299,21 EUR

[…]

Anzurechnendes Einkommen ab 01.09.2015          271,14 EUR“

Mit weiterem Bescheid vom 20. November 2015 gewährte die Beklagte der Klägerin ab dem 1. September 2015 dem Grunde nach einen Beitragszuschuss zur Krankenversicherung.

Im Rahmen der jährlichen Einkommensprüfung forderte die Beklagte in der Folge die Klägerin mit Schreiben vom 29. März 2016 und 27. März 2017 zur Vorlage des ausgefüllten Vordrucks zum Arbeitseinkommen und des aktuellsten Einkommenssteuerbescheids auf. Mit Schreiben vom 19. Juni 2017 übersandte die Klägerin daraufhin der Beklagten die Einkommenssteuerbescheide für die Jahre 2014 und 2015. Diese wiesen Einkünfte aus Gewerbebetrieb für das Jahr 2014 i.H.v. von 29.970,00 € (Bescheid für 2014 vom 26. November 2015) und für das Jahr 2015 i.H.v. 29.453,00 € (Bescheid für 2015 vom 29. November 2016) aus. Auf der Grundlage der vorgelegten Einkommensnachweise berechnete die Beklagte mit Rentenbescheid vom 10. Juli 2017
die große Witwenrente der Klägerin rückwirkend ab dem 1. September 2015 neu und stellte für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2017 eine zu erstattende Überzahlung i.H.v. 7.535,22 € fest. Zugleich teilte sie mit, dass die Rente wegen des zu berücksichtigenden Einkommens nicht mehr zu zahlen sei. In der Anlage zum Bescheid ermittelte die Beklagte ein anzurechnendes Einkommen der Klägerin für die Zeit ab 1. September 2015 i.H.v. 812,63 € sowie für die Zeit ab 1. Juli 2016 i.H.v. 811,22 €, das den errechneten monatlichen Rentenanspruch (ab 1. Dezember 2015 512,56 €, ab 1. Juli 2016 534,32 €, ab 1. Juli 2017 544,49 €) jeweils überstieg. Für den Zeitraum vom 1. September bis 30. November 2015 beließ sie es beim vollen Monatsbetrag der Rente, da Einkommen bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats, in dem der Ehegatte verstorben sei, nicht anzurechnen sei. Über das Ergebnis der Rentenneuberechnung informierte die Beklagte im Wege des Datenaustausches die Deutsche Rentenversicherung Bund, die die Altersrente der Klägerin daraufhin ebenfalls neu berechnete und der Klägerin rückwirkend ab 1. September 2015 einen Zuschuss zum Krankenversicherungsbeitrag gewährte. Den errechneten Nachzahlungsbetrag von 2.833,92 € stellte sie der Beklagten zur Verfügung.

Mit Schreiben vom 18. September 2017 hörte die Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Rücknahme der Witwenrentenbewilligung wegen Anrechnung der tatsächlichen Einkünfte aus der selbstständigen Tätigkeit ab dem 1. September 2015 an, wobei sie auf die „Berechnung“ vom 10. Juli 2017 verwies. Hierzu nahm die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten Stellung. Sie wies darauf hin, dass sie bereits bei der Antragstellung im November 2015 ein Arbeitseinkommen in der nun durch den Steuerbescheid nachgewiesenen Höhe angegeben habe. Die Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung sei ihr bei der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheids auch weder bewusst noch aus den im Bescheid erteilten Hinweisen erkennbar gewesen.

Mit Bescheid vom 19. April 2018 nahm die Beklagte -  wobei sie auf den Bescheid vom 10. Juli 2017 lediglich hinsichtlich der Zusammensetzung der Erstattungsforderung Bezug nahm - den Bescheid vom 20. November 2015 hinsichtlich der Einkommensanrechnung ab 1. September 2015 zurück und forderte die festgestellte Überzahlung i.H.v. 4.701,30 € zurück. Der Rückforderungsbetrag (7.535,22 €) habe sich aufgrund der Nachzahlung der Deutschen Rentenversicherung Bund (2.833,92 €) verringert. Die Rücknahme des Rentenbescheides sei sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft zulässig, da sich die Klägerin nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen könne. Aufgrund der Hinweise im Rentenbescheid sei ihr bekannt gewesen, dass das Erzielen von Einkommen und das Überschreiten des maßgebenden Freibetrags zur Minderung der Witwenrente führe. Die Klägerin habe deshalb wissen müssen, dass ihr die Rente in der geleisteten Höhe nicht rechtmäßig zugestanden habe. Bei der Interessenabwägung im Rahmen des Ermessens überwiege das Interesse der Versichertengemeinschaft an der Rückforderung der rechtswidrig gezahlten Leistungen. Die zum Antrag eingereichten Unterlagen und die Angaben im Vordruck R0666 dienten nur als Schätzung des Einkommens ab Rentenbeginn. Für die endgültige Einkommensanrechnung würden die Einkommensteuerbescheide der maßgebenden Kalenderjahre 2014 und 2015 benötigt. Diese Steuerbescheide hätten der Klägerin bereits im November 2015 bzw. November 2016 vorgelegen, sodass sie ihrer Mitteilungspflicht durch Vorlage mit Schreiben vom 19. Juni 2017 nur verspätet nachgekommen sei. Es liege somit kein Verschulden der Verwaltung vor, da die Schätzung der Einkünfte bei Antragstellung immer erst mit Vorlage der Einkommenssteuerbescheide rückwirkend überprüft werde.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und machte geltend, sie habe im Rahmen des Antrags auf Hinterbliebenenrente wahrheitsgemäße Angaben gemacht. Vor allem habe sie vor Erlass des Bewilligungsbescheids der Beklagten auch den Vordruck Arbeitseinkommen zur weiteren Bearbeitung des Rentenantrags übermittelt, in welchem ihr Steuerberater ein Arbeitseinkommen mitgeteilt habe, das nahezu identisch mit den festgestellten Einkünften aus dem Steuerbescheid 2014 sei. Die Beklagte habe nach Eingang des Formulars den Bewilligungsbescheid vom 20. November 2015 erlassen. Da sie zutreffende Angaben gemacht habe, sei sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R) nicht gehalten gewesen, den Bewilligungsbescheid näher auf seine Richtigkeit zu überprüfen, sondern habe vielmehr davon ausgehen dürfen, dass die Fachbehörde nach den für die Leistung erheblichen Tatsachen gefragt und ihre wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umgesetzt habe. Allein der Umstand, dass in dem völlig unübersichtlichen und für den Durchschnittsbürger nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Berechnungsteil des Bescheides Angaben zur möglichen Anrechnung von Einkommen auf die Hinterbliebenenrente gemacht worden seien, führe nicht dazu, dass sie eine Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung grob fahrlässig verkannt oder gar gekannt habe. Auch sei die Jahresfrist für die Rücknahme bereits abgelaufen, da ihre Einkünfte der Beklagten seit spätestens Anfang November 2015 bekannt gewesen seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, durch die mit „Berechnungsbescheid“ vom 10. Juli 2017 durchgeführte Einkommensanrechnung sei eine Überzahlung i.H.v. 7.535,22 € entstanden. Durch den angefochtenen Rückforderungsbescheid sei sowohl die Rücknahme des ursprünglichen Bewilligungsbescheids als auch die Rückforderung des überzahlten Betrages verfügt worden. Die Forderung setze sich aus zwei verschiedenen Überzahlungsgründen zusammen, nämlich zum einen aus der Überzahlung der Witwenrente aufgrund einer zu niedrigen Anrechnung der Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit i.H.v. 4.586,98 € zum anderen der Überzahlung des Beitragszuschusses i.H.v. 2.958,24 €. Durch die rückwirkende Einkommensanrechnung und die dadurch entstandene Überzahlung der Witwenrente habe kein Anspruch auf einen Zahlbetrag aus der Rente bestanden und somit auch nicht auf die Auszahlung des Beitragszuschusses. Der Klägerin habe auffallen müssen, dass in der Anlage zum Bescheid vom 20. November 2015 das anzurechnende Einkommen anstatt mit dem angegebenen Betrag lediglich mit einem Zehntel, nämlich 2.985,60 € zugrunde gelegt worden sei. Diesen eklatanten Unterschied zwischen ihrer Einkommensangabe und der Berechnung im Bescheid habe die Klägerin bemerken müssen. Auf Vertrauen könne sich die Klägerin auch deshalb nicht berufen, weil sie ihren Mitteilungspflichten zumindest teilweise nicht nachgekommen sei. Die Ermessensentscheidung könne nur dann zugunsten der Klägerin ausfallen, wenn besondere Umstände des Einzelfalls es erlauben würden, die Interessen der Versichertengemeinschaft an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes und der Rückzahlung nicht zustehender Leistungen zurücktreten zu lassen. Zugunsten der Klägerin könne berücksichtigt werden, dass die Rückforderung sie wirtschaftlich belaste. Erfolge die Rücknahme nicht in vollem Umfang, werde die Klägerin jedoch bessergestellt als vergleichbare Versicherte. Aufgrund der Einkünfte der Klägerin aus selbstständiger Tätigkeit und der Altersrente sei auch keine besondere Härte zu erkennen, die gegen eine Rücknahme des Bescheids für die Vergangenheit sprechen könnte. Selbst unter Berücksichtigung der Einwände der Klägerin lägen bei diesem Sachverhalt keinerlei Umstände vor, welche geeignet wären, im Wege des Ermessens von der Bescheidrücknahme oder der vollen Rückforderung des überzahlten Betrages abzusehen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 11. Dezember 2018 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage. Zur Begründung wiederholte und vertiefte sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Die Voraussetzungen einer Rücknahme der Rentenbewilligung für die Vergangenheit seien bei ihr nicht erfüllt. Sie genieße Vertrauensschutz, da sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheids vom 20. November 2015 keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von seiner Rechtswidrigkeit gehabt habe. Sie habe deshalb nicht mit der Aufhebung des Bescheids rechnen müssen und die erhaltene Witwenrente zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausgegeben.

Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung beim SG gab die Klägerin an, sie habe sich mit dem Bescheid von November 2015 nicht genauer befasst. Sie habe ihn nur überflogen, da sie im Vorfeld richtige Angaben gemacht habe. Sie sei davon ausgegangen, dass alles in Ordnung sei (Protokoll vom 9. Juni 2020, SG-Akte Bl. 67 f.). Mit Urteil vom 9. Juni 2020 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 19. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2018 auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die teilweise Rücknahme der Witwenrente stelle sich als materiell rechtswidrig dar, weil die sich aus § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ergebenden Voraussetzungen für die rückwirkende Rücknahme des Bescheids vom 20. November 2015 nicht vorlägen. Der unanfechtbar gewordene Rentenbescheid sei zwar als begünstigender Verwaltungsakt hinsichtlich der großen Witwenrente von Anfang an rechtswidrig gewesen. Denn die Einkommensanrechnung sei nicht korrekt erfolgt. Auch stehe der Rücknahme die Jahresfrist aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht entgegen, da der Beklagten erst nach Durchführung der Anhörung mit Schreiben vom 18. September 2017 alle Umstände bekannt gewesen seien, die für die Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit und zum Ermessen notwendig gewesen seien. Die Beklagte habe jedoch den Bescheid nicht zurücknehmen dürfen, da die Klägerin auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut habe und in ihrem Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig sei. Die Klägerin habe in der mündlichen Verhandlung noch einmal glaubhaft versichert, davon ausgegangen zu sein, dass hinsichtlich des Witwenrentenbescheids alles in Ordnung sei. Sie habe im Rahmen der Antragstellung wahrheitsgemäße Angaben zu ihrem Einkommen gemacht. Hinweise dafür, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheids gekannt habe, seien nicht ersichtlich. Auch eine grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheids scheide aus. Denn in der vorliegenden Situation sei der Klägerin nicht vorzuwerfen, schon einfachste Überlegungen nicht angestellt zu haben und in besonders schwerem Maße eine Sorgfaltsverletzung begangen zu haben. Die Rechtswidrigkeit der Begünstigung sei dem Verfügungssatz des Bewilligungsbescheides nicht ohne Weiteres zu entnehmen gewesen. Ob die Höhe der gewährten Witwenrente zutreffend gewesen sei oder nicht, habe die Klägerin allenfalls durch eine genauere Auseinandersetzung mit der Berechnung der Witwenrente herausfinden können, wobei zweifelhaft sei, ob dies einem insoweit nicht geschulten Laien überhaupt möglich sei. Aufgrund der geringen Rentenhöhe habe es als möglich erscheinen können, dass das Einkommen korrekt angerechnet worden sei. Auch der weiteren Begründung des Bescheids nach sei ein offensichtlicher, ins Auge springender Fehler, der eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin hätte begründen können, nicht gegeben. Denn aus der Anlage des Bescheides, welche die Klägerin wie den Bescheid selbst zu lesen gehabt habe, ergebe sich nicht eindeutig, dass die Beklagte bei der Berechnung der Rente nicht das von der Klägerin angegebene Einkommen für das Jahr 2014 zugrunde gelegt habe. Aufgrund der Darstellung erscheine es vielmehr auch möglich, dass bereits eine Umrechnung auf den Monat erfolgt gewesen sei. So führe der Bescheid zunächst aus, dass das monatliche Einkommen aus dem Erwerbseinkommen des Kalenderjahres zu ermitteln sei, das dem Jahr 2015 vorausgehe. Auch trage der Unterabschnitt die Überschrift „Berechnung für die Zeit ab dem 1. September 2015“, sodass der Beginn der Berechnung bereits ab dem ersten Schritt nicht abwegig erscheine. Daher sei nicht sofort erkennbar gewesen, dass es sich um einen Fehler, wohl als Tippfehler, gehandelt habe. Vielmehr habe die Klägerin auch annehmen können, dass bei der Angabe von 2.985,60 € als Arbeitseinkommen für 2014 bereits eine erste Umrechnung auf den Monat, wie angekündigt, stattgefunden habe. Eine Bezeichnung als Jahresarbeitseinkommen sei nicht erfolgt. Eine etwaige Verletzung von Mitwirkungspflichten hinsichtlich der Übersendung der Einkommenssteuerbescheide von 2014 und 2015 rechtfertige die Rücknahme nicht. Eine solche Verletzung führe im Rahmen von § 45 SGB X anders als bei der Aufhebung nach § 48 SGB X nicht dazu, dass eine Rücknahme für die Vergangenheit generell möglich sei. Selbst wenn die Klägerin im Rahmen der Vorlage der Einkommenssteuerbescheide Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheids erlangt habe, sei dies unerheblich. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung sei die Bekanntgabe des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes. Ein einmal eingetretenes Vertrauen auf den Bestand des Bescheides könne durch spätere Kenntniserlangung nach Erlass des Bescheides nicht beseitigt werden. Die Klägerin sei schließlich auch schutzwürdig. Denn der Fehler liege hier allein im Verantwortungsbereich der Beklagten, die das angegebene Einkommen bei der Berechnung der Rente falsch zugrunde gelegt habe.

Gegen das ihr am 19. Juni 2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10. Juli 2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie ist weiter der Auffassung, der Klägerin sei eine grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Bescheides vorzuwerfen. Auch wenn ein Begünstigter, der zutreffende Angaben gemacht habe, den erteilten Bescheid regelmäßig nicht im Detail auf seine Richtigkeit überprüfen müsse, handele er doch grob fahrlässig, wenn er blind auf den Bewilligungsbescheid vertraue, ohne sich mit dem Inhalt der Bewilligung zu befassen. Die Klägerin sei dementsprechend verpflichtet gewesen, den Bescheid vom 20. November 2015 zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Um die Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung zu erkennen, habe sie dabei keine komplizierten Berechnungen nachvollziehen müssen. Vielmehr habe ausgereicht, den Bescheid auf eventuelle Fehler bei den verwendeten Daten zu prüfen. Die Klägerin habe nämlich bei der Antragstellung im Formular R 0666 ein wahrscheinliches Arbeitseinkommen für 2014 i.H.v. 29.856,00 € angegeben. In der Anlage des Bescheids „Ermittlung des anzurechnenden Einkommens“ sei im Rahmen der Berechnung demgegenüber ein „Arbeitseinkommen für 2014 aus selbstständiger Tätigkeit“ i.H.v. nur 2.985,60 € zugrunde gelegt worden. Selbst bei einem flüchtigen Durchlesen des Bescheids habe der Klägerin auf den ersten Blick auffallen müssen, dass der Einkommensbetrag gegenüber ihren Angaben um eine Kommastelle zu gering angesetzt worden sei. Es sei auch ohne weiteres erkennbar gewesen, dass eine Division mit dem Teiler von 10 anstatt von 12, wie es bei einem Monatseinkommen zu erwarten gewesen wäre, stattgefunden habe. Außerdem werde in dem Text der Anlage dreimal dargestellt, dass es sich um ein Jahresarbeitseinkommen handele. So werde im Eingangssatz der Berechnung erläutert, dass das monatliche Einkommen aus dem Kalenderjahr ermittelt werde, das dem Jahr 2015 vorausgehe. Zusätzlich werde durch den Satz „Das Einkommen sei während zwölf Kalendermonaten erzielt worden“ eindeutig klargestellt, dass das Arbeitseinkommen für das ganze Jahr 2014 berechnet werde. Außerdem ergebe sich aus der Division mit dem Divisor „zwölf Kalendermonate“ im letzten Satz, dass das Arbeitseinkommen für 2014 aus dem kalenderjährlichen Jahreswert des Arbeitseinkommens berechnet worden sei. Die Klägerin habe somit schon bei Anstellen einfachster Überlegungen erkennen können und müssen, dass im Bescheid vom 20. November 2015 von einem zu niedrigen Arbeitseinkommen für 2014 aus selbstständiger Tätigkeit ausgegangen worden sei. Sie habe deshalb in besonders schwerem Maße die Sorgfalt verletzt. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin subjektiv nicht in der Lage gewesen sei, umfangreiche Schreiben im erforderlichen Umfang zu verstehen, lägen nicht vor. Als freiberufliche Selbständige im Bereich der Marketingberatung müsse sie mindestens derartige geistige Leistungen erbringen, wie sie ohne Zweifel ermöglichten, den Rentenbescheid durchzulesen und nachzuvollziehen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie habe den Berechnungen der Beklagten in der Anlage des Witwenrentenbescheids nicht ohne Weiteres entnehmen können, dass es sich bei dem dort genannten Einkommen um ihren Jahresverdienst und nicht um den Monatsverdienst gehandelt habe. Ihr sei bei Erhalt des Bewilligungsbescheides der von ihrem Steuerberater bei Antragstellung angegebene Einkommensbetrag auch nicht mehr bis zur letzten Kommastelle erinnerlich gewesen. Bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit könne schließlich auch nicht außer Betracht bleiben, dass die zuständige Sachbearbeiterin der Beklagten das Ergebnis ihrer Berechnungen ganz offensichtlich für plausibel erachtet habe. Was der erfahrenen Sachbearbeiterin der Beklagten nicht aufgefallen sei, habe ihr als unerfahrenem Laien erst recht nicht ins Auge springen müssen.

Der vormalige Berichterstatter hat im Erörterungstermin vom 17. November 2020 die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert und diese darauf hingewiesen, dass das angefochtene Urteil des SG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtmäßig erscheint. Die Beteiligten haben sich anschließend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsatz der Klägerin vom 8. Juli 2021; Schriftsatz der Beklagten vom 4. August 2021).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Instanzen sowie die vorgelegte Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1. Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Einer Zulassung der Berufung hat es nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht bedurft; denn die Beklagte fordert mit dem streitgegenständlichen Rücknahmebescheid, gegen dessen vollumfängliche Aufhebung durch das SG sie sich mit der Berufung wendet, von der Klägerin die Erstattung von Rentenleistungen i.H.v. (noch) 4.701,30 €, sodass der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 € übersteigt. Außerdem betrifft der Bescheid die Aufhebung der Bewilligung von Rente und damit wiederkehrender Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Streitgegenstand des Klage- und Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 19. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2018 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Bewilligung der großen Witwenrente durch den Rentenbescheid vom 20. November 2015 „hinsichtlich der Einkommensanrechnung“ mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und von der Klägerin die für die Zeit bis 30. Juni 2017 gezahlten Rentenleistungen i.H.v. insgesamt 4.701,30 € zurückgefordert hat. Als Aufhebungsdatum bezeichnet der Bescheid dabei zwar den Rentenbeginn „1. September 2015“. Bei Auslegung des Verwaltungsaktes aus der Perspektive eines verständigen Empfängers (zum maßgeblichen objektivierten Empfängerverständnis BSG, Urteil vom 16. Juni 2021 – B 5 RE 5/20 R – juris, Rn. 15 m.w.N.) ist jedoch davon auszugehen, dass die Rücknahme der Einkommensanrechnung in Wirklichkeit erst ab dem 1. Dezember 2015 verfügt werden sollte. Denn aus der Rentenneuberechnung im Bescheid vom 10. Juli 2017, auf die sowohl der angefochtene Bescheid als auch der Widerspruchsbescheid Bezug nehmen, ergibt sich, dass Einkommen der Klägerin tatsächlich erst ab 1. Dezember 2015 auf die Witwenrente angerechnet worden ist. Für den Zeitraum vom 1. September 2015 bis 30. November 2015 unterblieb entsprechend der gesetzlichen Regelung (§§ 97 Abs. 1 Satz 2, 67 Satz 1 Nr. 6 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI) eine Einkommensanrechnung hingegen, wie von der Beklagten im Rahmen der Neuberechnung der Rente in der Anlage zum in Bezug genommenen Rentenbescheid vom 10. Juli 2017 (Seite 2, 3) mehrfach ausdrücklich erklärt worden ist. Die im Text des Bescheides vom 19. April 2018 genannte Rücknahme hinsichtlich der Einkommensanrechnung bereits „ab dem 1. September 2015“ entsprach somit nicht dem wirklichen (vgl. § 133 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) Regelungswillen der Beklagten. Sie geht – was auch für die Klägerin als Empfängerin des Bescheides erkennbar war – ins Leere, da eine Änderung des Auszahlungsbetrages ab diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht umgesetzt worden ist (vgl. hierzu Senatsurteil vom 16. Juli 2021 – L 4 R 2898/20 – juris, Rn. 40).

Nicht Gegenstand des Verfahrens ist der Rentenbescheid vom 10. Juli 2017, mit dem die Beklagte die Höhe des monatlichen Rentenzahlbetrags unter Anrechnung des tatsächlich bezogenen Erwerbseinkommens der Klägerin rückwirkend ab Rentenbeginn neu berechnet und eine Überzahlung i.H.v. 7.535,22 € festgestellt hat. Die Klägerin hat diesen Bescheid weder mit dem Widerspruch und der Klage angefochten, noch ist dieser Verwaltungsakt gemäß § 86 SGG Gegenstand des im Streitfall durchgeführten Widerspruchsverfahrens geworden. Dies folgt schon daraus, dass der Bescheid nicht „während“ des Vorverfahrens, sondern vor dessen Beginn (§ 83 SGG) durch Erhebung des Widerspruchs vom 8. Mai 2018 gegen den Bescheid vom 9. April 2018 ergangen ist. Allerdings hat der Rentenbescheid vom 10. Juli 2017, wie die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 20. November 2018 klargestellt hat, auch nur als verwaltungstechnische Berechnungsgrundlage („Berechnungsbescheid“) gedient, während die Rücknahme der Witwenrentenbewilligung und die Rückforderung des überzahlten Betrages erst nach Anhörung der Klägerin durch den angefochtenen Bescheid vom 19. April 2018 verfügt worden ist. Soweit bereits im Rentenbescheid vom 10. Juli 2017 davon die Rede ist, dass die festgestellte Überzahlung zu erstatten sei, hat der streitgegenständliche Bescheid, der den Rückforderungsbetrag aufgrund der Nachzahlung der Deutschen Rentenversicherung Bund in reduzierter Höhe festgesetzt hat, jedenfalls erneut eine inhaltliche Erstattungsentscheidung getroffen und damit eine neue Regelung gesetzt, die als sog. Zweitbescheid den Rechtsweg wieder eröffnet (vgl. hierzu LSG Sachsen, Urteil vom 3. Mai 2018 – L 1 R 340/15 – juris, Rn. 34). Denn die Beklagte hat mit dem Anhörungsschreiben vom 18. September 2017 ein neues Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt, mit Bescheid vom 19. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2018 die (teilweise) rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 20. November 2015 verfügt, Ermessenserwägungen angestellt, eine Kostenerstattung i.H.v. 4.701,30 € verfügt und eine neue Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt.

3. Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat auf die zulässige isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Klägerin hin zu Recht den angefochtenen Bescheid vom 19. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2018 aufgehoben. Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte durfte den fehlerhaften Rentenbescheid vom 20. November 2015 nicht mit Wirkung für die Vergangenheit ab 1. Dezember 2015 zurücknehmen, denn der Rücknahme stand der Vertrauensschutz der Klägerin entgegen. Darüber hinaus hat die Beklagte auch das eingeräumte Ermessen bei ihrer Rücknahmeentscheidung nicht pflichtgemäß ausgeübt. Die Klägerin ist aus diesen Gründen auch nicht zur Rückzahlung der bezogenen Rentenleistungen i.H.v. 4.701,30 € verpflichtet.

a) Die angefochtenen Bescheide begegnen keinen formellen Bedenken. Insbesondere hat die Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheides vom 19. April 2018 zur beabsichtigten Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 20. November 2015 angehört (§ 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X). Auch konnte die Beklagte die Rentenbewilligung ausschließlich „hinsichtlich der Einkommensanrechnung“ zurücknehmen. Eine solche Teilaufhebung des ursprünglich geregelten Rentenspruchs ist grundsätzlich möglich (vgl. Senatsurteil vom 16. Juli 2021 – L 4 R 2898/20 – juris, Rn. 25). Denn die Anrechnung von Einkommen nach § 97 SGB VI lässt das (Stamm-)Recht auf große Witwenrente mit dem festgestellten Wert unberührt und mindert diesen nicht; die Vorschrift nimmt auf die wertbestimmenden Faktoren der Rente keinen Einfluss. Weder die Zahl der Entgeltpunkte noch der Rentenartfaktor oder der aktuelle Rentenwert werden durch die Einkommensanrechnung vermindert oder eingeschränkt. Die Regelung beschränkt sich vielmehr darauf, dass – bei gleichbleibendem Wert des Rechts auf Witwenrente – derjenige Betrag reduziert wird, dessen monatliche Auszahlung die Klägerin verlangen kann, d.h. sie schmälert bzw. beseitigt deren Recht, die Auszahlung des monatlichen Betrags zu verlangen (§ 194 Abs. 1 BGB), mit dem der Wert der Rente festgestellt wurde. In diesem Sinne konnte die Beklagte auch durch Verwaltungsakt isoliert den Anspruch der Klägerin auf den monatlichen Auszahlungsbetrag wegen der anspruchsvernichtenden „Anrechnung“ von Einkommen auf die monatlichen Zahlungsansprüche regeln und auf Null reduzieren (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 2014 – B 5 R 6/13 R – juris, Rn. 12 m.w.N.).

b) Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine rückwirkende Rücknahme des mit dem Rentenbescheid vom 20. November 2015 zuerkannten Auszahlungsbetrages der Witwenrente wegen anspruchsvernichtender Einkommensanrechnung lagen jedoch nicht vor.

Rechtsgrundlage für die Rücknahmeentscheidung der Beklagten ist § 45 Abs. 1 SGB X. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Eine Rücknahme ist nicht möglich, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Mit Wirkung für die Vergangenheit wird der Verwaltungsakt gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X nur bei Vorliegen von Wiederaufnahmegründen (§ 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. § 580 Zivilprozessordnung - ZPO) oder in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X zurückgenommen. Nach dieser Regelung kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (1.), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (2.) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (3.). Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme des begünstigenden Bescheides vor, steht die Rücknahmeentscheidung im behördlichen Ermessen („darf“).

aa) Der Rentenbescheid vom 20. November 2015, mit dem der Klägerin ein monatlicher Zahlbetrag der Witwenrente i.H.v. 241,42 € bewilligt worden war, war zwar im Umfang dieser Begünstigung von Anfang an rechtswidrig. Denn der Bescheid hätte bei Anrechnung des tatsächlichen (angegebenen) Erwerbseinkommens der Klägerin nicht mit diesem Inhalt erlassen werden dürfen. Vielmehr stand der Klägerin wegen der Höhe des anrechenbaren Einkommens ein Auszahlungsanspruch aus der zuerkannten Witwenrente für die Zeit ab 1. Dezember 2015 nicht zu.

Einkommen von Berechtigten, das mit einer Witwenrente zusammentrifft, wird nach Maßgabe von § 97 SGB VI hierauf angerechnet. Als Einkommen sind bei Renten wegen Todes nach der abschließenden Aufzählung des § 18a Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV - in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung des Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf vom 23. Dezember 2014) u.a. das Erwerbseinkommen, zu dem als Arbeitseinkommen auch die positive Summe der Gewinne aus selbständiger Tätigkeit zählt (§§ 18a Abs. 2 Satz 1, Abs. 2a Nr. 3 SGB IV, 15 SGB IV), sowie das Erwerbsersatzeinkommen, wie etwa eine Rente der Rentenversicherung wegen Alters (§ 18 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB IV), zu berücksichtigen. Maßgebend für die Einkommensanrechnung ist bei diesen Einkommensarten das Einkommen des letzten Kalenderjahres, geteilt durch die Zahl der Kalendermonate, in denen es erzielt wurde (§ 18b Abs. 2 Satz 1 SGB IV). Im Falle des Arbeitseinkommens ist das so ermittelte monatliche Einkommen um den Abzug pauschalierter Steuern und Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 39,8 vom Hundert zu kürzen (§ 18b Abs. 5 Nr. 2 SGB IV). Mehrere zu berücksichtigende Einkommen sind zusammenzurechnen (§ 18b Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Ein Zusammentreffen von Einkommen und Witwenrente liegt im Rechtssinne vor, wenn dem Rentenberechtigten für denselben Zahlungszeitraum sowohl gegen den Rentenversicherungsträger ein Zahlungsanspruch aus dem Renten(stamm)recht als auch zeitgleich ein Recht auf Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 2014 – B 5 R 6/13 R – juris, Rn. 17). Anrechenbar ist nach § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB VI das Einkommen, das monatlich das 26,4fache des aktuellen Rentenwertes übersteigt.

Das nach diesen Bestimmungen anrechenbare Einkommen der Klägerin aus selbstständiger Tätigkeit und Altersrente i.H.v. 812,63 € überstieg bereits ab Rentenbeginn den Wert des Rentenrechts von 512,56 € und führte deshalb nach Ablauf des Sterbevierteljahres (§§ 97 Abs. 1 Satz 2, 67 Satz 1 Nr. 6 SGB VI) zu einer Minderung des Rentenanspruchs dahingehend, dass die Witwenrente wegen der zahlungsanspruchsvernichtenden Einkommensanrechnung ab 1. Dezember 2015 als sog. „Nullrente“ hätte festgesetzt werden müssen. Dies entnimmt der Senat der Rentenberechnung aus der Anlage zum Rentenbescheid vom 10. Juli 2017. Die Beklagte hat darin die dargestellten Anrechnungsvorschriften zutreffend und rechnerisch richtig umgesetzt. Die Klägerin bestreitet die Richtigkeit der neuen Berechnung unter Berücksichtigung ihres tatsächlichen Einkommens aus selbständiger Tätigkeit und Altersrente auch nicht.

bb) Die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 20. November 2015 für die Vergangenheit (ab 1. Dezember 2015 bis 30. Juni 2017) wegen nachträglicher Anrechnung von Erwerbseinkommen ist jedoch rechtswidrig, weil die Klägerin sich auf Vertrauensschutz berufen kann. Ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 oder Abs. 3 Satz 2 SGB X liegt nicht vor. Die Klägerin hat die Rentenbewilligung vom 20. November 2015 weder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt, noch beruht die fehlerhafte Rentenberechnung der Beklagten auf Angaben, welche die Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Die Klägerin hat vielmehr im Rentenantrag vom 29. Oktober 2015 den Bezug von Altersrente sowie ihre selbständige Erwerbstätigkeit wahrheitsgemäß angegeben und der Beklagten vor Erlass des Rentenbescheids vom 20. November 2015 durch ihren Steuerberater das voraussichtliche Arbeitseinkommen des Jahres 2014 (29.856,00 €) auf dem hierfür vorgesehenen Vordruck in zutreffender Höhe mitgeteilt. Zur Überzeugung des Senats gibt es im Streitfall auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung erkannt hat. Dies behauptet die Beklagte auch nicht.

Der Senat teilt aber auch die Auffassung des SG, dass die fehlende Kenntnis der Rechtswidrigkeit nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht hat. Eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin lässt sich im vorliegenden Einzelfall nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen.

Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nur gegeben, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene den relevanten Umstand schon aufgrund einfachster, ganz naheliegender Überlegungen hätte erkennen können und daher nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R – juris, Rn. 23; Senatsurteil vom 16. Juli 2021 – L 4 R 2898/20 – juris, Rn. 69); dabei ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Einzelfalls abzustellen. Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde, hier die Rentenhöhe (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. April 2015 – L 10 R 1959/15 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, genügt es deshalb nicht, wenn die Klägerin wissen musste, dass die Beklagte bei Erlass des Rentenbescheids von falschen Tatsachen hinsichtlich der Höhe ihres Arbeitseinkommens ausgegangen ist. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Klägerin im Rahmen einer sog. Parallelwertung in der Laiensphäre auch erkennen musste, dass die darauf fußende Rentenbewilligung mit der Rechtslage unvereinbar gewesen ist und ihr die Witwenrente in der zuerkannten Höhe nicht zugestanden hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 10/20 R –, juris Rn. 30; Padé, in: Mutschler/Palsherm, jurisPK-SGB X, Stand Juni 2021, § 45 Rn. 87 f.)

Zur Überzeugung des Senats musste sich ein solcher Schluss der Klägerin aus dem Rentenbescheid vom 20. November 2015 und den Begleitumständen nicht aufdrängen. Dies folgt zunächst daraus, dass der Bescheid unmittelbar nach der zutreffenden Mitteilung des Arbeitseinkommens aus 2014 mittels des dafür vorgesehenen Vordrucks R0666 erlassen wurde und eine Berücksichtigung von Erwerbseinkommen auswies. Angesichts der vergleichsweise geringen Höhe der bewilligten Rente von lediglich 241,42 € musste der Klägerin als Laie die Fehlerhaftigkeit des Bescheids auch nicht ohne weiteres auffallen. Zugunsten der Klägerin ist insoweit zu berücksichtigen, dass ihr mit dem Bescheid erstmals eine Witwenrente zuerkannt wurde und ihr insofern auch ein Vergleichsmaßstab für eine entsprechende Einordnung der Rentenhöhe fehlte. Der Senat hält es unter diesen Umständen für nachvollziehbar, dass die Klägerin - wie sie in erster Instanz im Rahmen ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung 9. Juni 2020 angegeben hat - davon ausgegangen ist, dass mit dem Bescheid „soweit alles in Ordnung ist“, also auch das mitgeteilte Erwerbseinkommen von der Beklagten ordnungsgemäß berücksichtigt worden ist.

Wie das SG überzeugend herausgearbeitet hat, hat die Klägerin die gebotene Sorgfalt, die von ihr erwartet werden konnte und musste, damit nicht in besonders schwerem Maße verletzt. Die Fehlerhaftigkeit der Rentenbewilligung ergab sich weder aus dem Verfügungssatz noch aus der Begründung des Rentenbescheides vom 20. November 2015. Dass ihr die Witwenrente in der bewilligten Höhe nicht zustand, hätte die Klägerin – wenn überhaupt – nur durch eine genauere Auseinandersetzung mit der Berechnung der Rente in der Anlage zum Rentenbescheid herausfinden können. Zwar besteht eine Obliegenheit, Bescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R – juris, Rn. 25). Im Allgemeinen besteht jedoch kein Anlass, einen Verwaltungsakt des Näheren auf Richtigkeit zu überprüfen, wenn - wie hier - im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht worden sind (vgl. BSG, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Oktober 2016 – L 11 R 5371/15 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Das gilt auch dann, wenn die Behörde abstrakte Hinweise zu den Pflichten und Anspruchsvoraussetzungen – wie im aufgehobenen Bescheid zu den Mitteilungspflichten bei Einkommensbezug – erteilt hat. Andernfalls würde nämlich das Risiko der ordnungsgemäßen Umsetzung korrekter Angaben in einer von § 45 SGB X nicht vorgesehenen Weise von der Fachbehörde auf den Begünstigten übergewälzt. Eine Rechtspflicht, den erlassenen Verwaltungsakt umfassend auf seine Richtigkeit zu überprüfen, bestand deshalb nicht (vgl. Schütze, in: ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 67).

Von der Klägerin war daher nur zu erwarten, dass sie den Bewilligungsbescheid liest und zur Kenntnis nimmt. Diese gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte Obliegenheit folgt aus der allgemeinen Verpflichtung der Beteiligten des Sozialrechtsverhältnisses, sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren (BSG, a.a.O.; sowie BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 77/09 R – juris, Rn. 33). Unter dem Gesichtspunkt der Verletzung dieser Sorgfaltsobliegenheit ist eine Unkenntnis der Rechtswidrigkeit als grob fahrlässig zu beurteilen, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen und zur Kenntnis genommen, aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls so nicht besteht (LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Dabei können auch Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung, wie z.B. die Frage, ob und welches Einkommen bei der Rentenberechnung berücksichtigt wurde, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen (vgl. BSG, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. April 2015 –  L 10 R 1959/15 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Ist die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung anhand des Verfügungssatzes oder der in der Bescheidbegründung im Zusammenhang dargestellten Subsumtion nicht ohne weitere Überlegungen zu erkennen, kommt der Vorwurf grober Fahrlässigkeit regelmäßig nur in Betracht, wenn der Fehler augenfällig ist, d.h. dem Leistungsempfänger nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten sofort auffallen und ohne weiter Nachforschungen anhand ganz naheliegender Überlegungen einleuchten musste (BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R – juris, Rn. 28; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Oktober 2016 – L 11 R 5371/15 – www.sozialgerichtsbarkeit.de; LSG Hessen, Urteil vom 13. Oktober 2017 – L 5 R 61/16 – juris, Rn 44). Dieser Maßstab muss zur Überzeugung des Senats erst recht gelten, wenn die Fehlerhaftigkeit des Bescheids – wie im Streitfall – allein aus den umfangreichen Leistungsberechnungen zu ersehen ist, die von einem insoweit nicht geschulten Laien, der nicht täglich mit dieser Art von Berechnung zu tun hat, regelmäßig nur mit erheblicher Mühe nachvollzogen werden können.

Unter Beachtung dieser Grundsätze steht für den Senat nicht fest, dass der Fehler bei der Ermittlung des anzurechnenden Einkommens derart augenfällig gewesen ist, dass der Klägerin bereits bei einem Durchlesen der Anlagen zum Rentenbescheid die Unrichtigkeit der Rentenbewilligung ohne weiteres sofort hätte auffallen müssen. Dabei kann dahinstehen, ob – wie das SG gemeint hat – die betreffende Passage in der Anlage „Ermittlung des anzurechnenden Einkommens“ tatsächlich mehrdeutig gewesen ist und von der Klägerin auch so verstanden werden konnte, dass das angegebene „Arbeitseinkommen für 2014 aus selbstständiger Tätigkeit“ von 2.985,60 € sich nicht auf das ganze Jahr bezog, sondern bereits eine Umrechnung auf den Kalendermonat erfolgt war. Hiergegen wendet die Beklagte zu Recht ein, dass zumindest der weitere Rechenweg, vor allem die anschließende Division des bereinigten Betrags durch „12 Kalendermonate“ nahelegt, dass der Wert von der Behörde als Jahresarbeitseinkommen angesetzt worden war. Allein hieraus folgt jedoch noch nicht, dass die Klägerin die Fehlerhaftigkeit der Berechnung auch aufgrund einfachster und naheliegendster Überlegungen hätte erkennen können. Denn der Berechnung ist an keiner Stelle zu entnehmen, wie die Beklagte das „Arbeitseinkommen für 2014 aus selbstständiger Tätigkeit“ ermittelt hat. Es fehlt insbesondere ein Hinweis darauf, dass es sich bei dem angesetzten Wert um die (ungekürzte bzw. nicht bereinigte) Summe der Gewinne aus selbstständiger Tätigkeit handelt, die von der Klägerin im Antragsverfahren für das Kalenderjahr 2014 angegeben worden war. Die Unrichtigkeit der Tatsachenfeststellung der Beklagten zum Arbeitseinkommen ergab sich damit nicht schon eindeutig aus dem Bewilligungsbescheid selbst, sondern setzte einen Abgleich zwischen dem Inhalt des Bescheides und den Auskünften voraus, welche im Rahmen der Antragsbearbeitung gegeben worden waren (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. Juni 2018 – L 21 R 908/16 – juris, Rn. 36, welches das Erkennen solcher Widersprüche zu den anspruchsvolleren Vorgängen zählt). Die Argumentation der Beklagten, der Klägerin habe schon bei einem flüchtigen Durchlesen des Bescheids auf den ersten Blick auffallen müssen, dass der Einkommensbetrag gegenüber ihren Angaben um eine Kommastelle zu gering angesetzt worden sei, trifft unter diesen Umständen nur zu, wenn feststünde, dass die Klägerin sich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Rentenbescheid vom 20. November 2015 noch an den exakten Einkommensbetrag erinnerte, den ihr Steuerberater im Vordruck der Beklagten Wochen zuvor eingetragen hatte. Denn nur bei Kenntnis des genauen Betrags hätte die Klägerin den von der Beklagten geschilderten Rückschluss ziehen können und weitere Richtigkeitsüberlegungen anstellen müssen. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Denn die Klägerin hat im Berufungsverfahren vorgetragen, dass ihr dieser Betrag bei Empfang des Rentenbescheids nicht mehr in allen Details erinnerlich gewesen ist, was für den Senat lebensnah und nachvollziehbar ist.

Offenbleiben kann vor diesem Hintergrund, ob die Klägerin den gesamten Rentenbescheid nebst Anlagen tatsächlich gelesen und zur Kenntnis genommen hat. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2020 hat sie vor dem SG hierzu angegeben, den Bescheid überflogen und nicht genauer angeschaut zu haben. Dies ändert im vorliegenden Fall nichts am Fehlen von grober Fahrlässigkeit. Der Klägerin hätte bei genauem Studium der Anlagen zum Rentenbescheid vom 20. November 2015 zwar auffallen können, dass bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens als Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit für 2014 nur ein sehr niedriger Betrag ausgewiesen wurde. Das Nichthinterfragen dieser Tatsache begründet im Zusammenhang mit den dargestellten Umständen vorliegend aber nur einfache Fahrlässigkeit und kann der Klägerin mangels Augenfälligkeit des Berechnungsfehlers und der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung nicht als grobe und besonders schwere Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt vorgehalten werden.

c) Darüber hinaus hat die Beklagte auch das ihr eingeräumte Rücknahmeermessen fehlerhaft ausgeübt.

Wie der Wortlaut des § 45 Abs. 1 SGB X („darf“) verdeutlicht, handelt es sich bei der Rücknahme begünstigender Bescheide um eine behördliche Ermessensentscheidung. Dies gilt trotz des Wortlauts des Abs. 4 Satz 1 auch für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit (Senatsurteil vom 16. Juli 2021 – L 4 R 2898/20 – juris, Rn. 74; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand April 2018, § 45 Rn. 102 f. m.w.N.). Die Beklagte war somit zur Ermessenausübung verpflichtet. Dabei hatte sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I). Auf eine solche pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch der Klägerin (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I).

Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Denn es findet nur eine Rechtskontrolle der Ermessensentscheidung statt; deren Zweckmäßigkeit ist vom Gericht nicht zu beurteilen. Rechtswidrig ist eine Ermessensentscheidung u.a. bei einem sog. Ermessensfehlgebrauch (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieser liegt vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt, wenn sie nicht alle maßgebenden Ermessensgesichtspunkte in die Entscheidung einbezogen oder wenn sie die abzuwägenden Gesichtspunkte fehlerhaft gewichtet oder einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat (BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 2 U 10/10 R – juris, Rn. 15; Senatsurteil, a.a.O., Rn.75). Für die Rechtskontrolle durch das Gericht ist die Begründung des Verwaltungsakts und des Widerspruchsbescheides wesentlich. Aus dieser muss sich ergeben, dass vom Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht worden ist (zum Ganzen Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 27 ff. m.w.N.).

Vorliegend hat die Beklagte in die Ermessensabwägung die unzutreffende Erwägung eingestellt, dass kein Verschulden der Verwaltung vorgelegen hat und sich die Klägerin nicht auf Vertrauen berufen kann, weil sie ihren Mitteilungspflichten zumindest teilweise nicht nachgekommen sei. Der von der Beklagten zugrunde gelegte Sachverhalt erweist sich insoweit als unrichtig. Denn die Anrechnung eines zu niedrigen Arbeitseinkommens auf die Witwenrente hat tatsächlich allein auf internen Verwaltungsfehlern der Beklagten beruht. Die Klägerin hatte im Rahmen der Antragstellung ihr Einkommen aus selbständiger Tätigkeit zutreffend angegeben. Soweit die Beklagte im Ausgangsbescheid vom 19. April 2018 zur Begründung anführt, dass die Angaben im Vordruck R0666 nur zur Schätzung des Einkommens ab Rentenbeginn gedient hätten und diese Schätzung der Einkünfte bei Antragstellung immer erst nachträglich mit Vorlage der Einkommenssteuerbescheide rückwirkend überprüft werde, lässt sie unberücksichtigt, dass das Arbeitseinkommen der Klägerin gerade nicht in Höhe der geschätzten Einkünfte, sondern aufgrund eines internen Übertragungsfehlers in wesentlich niedrigerer Höhe ab Rentenbeginn auf die Witwenrente angerechnet worden ist. Unzutreffend ist darüber hinaus von der Beklagten auch im Widerspruchsbescheid vom 20. November 2018 als Gesichtspunkt fehlenden Vertrauens eine Verletzung von Mitteilungspflichten der Klägerin im Rahmen der Abwägung berücksichtigt worden. Der Umstand, dass die Klägerin ihren Mitteilungspflichten nach Bekanntgabe des Rentenbescheids vom 20. November 2015 unter Umständen nur verspätet nachgekommen ist, hat zur Fehlerhaftigkeit des Bescheids erkennbar nicht beigetragen und ist als Vertrauensgesichtspunkt – worauf des SG bereits zutreffend hingewiesen hat – allein im Rahmen einer Aufhebung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X von Bedeutung.

Hat damit vorliegend der Fehler im Verantwortungsbereich der Beklagten gelegen, die das angegebene Einkommen bei der Berechnung der Rente falsch zugrunde gelegt hat, und ist der Klägerin im vorliegenden Zusammenhang der Vorwurf der Verletzung von Mitteilungspflichten sowie der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligung nicht zu machen, ist die Beklagte bei ihren Ermessenserwägungen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, der zu einem rechtlich relevanten und vom Gericht überprüfbaren Ermessensfehler führt. Zwar ist die Beklagte nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 30. Oktober 2013 – B 12 R 14/11 R – juris, Rn. 33 ff. und vom 21. März 1990 – 7 RAr 112/88 – juris, Rn. 27) nicht verpflichtet gewesen, eigene Fehler im Ermessenswege zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Frage, auf wessen Verschulden das Zustandekommen der fehlerhaften Entscheidung beruht, für die Ermessensbetätigung bedeutungslos ist. Verursachungsbeiträge und Verwaltungsfehler gehören vielmehr grundsätzlich zu den bei der Ermessensabwägung zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls und können damit jedenfalls in die Interessenabwägung eingestellt werden (vgl. LSG Hessen, Urteil vom 30. Januar 2015 – L 5 R 390/12 – juris, Rn. 71; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand: 4. Juni 2021, § 45 SGB X Rn. 125). Das hat die Beklagte vorliegend auch getan, ist dabei jedoch von unzutreffenden Sachverhalten ausgegangen.

d) Nachdem die Aufhebung des Bescheides vom 20. November 2015 hinsichtlich der Rentenhöhe für die Vergangenheit rechtswidrig ist, besteht auch keine Erstattungspflicht der Klägerin gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit die Beklagte ausweislich der im Widerspruchsbescheid mitgeteilten Überzahlungssummen (Rentenüberzahlung von 4.586,98 €, Überzahlung von Beitragszuschüssen von 2.948,24 €) mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. April 2018 neben den erbrachten Rentenleistungen auch restliche Zuschüsse zur Krankenversicherung i.H.v. 114,32 € zurückfordert, scheidet ein Erstattungsanspruch auch deshalb aus, weil sie den entsprechenden Grundlagenbescheid vom 20. November 2015 nicht aufgehoben hat. Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind bereits erbrachte Leistungen nur zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Eine wirksame Aufhebung des Bescheids vom 20. November 2015 über die Bewilligung des Beitragszuschusses dem Grunde fehlt vorliegend jedoch. Denn die Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. April 2018 lediglich den Rentenbescheid vom 20. November 2015 aufgehoben, wie sich schon daraus ergibt, dass sie die Rücknahme nur „hinsichtlich der Einkommensanrechnung“ erklärt hat, die nicht Gegenstand des Grundlagenbescheides zum Beitragszuschuss ist. Der Beitragszuschuss ist nicht Teil der Rente, sondern stellt gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e) SGB I eine eigenständige Leistung der Rentenversicherung dar. Als eigenständiger Anspruch gemäß § 106 SGB VI bleibt seine dem Grunde nach erfolgte Bewilligung von Änderungen des Rentenanspruchs grundsätzlich unberührt. Nachdem die Beklagte den Bescheid über die Bewilligung des Beitragszuschusses dem Grunde nach nicht aufgehoben hat, ist dieser weiterhin wirksam (§ 39 Abs. 1 SGB X) und stellt damit zu Gunsten der Klägerin den Rechtsgrund für das Behaltendürfen der zurückgeforderten Zuschussleistungen dar (vgl. LSG Hessen, Urteil vom 18. Mai 2018 – L 5 R 316/15 – juris, Rn. 36).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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