L 20 KR 45/21 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 7 KR 955/20 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 KR 45/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Die Frage, ob ein Anordnungsgrund gegeben ist, darf nicht schematisch beurteilt werden. Erforderlich ist eine wertende Betrachtung im Rahmen einer Einzelfallentscheidung. Dabei dürfen die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes nicht überspannt werden.
2. Wird mit der zunächst erfolgten Beantragung eines Hängebeschlusses eine besondere Dringlichkeit angegeben, dann aber trotz einer zusprechenden erstinstanzlichen Entscheidung im normalen Eilrechtsschutz von der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Leistung mit Blick auf einen etwaigen Rückforderungsanspruch abgesehen und ist auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass eine zusprechende zweitinstanzliche Entscheidung in Anspruch genommen wird, ist ein Anordnungsgrund nicht (mehr) glaubhaft gemacht.

 

I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 18.01.2021 aufgehoben und der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes zu erstatten.

G r ü n d e :

I.

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (im Folgenden: Antragsteller) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes von der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) die Erteilung einer Abgabegenehmigung für die Apothekenabgabe einzeln importierter Arzneimittel nach § 73 Abs. 1 oder 3 Arzneimittelgesetz (AMG) für das Medikament Translarna(r) (im Folgenden: Translarna), Wirkstoff: Ataluren.
Anwendungsgebiet von Translarna ist laut Fachinformation die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei Jahren. Das Vorliegen einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen ist durch Gentest nachzuweisen (Fachinformation Translarna 125 mg/250 mg/1.000 mg Granulat zur Herstellung einer Suspension zum Einnehmen, Stand 07/2020).
Der im Jahr 2009 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Er ist erkrankt an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, humangenetisch gesichert, Mutation im Exon 41 c.5899C˃T, pArg1967Stop (Institut für Humangenetik W, 21.03.2017).

Mit Bescheid vom 20.01.2020 erteilte die Antragsgegnerin für den ursprünglich noch gehfähigen Antragsteller eine Genehmigung für die Apothekenabgabe von einzeln importierten Arzneimitteln für das Medikament Translarna nach § 73 Abs. 1 oder 3 AMG zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung bis 31.03.2020.
Bereits mit Schreiben vom 13.02.2020 beantragte der Antragsteller über die Universitätsklinik E eine weitere Genehmigung der Krankenkasse für das Medikament Translarna.

Der Antrag wurde nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Bayern vom 18.03.2020 (W) mit nicht angegriffenem Bescheid vom 25.03.2020 abgelehnt.
Mit ärztlichem Attest des Universitätsklinikums E vom 15.09.2020, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 22.09.2020, beantragte der nicht mehr gehfähige Antragsteller aufgrund der bestehenden Muskeldystrophie vom Typ Duchenne die Kostenübernahme für die Behandlung mit dem Medikament Translarna. Die Erkrankung des Antragstellers sei lebensbedrohlich, lebenszeitverkürzend und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigend. Sie führe zum Gehverlust, zu Herzversagen und zu Ateminsuffizienz mit Tod im jungen Erwachsenenalter. Der Antragsteller zeige ausgeprägte Krankheitssymptome und sei bei krankheitsbedingtem Verlust der Gehfähigkeit seit ca. einem Jahr dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Antragsteller erhalte derzeit das Medikament Translarna. Es diene der Erhaltung der Muskelrestfunktion sowie der Erhaltung der Restbeweglichkeit. Es sei von einem Behandlungserfolg auszugehen, da beim Antragsteller bislang keine weiteren schwerwiegenden Krankheitskomplikationen, z.B. behandlungsbedürftige Pneumonien, aufgetreten seien. Die Vermeidung bzw. die Herauszögerung der Erkrankungskomplikationen korreliere aus fachärztlicher Sicht direkt mit der konsequenten Einnahme des Medikaments Translarna. Unerwünschte Nebenwirkungen gebe es nicht. Seit der letzten Antragstellung auf Kostenübernahme habe sich keine Änderung ergeben. In Deutschland gelte die Behandlung mit Translarna (Ataluren) inzwischen als anerkannte Therapie bei Patienten mit einer Duchenne-Muskeldystrophie. Die von der Antragsgegnerin im März des Jahres mitgeteilte Einschätzung, dass keine Wirkungsfähigkeit vorliege bzw. dass 2019 die Erweiterung der Zulassung des Medikaments bei nicht gehfähigen Patienten abgelehnt worden sei, gelte inzwischen als überholt. Die Studienlage bestätige die Wirksamkeit von Translarna auch bei nicht gehfähigen Patienten eindeutig. Diesbezüglich werde auf die Ergebnisse der Phase III-Studie ACT DMD hingewiesen. Danach könne der progressive Verlauf der Erkrankung mit dem Einsatz von Translarna verlangsamt werden, obwohl die Erkrankung bei Verlust der Gehfähigkeit als weit fortgeschritten angesehen werden könne. Die Ergebnisse hätten zur Folge, dass nach einem Beschluss der europäischen Arzneimittelbehörde, European Medicines Agency (EMA), der Satz "keine Wirksamkeit bei gehunfähigen Patienten nachgewiesen" in den Fachinformationen gestrichen worden und Translarna auch zur Fortsetzung der Therapie für alle Patienten, die unter Translarna die Gehfähigkeit verloren hätten, befürwortet und zugelassen sei.

Mit Schreiben vom 25.09.2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass der Antrag unvollständig sei und forderte die korrigierte Fachinformation sowie die im Antrag genannte Studie und den Beschluss der EMA an. Weder die benannte Studie noch der entsprechende Beschluss lägen vor. Auch umfangreiche Recherchen durch die Antragsgegnerin hätten zu keinem anderen Ergebnis geführt. Über den unvollständigen Antrag könne daher nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Dreiwochenfrist entschieden werden.

Das Universitätsklinikum E übersandte daraufhin die "PTC Therapeutics Announces CHMP Recommendation of Translarna (ataluren) Label Update for Non-Ambulatory Patients with Duchenne Muscular Dystrophy" vom 29.06.2020.
Mit Schreiben vom 29.09.2020 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller, dass zur weiteren Bearbeitung eine Bewertung des MDK eingeholt werde. Sobald die Stellungnahme vorliege, erfolge rasch eine Entscheidung.

Der MDK Bayern (W) führte am 19.10.2020 nach Aktenlage folgende Diagnose an: Muskeldystrophie Duchenne, human genetisch gesichert 03/2017. Bei Translarna handele sich um ein in Deutschland zugelassenes Medikament, auch wenn das Arzneimittel durch den Hersteller zwischenzeitlich vom deutschen Markt genommen worden sei. Unabhängig davon, dass das Medikament in Deutschland nicht mehr vertrieben werde, bleibe die deutsche Zulassung gültig. Das Arzneimittel sei weiterhin aufgrund einer europäischen Zulassung verkehrsfähig und eine Versorgung auf dem Wege der Einfuhr nach § 73 Abs. 1 AMG grundsätzlich möglich. Das Arzneimittel könne von der örtlichen Apotheke aus dem europäischen Ausland besorgt werden. Im zu begutachtenden Einzelfall solle eine Duchenne Muskeldystrophie bei einem nicht gehfähigen Patienten behandelt werden. Damit erfolge die beantragte Therapie im Off-Label-Use. Das Weglassen des Satzes "bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen" aus der Fachinformation Translarna (Wirkstoff Ataluren) lasse nicht den Schluss zu, dass die EMA ihre Bewertung gegenüber dem Einsatz von Translarna zum Einsatz bei nicht gehfähigen Patienten maßgeblich geändert habe, denn die Zulassungsindikation bleibe auch nach dieser Änderung auf gehfähige Patienten beschränkt. Sozialmedizinisch entscheidend sei die Bewertung der EMA, die eine beantragte Zulassungserweiterung des Arzneimittels zurückgewiesen habe. Gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, habe ein Versicherter auch bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung keinen Anspruch auf Versorgung mit einem im Ausland für diese Indikation zugelassenen Arzneimittel, wenn die EMA im zentralisierten Zulassungsverfahren die Zulassung des Arzneimittels zur Behandlung dieser Erkrankung bereits abgelehnt habe. Somit könne eine sozialmedizinische Befürwortung des Off-Label-Use laut der Rechtsprechung des BSG im vorliegenden Falle nicht erfolgen, auch wenn keine medikamentösen Behandlungsalternativen genannt werden könnten.

Mit Bescheid vom 26.10.2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers vom 22.09.2020, eine Abgabegenehmigung für das Arzneimittel Translarna (Wirkstoff Anteilurin) zu erteilen, ab. In Bayern unterliege die Apothekenabgabe von einzeln importierten Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 oder 3 AMG einem Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen. Translarna sei für gehfähige Patienten ab einem Alter von zwei Jahren zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen. Bei nicht gehfähigen Patienten sei keine Wirksamkeit des Arzneimittels nachgewiesen. Der Hersteller habe im Jahr 2019 eine Erweiterung der Zulassung für nicht mehr gehfähige Patienten beantragt, die jedoch von der Zulassungsbehörde nicht genehmigt worden sei, da nicht festgestellt werden habe können, dass der Nutzen die Risiken des Arzneimittels überwiege.

Hiergegen legte die Vertreterin des Antragstellers mit Schreiben vom 13.11.2020, eingegangen am 21.11.2020, Widerspruch ein.
Mit Schriftsatz vom 17.12.2020 haben die Antragstellerbevollmächtigten beim Sozialgericht (SG) Nürnberg, eingegangen am selben Tag, einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zugleich ist "aufgrund der Dringlichkeit der medikamentösen Versorgung" der Erlass eines "Hängebeschlusses" beantragt worden für den Fall, dass eine zeitnahe Entscheidung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich sei. Die beim Antragsteller vorliegende Muskeldystrophie Duchenne sei eine seltene, aber schwerwiegend verlaufende Erkrankung. Der zunehmende Muskelabbau in der Hüft- und Oberschenkelmuskulatur führe bereits im frühen Kindesalter zu Auffälligkeiten beim Gehen sowie Schwierigkeiten beim Treppensteigen und Aufstehen. Im weiteren Krankheitsverlauf nehme die Gehfähigkeit zusehends ab und gehe zwischen dem zehnten und 13. Lebensjahr gänzlich verloren. Ab diesem Zeitpunkt seien die Betroffenen auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Teenager-Alter führe der Dystrophin-Mangel zu einer Schwächung der Atem- und Herzmuskulatur, die letztlich dazu führe, dass eine künstliche Beatmung erfolgen müsse. Zu Beginn des dritten Lebensjahrzehnts seien die Betroffenen vollständig pflegebedürftig und würden in der Regel vor dem Erreichen des 30. Lebensjahres sterben. Ursache der Muskeldystrophie Duchenne sei ein genetischer Defekt. Die Behandlungsoptionen seien sehr begrenzt. Für Duchenne-Patienten mit einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen, wie beim Antragsteller, sei seit Juli 2014 das Arzneimittel Translarna (Wirkstoff: Ataluren) in der Europäischen Union (EU) zugelassen. Ausweislich der Fachinformationen sei Translarna zunächst bei gehfähigen Patienten im Alter ab fünf Jahren angewendet worden. Es sei festgestellt gewesen, dass bei nicht gehfähigen Patienten keine Wirksamkeit nachgewiesen worden sei. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung sei Translarna durch die Europäische Kommission als "Orphan Drug" (Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens) ausgewiesen. Translarna habe das Verfahren der frühen Nutzenbewertung beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zunächst im Jahr 2015 und aufgrund einer Befristung des ersten Beschlusses noch einmal im Jahr 2016 durchlaufen. In beiden Verfahren habe der G-BA dem Arzneimittel einen Zusatznutzen zugesprochen. Aus kommerziellen Gründen sei das Arzneimittel jedoch infolge der Preisregulierung durch das ANMOG-Verfahren (§§ 35a und 130b SGB V) in Deutschland aus dem Vertrieb genommen worden. Das Arzneimittel sei aufgrund der europaweiten Zulassung aber weiterhin voll verkehrsfähig und in anderen EU-Mitgliedsstaaten auch nach wie vor auf dem Markt verfügbar. Eine Versorgung von Patienten könne in Deutschland somit im Wege des Imports nach § 73 Abs. 1 AMG erfolgen. Eine anfängliche Behandlung des Antragstellers mit dem symptomatisch wirkenden Kortikosteroid Calcort sei im Dezember 2017 wegen Gewichtszunahme abgesetzt worden. Im selben Monat sei die Einstellung auf Translarna erfolgt. Der Antragsteller sei zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt und noch gehfähig gewesen. Die Behandlung sei daher zunächst im zugelassenen Anwendungsgebiet erfolgt. Eine Genehmigung der Krankenkasse nach § 3 Abs. 8 Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern für den Import aus dem EU Ausland nach § 73 Abs. 1 AMG sei zunächst von der Krankenkasse auch erteilt worden, zuletzt am 20.01.2020 befristet bis zum 31.03.2020.
Der Antragsteller habe zum Jahreswechsel 2019/2020 zunehmend seine Gehfähigkeit aufgrund der Progression der Erkrankung verloren. Ende Januar 2020 habe er einen Rollstuhl beantragen müssen. Die im Februar 2020 beantragte Verlängerung der Genehmigung zur Behandlung mit Translarna sei von der Antragsgegnerin abgelehnt worden. Zwischenzeitlich habe der Hersteller des Arzneimittels Translarna bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA weitere Daten zur Wirksamkeit des Arzneimittels bei nicht mehr gehfähigen Patienten vorgelegt. Nach Prüfung habe die EMA auf diese Daten mit einer Änderung der Fachinformation reagiert. Der bisherige Zusatz in Abschnitt 4.1 "bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen" sei ersatzlos gestrichen worden. Seit 23.07.2020 laute die aktuelle Fachinformation wie folgt: "Translarna wird angewendet für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer solchen Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab 2 Jahren (...)". Aufgrund der Änderung in der Fachinformation sei der neue Antrag nunmehr erfolgt. Um eine weitere Therapieunterbrechung zu verhindern, sei nun gerichtlicher Eilrechtsschutz geboten.

Der Anspruch des Antragstellers ergebe sich aus §§ 31, 34 SGB V, da aufgrund der Zulassung durch die EMA und der Verkehrsfähigkeit das Arzneimittel innerhalb des zugelassenen Anwendungsgebiet zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungs- und erstattungsfähig sei. Hieran ändere nichts, wenn das Arzneimittel aus der EU importiert werden müsse, es bedürfe dafür lediglich der Genehmigung gemäß § 3 Abs. 8 Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern i.V.m. § 73 Abs. 1 AMG. Die Therapie erfolge innerhalb des Anwendungsgebietes von Translarna, da sie zu einem Zeitpunkt aufgenommen worden sei, zu dem der Antragsteller noch gehfähig gewesen sei. Der Verlust der Gehfähigkeit unter fortlaufender Therapie führe nicht dazu, dass die Fortführung der Behandlung als "off-label" anzusehen sei. Maßgeblich sei der Zeitpunkt der Therapieinitiierung. Das müsse jedenfalls gelten, nachdem der Satz zu nicht gehfähigen Patienten aus den Fachinformationen gestrichen worden sei.

Hilfsweise sei der Anspruch auf § 2 Abs. 1a SGB V zu stützen. Die Erkrankung des Antragstellers sei geradezu der Prototyp hierfür. Eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf liege vor. Durch die Änderung der Fachinformation sei das hinreichend belegt. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich aus der Lebensbedrohung und aufgrund der hohen Therapiekosten, die sich im Jahr auf einen größeren dreistelligen Betrag belaufen würden.
Die Antragsgegnerin hat ausgeführt, das die Zulassungsindikation auch nach der Änderung auf gehfähige Patienten beschränkt geblieben sei. Ein Anordnungsanspruch bestehe nicht. Dies gelte sowohl für den Off-Label-Use bei indikationsfremdem Einsatz eines für ein anderes Anwendungsgebiet zugelassenen Arzneimittels zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Urteil des BSG vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R, als auch nach den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V. Im Hinblick auf die Abgabeberechtigung im Rahmen des Arzneimittel-Einzelimports sei für das Medikament Translarna festgelegt, dass eine Zulassung bestehe für Patienten, die gehfähig seien, im Alter ab zwei Jahren. Eine Indikationserweiterung für nicht mehr gehfähige Patienten sei seitens der EMA im Oktober 2019 abgelehnt worden. Aufgrund der Urteile des BSG vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16, sowie vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17, könne die beantragte Genehmigung nicht erteilt werden, da die Zulassungserweiterung durch die EMA geprüft und abgelehnt worden sei. Darüber hinaus sei auch kein Anordnungsgrund vorhanden.

Die Antragstellerbevollmächtigten haben angeführt, dass im Gegensatz zu den von der Antragsgegnerin angeführten BSG-Entscheidungen vorliegend das beantragte Arzneimittel für das vorliegende Krankheitsbild eine Zulassung habe und damit Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit für dieses Krankheitsbild nachgewiesen seien. Das in seiner Wirksamkeit bestätigte Wirkprinzip ermögliche eine Produktion des - unabhängig von der Gehfähigkeit - benötigten Dystrophins. Die europäische Zulassungsbehörde habe nach Vorlage weiterer Daten die Fachinformation angepasst.
Das SG Nürnberg hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 18.01.2021 verpflichtet, vorläufig, bis zum Eintritt der Rechtskraft in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.12.2021, die Versorgung des Antragstellers mit dem Arzneimittel Translarna (Wirkstoff: Ataluren) zu genehmigen.

Mit Schreiben vom 22.01.2021 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller Abgabegenehmigungen ab dem 18.01.2021 bis längstens 31.12.2021 nach jeweiliger ärztlicher Verordnung für das streitgegenständliche Arzneimittel unter dem Vorbehalt der Rückforderung erteilt. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.02.2021 ist der Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.10.2020 zurückgewiesen worden.

Gegen den am 27.01.2021 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15.02.2021, eingegangen beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) am selben Tag, Beschwerde eingelegt und diese wie folgt begründet: Es liege kein Anordnungsanspruch vor. Eine Folgenabwägung habe nicht zu erfolgen, da die Erfolgsaussichten nicht offen seien. Der Leistungsanspruch des Antragstellers sei nach den erstinstanzlich getroffenen Feststellungen zweifellos ausgeschlossen, da die Leistung nicht vom GKV-Leistungskatalog umfasst sei. Es liege keine indikationsgemäße Anwendung des begehrten Arzneimittels Translarna vor. Die Indikation für Translarna erstrecke sich lediglich auf gehfähige Patienten, eine darüber hinausgehende Zulassung liege nicht vor. Der Inhalt der Zulassung ergebe sich aus § 22 AMG iVm § 29 AMG. Die Zulassung erfolge speziell für eine medizinische Indikation. Der bestimmungsgemäße Gebrauch sei danach nicht nur aus den angegebenen Wirkungen im Anwendungsgebiet, sondern auch aus den Gegenanzeigen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Mitteln zu bestimmen. Die Zulassung für Translarna beschränke sich auf gehfähige Patienten. Hierfür spreche auch die Ablehnung der Zulassungserweiterung durch die EMA sowie der ausdrückliche Hinweis bei Änderung der Fachinformationen, dass die Streichung des Satzes keine Auswirkungen auf die bestehenden Gebrauchseinschränkungen habe. Ein Anspruch bestehe auch nicht nach den Grundsätzen des Off-Label-Use, da keine Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht seien, die einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen würden. Es bestehe auch kein Anspruch aufgrund des § 2 Abs. 1a SGB V bzw. aus den Grundrechten selbst. Dieser Anspruch bestehe nicht, wenn ein Zulassungsverfahren in Deutschland oder europaweit bereits ablehnend entschieden worden sei. Vorliegend sei die seitens des Herstellers begehrte Zulassungserweiterung ablehnend von der EMA aufgrund der Gutachten vom 27.06.2019 und 17.10.2019 entschieden worden (BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Diese Sperrwirkung könne nicht durch jedwede neue Datenlage überholt werden, sondern nur durch eine Wiederaufnahme des Zulassungsverfahrens. Außerdem liege auch keine neue Datenlage vor seit dem 17.10.2019. Darüber hinaus müsse eine neue Datenlage die Qualität von Phase III-Studien besitzen, um die Sperrwirkung zu durchbrechen (BSG, Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R). Eine solche liege nicht vor. Die Datenlage des Fachartikels "Expertenempfehlung: Therapie nicht gefähiger Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne" aus "Der Nervenarzt" vom 19.11.2020 sowie im DMD/BMD-Patientenregister-Newsletter, Sonderausgabe / Dezember 2020, sei bereits zum Zeitpunkt der Entscheidungen durch die EMA bekannt gewesen. Die Änderung des Mindestalters für Patienten in den Fachinformationen von fünf auf zwei Jahre und der pauschale Hinweis auf einen "weitgehenden Konsens in medizinischen Fachkreisen" lasse keinen Schluss auf die Wirksamkeit bei nicht gehfähigen Patienten zu. Die Fachinformationen seien lediglich aus formalen Gründen geändert worden. Eine sozialmedizinische Stellungnahme des MDK-Bayern (W) vom 03.02.2021 ist vorgelegt worden. Dieser hat ausgeführt, dass die neu vorgelegten Unterlagen nicht die Qualität von Phase III-Studien hätten.
 
Die Antragstellerbevollmächtigten haben erwidert, dass im Nachgang zum Beschluss des SG Nürnberg der Antragsgegner eine Kostenübernahmeerklärung nach § 3 Abs. 8 Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern abgegeben habe, allerdings unter dem Vorbehalt einer zukünftigen Rückforderung. Aufgrund des damit verbundenen finanziellen Risikos habe die Behandlung mit dem begehrten Medikament nicht wiederaufgenommen werden können. Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid sei Klage zum SG Nürnberg erhoben worden. Der begehrte Gebrauch von Translarna sei in-label. Die Änderung in den Fachinformationen in Ziff. 4.1 habe dies klarstellen wollen. Die Anwendung des § 2 Abs. 1a SGB V sei daher gar nicht erforderlich. Aber auch bei Anwendung des § 2 Abs. 1a SGB V entfalte die Entscheidung des BSG keine Sperrwirkung, da wesentlich neue Begebenheiten vorlägen. Zudem werde auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 04.02.2021, L 5 KR 211/20, hingewiesen. Das LSG Rheinland-Pfalz habe das vorliegend begehrte Medikament einem nicht gehfähigen Patienten zugesprochen. Darüber hinaus sei insbesondere zu betonen, dass die Anpassung der Fachinformationen für das streitgegenständliche Medikament nicht nur aufgrund einer Anpassung an die Formulierungsrichtlinien für Packungsbeilagen erfolgt sei. Dass vielmehr der Verlust der Gehfähigkeit nicht als Stoppkriterium für die Weiterbehandlung anzusehen sei, ergebe sich aus Ziff. 5.2 der Fachinformationen: "Bei Patienten, die ihre Gehfähigkeit verlieren, ist keine Dosisanpassung erforderlich." Hilfsweise sei der Anspruch jedenfalls nach dem Off-Label-Use bzw. nach § 2 Abs. 1a SGB V begründet. Mit Blick auf die Expertenempfehlung bemängele die Antragsgegnerin, dass es sich lediglich um eine Empfehlung entsprechend der Evidenzklasse IV handele. Dazu sei anzumerken, dass sich die Aussage der Experten nicht auf Translarna beziehe, sondern auf andere in der Empfehlung ebenfalls abgehandelte medikamentöse Therapien, die sich eben noch in der Prüfungsphase befänden. Ferner führe die Antragsgegnerin an, dass die im Artikel zitierten Leitlinien von Birnkrant aus dem Jahr 2018 stammten und hier die Datenlage zu nicht gehfähigen Patienten begrenzt sei. Hierzu sei anzumerken, dass die Leitlinien von einem sog. Steering Committee in den Jahren 2014-2017 überarbeitet und dann im Januar 2018 veröffentlicht worden seien. In der Tat habe es vor 2017 nur wenige Daten zu nicht gehfähigen Patienten gegeben, jedoch gebe es bis dato keine aktuelleren Leitlinien zur Diagnose und zum Management der Duchenne-Muskeldystrophie. Die Änderung der Fachinformation von Translarna sei im Juli 2020 erfolgt. Es handele sich hierbei um eine inhaltliche Klarstellung, dass sich die Indikation "gehfähige Patienten" in Abschnitt 4.1 auf eine identifizierte Patientenpopulation beziehe, aber eben der Verlust der Gehfähigkeit nicht als Stoppkriterium für die Weiterbehandlung anzusehen sei.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des SG Nürnberg vom 18.01.2021 aufzuheben und den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Rechtsstreit ist am 29.03.2021 erörtert worden. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akten des Bayerischen LSG (L 20 KR 45/21 B ER) sowie die beigezogenen Akten des SG Nürnberg (S 7 KR 955/20 ER) sowie der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerechte Beschwerde ist zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und begründet. Der Beschluss des SG Nürnberg vom 18.01.2021 wird aufgehoben und der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.
 
Der Senat legt der Entscheidung zugrunde, dass das SG Nürnberg über den Antrag des Antragstellers in erster Instanz abschließend entschieden hat und kein verdeckter Teilbeschluss vorliegt, es also keines Heraufholens von Prozessrechten bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.2019, B 2 U 8/18 R, Rn. 10 - juris; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 25.05.1992, 4 S 272/91, Rn. 18 und 19 - juris). Zwar hat das SG Nürnberg den Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig, bis zum Eintritt der Rechtskraft in der Hauptsacheentscheidung, die Versorgung des Antragstellers mit dem Arzneimittel Translarna (Wirkstoff: Ataluren) zu genehmigen, in seinem zusprechenden Tenor in zeitlicher Hinsicht ("längstens jedoch bis zum 31.12.2021") eingeschränkt, ohne den Antrag im Übrigen abzulehnen. In Zusammenschau mit den Urteilsgründen ist jedoch ersichtlich, dass das SG Nürnberg über den Antrag vollumfänglich entschieden hat und entscheiden wollte und die entsprechende zeitliche Begrenzung bewusst und den Antrag begrenzend vorgenommen hat. So wird in den Beschlussgründen ausdrücklich die erfolgte Befristung erläutert.
Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist für den vorliegenden Eilantrag, da der Antragsteller die Erweiterung seiner Rechtsposition begehrt, die Vorschrift des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG.
Hiernach kann das Gericht durch Erlass einer so genannten "Regelungsanordnung" eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG liegt nicht vor (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), da keine (reine) Anfechtungsklage in der Hauptsache statthaft ist. Die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den das Begehren gestützt wird - voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen, wobei auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.02.2009, 1 BvR 120/09, Rn. 18 - juris; § 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 924 Zivilprozessordnung (ZPO); s.a. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 41). Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang für das Obsiegen in der Hauptsache eine erhöhte Wahrscheinlichkeit spricht. Ist beziehungsweise wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Soweit existenziell bedeutsame Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verlangt dann eine besondere Ausgestaltung, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Soweit sich das Gericht an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert, sind diese abschließend zu prüfen (vgl. hierzu: BVerfG, (Kammer-)Beschlüsse vom 08.07.2020, 1 BvR 932/20; vom 14.3.2019, 1 BvR 169/19; vom 25.10.1998, 2 BvR 745/88; vom 19.10.1977, 2 BvR 42/76; vom 22.11.2002, 1 BvR 1586/02 und vom 12.05.2005, BvR 569/05 - jeweils zitiert nach juris).

Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 86b Abs. 2 SGG kommt es hinsichtlich der rechtlichen und sachlichen Voraussetzungen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz nicht zu gewähren.

Ein Anordnungsgrund ist zum Entscheidungszeitpunkt nicht (mehr) glaubhaft gemacht, d.h. nicht (relativ) überwiegend wahrscheinlich.
Grund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist die Eilbedürftigkeit einer Angelegenheit. Damit unterscheidet sich das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wesentlich vom Hauptsacheverfahren. Das Bedürfnis für die im einstweiligen Rechtsschutz zu treffende Zwischenregelung ergibt sich daraus, dass es dem Antragsteller unzumutbar ist, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt daher Umstände voraus, aus denen sich die besondere Dringlichkeit der vorläufigen Regelung, also der Anordnungsgrund, ergibt. Ein Anordnungsgrund ist dann anzunehmen, wenn bei einem Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache schwere und unzumutbare Nachteile drohen würden, die nicht anders als durch den Erlass der einstweiligen Anordnung abgewendet und ohne eine solche Anordnung auch nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Ein Anordnungsgrund baut auf rechtlich geschützten Interessen auf, insbesondere Grundrechtsbeeinträchtigungen. Im sozialgerichtlichen Verfahren gilt dies ganz besonders mit Blick auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG)) (vgl. Harks in Hauck/Behrend, SGG, 45. EL 01/2020, § 86b, Rn. 153 ff - m.w.N.).
Die Frage, ob ein Anordnungsgrund gegeben ist, darf nicht schematisch beurteilt werden. Erforderlich ist vielmehr eine wertende Betrachtung im Rahmen einer Einzelfallentscheidung, nämlich ob im konkreten Einzelfall ein wesentlicher Nachteil vorliegt, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen kann. Bei dieser Abwägung ist zu beachten, dass das Interesse an einer vorläufigen Regelung umso weniger zurückgestellt werden darf, umso schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und umso geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese Belastungen im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können. Insbesondere darf nicht durch eine übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften der Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzt werden. Dies hat auch zur Folge, dass zur Gewährleistung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes nicht überspannt werden dürfen (zur Rspr. des BVerfG zum Anordnungsgrund in sozialgerichtlichen Eilverfahren vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.10.2020, 1 BvR 1106/20, vom 01.08.2017, 1 BvR 1910/12, vom 12.09.2016, 1 BvR 1630/16, vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12, vom 28.09.2009, 1 BvR 1702/09, und vom 16.05.1995, 1 BvR 1087/91.
Dies zugrunde gelegt, ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller eine Entscheidung in der Hauptsache nicht abwarten kann; ein Anordnungsgrund ist somit nicht gegeben.

Der Senat ist sich bei seiner im hier zu entscheidenden Fall zu treffenden rechtlichen Einschätzung zum Anordnungsgrund bewusst, dass in Fällen mit einer Konstellation wie hier (lebensbedrohliche Erkrankung, keine Therapieoptionen, ganz erhebliche Kosten der beantragten Behandlung) in nicht seltenen, wenn nicht sogar in der überwiegenden Zahl der Fälle, ein Anordnungsgrund nicht verneint werden kann, da Versicherte mit Blick auf die bei ihnen vorliegende lebensbedrohliche Erkrankung(en) keinen anderen Weg sehen, als sich im Wege eines gerichtlichen Eilverfahrens die von ihnen als unaufschiebbar und unabdingbar betrachtete erforderliche Behandlung zu verschaffen. Dies kann - soweit das Gericht die Erfolgsaussichten nicht nach abschließender Prüfung verneint - dazu führen, dass zumindest im Wege der Folgenabwägung Leistungen vorläufig zu gewähren sind (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.07.2020, 1 BvR 932/20). Dies führt jedoch auch zur Gefahr, dass (mit ganz erheblichen Kosten verbundene) Leistungen einstweilig zugesprochen werden, die bei abweichendem Ausgang des Hauptsacheverfahrens - z.B. durch die Krankenkasse - zurückgefordert werden. Im vorliegenden Verfahren lässt sich aber auch unter Berücksichtigung der im Raum stehenden verfassungsrechtlichen Wertungen und bei, um eine Überspannung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu vermeiden, niedrig angesetzten Anforderungen an die Glaubhaftmachung eine einstweilige Anordnung - abweichend von vielen anderen Fällen - nicht rechtfertigen. Dem liegen folgende Erwägungen des Gerichts zugrunde:

Wesen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Regelung eines vorläufigen Zustandes. Dem immanent ist, dass der vorläufige Zustand im Falle eines abweichenden Hauptsacheverfahrens rückabgewickelt wird. Darüber hinaus besteht (sogar) die Gefahr einer Schadensersatzpflicht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 945 ZPO). Soll ein rechtssicherer Zustand erreicht werden, ist nicht der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, sondern die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens das Mittel der Wahl. Erst mit Eintritt der Rechtskraft einer Entscheidung kann (vorbehaltlich etwaiger rechtskraftdurchbrechender Verfahren) von einem sicheren Verbleib der zugesprochenen Leistung ausgegangen werden. Teilt der Antragsteller daher mit, eine vorläufige Regelung aufgrund der Gefahr etwaiger Rückforderung nicht in Anspruch nehmen zu wollen, ist ihm das Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren zuzumuten. Dem steht nicht entgegen, dass - je nach Ausgang des Hauptsacheverfahrens - ein Rückforderungsanspruch droht, weil über das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Leistung vorläufig beansprucht wird, die vom Antragsteller nicht vorfinanziert werden kann. So kann sich (grundsätzlich) gerade aufgrund der mangelnden (einstweiligen) Vorfinanzierungsmöglichkeiten ein Anordnungsgrund im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ergeben, wie im vorliegenden Fall bei Kosten in Höhe von ca. 500.000,- € jährlich. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes soll (auch) über diese Hürde hinweghelfen.
Ist jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich gemacht, dass eine im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gewährte Möglichkeit - vorliegend durch den antragstellerpositiven Beschluss erster Instanz sowie den Ausführungsbescheid der Antragsgegnerin - in Anspruch genommen wird, ist nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass das Abwarten des Hauptsacheverfahrens nicht zumutbar ist. Ausweislich des Vortrags des Antragstellerbevollmächtigten in der Beschwerdeerwiderung nahmen und nehmen die Eltern des Antragstellers die aufgrund der zusprechenden erstinstanzlichen Entscheidung von der Antragsgegnerin ausgestellte Abgabegenehmigung für einzeln importierte Arzneimittel vom 22.01.2021, hier: Translarna, gültig ab dem 18.01.2021 bis zum 31.12.2021, nicht in Anspruch, da sie - typisch für den Fall einer zuvor erfolgten zusprechenden einstweiligen Anordnung - unter dem Vorbehalt der Rückforderung ausgestellt worden ist. Aufgrund des damit verbundenen finanziellen Risikos, so der Antragstellerbevollmächtigte, könne eine Behandlung mit dem begehrten Arzneimittel Translarna nicht wieder aufgenommen werden. Dies zeigt ganz deutlich, dass nach der vom Antragsteller bzw. von dessen Eltern selbst getroffenen Wertung das Gesundheitsinteresse des Antragstellers, dem primär durch den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung Rechnung getragen werden sollte, hinter den wirtschaftlichen Interessen, wie sie mit einem potentiellen Rückforderungsanspruch tangiert sind, zurücktritt. Wenn somit bereits der Antragsteller selbst seine Gesundheitsinteressen hinter seine wirtschaftlichen Interessen zurückgestellt, können nicht für die Entscheidung des Gerichts die gesundheitlichen Interessen des Antragstellers als vorrangig und nach ihrem Gewicht überwiegend herangezogen werden.

Dem steht nicht der Vortrag des Antragstellerbevollmächtigten zur medizinischen Notwendigkeit der Einnahme des begehrten Translarnas (Wirkstoff: Ataluren) entgegen. Bereits das Verhalten infolge des Obsiegens erster Instanz spricht dafür, dass die Antragstellerseite die medizinische Notwendigkeit im Sinne eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (kein Abwarten der Hauptsacheentscheidung möglich) tatsächlich, wie sich dies aus ihrem Handeln ergibt, anders beurteilt, als sie dies schriftlich glauben machen will. Mit Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutzes beim SG Nürnberg am 17.12.2020 (mit Schriftsatz vom selben Tag) ist (sogar) der Erlass eines Hängebeschlusses beantragt und dies mit der "Dringlichkeit der medikamentösen Versorgung" begründet worden, soweit eine zeitnahe Entscheidung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich sei. Ein solcher - gesetzlich nicht geregelter - Hängebeschluss kommt - sozusagen als dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eingelagertes besonderes Eilverfahren, also als Eil-Eil-Verfahren - nur dann in Betracht, wenn wegen der besonderen Dringlichkeit einer alsbaldigen Entscheidung nicht einmal die Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wie er in den jeweiligen gerichtlichen Verfahrensordnungen vorgegeben ist, abgewartet werden kann und ohne einen solchen Hängebeschluss ein effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr gewährleistet wäre, also nur in absoluten Ausnahme-Notsituationen (vgl. z.B. Bayer. Verwaltungsgerichtshof, Beschlüsse vom 04.09.2020, 1 C 20.1893, und vom 28.01.2015, 22 C 15.197; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. (Stand: 19.03.2021), § 86b, Rn. 466; Schnitzer in Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl. (Stand: 01.11.2020), §§ 86a, 86b, Rn. 83). Das Prozessverhalten des Antragstellers ist insofern widersprüchlich. Einerseits will er das Gericht glauben machen, dass der Antragsteller das streitgegenständliche Medikament so dringlich einnehmen müsse und möchte, dass nicht einmal das Zuwarten bis zu einer Entscheidung erster Instanz im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes möglich sei. Andererseits bleibt die positive erstinstanzliche Entscheidung, die ihm diese Möglichkeit eröffnen würde, ungenutzt. Der Senat verkennt nicht die gravierende Erkrankung des Antragstellers und die möglichen Folgen. Die Antragstellerseite selbst verhält sich jedoch konträr zum eigenen Vorbringen (venire contra factum proprium), sodass nicht glaubhaft gemacht ist, weshalb das Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar sein sollte. Aus dem Prozessverhalten der Antragstellerseite kann daher der Senat bei Berücksichtigung aller Umstände nur den Rückschluss ziehen, dass die vom Antragsteller zunächst behauptete besondere Dringlichkeit, - aus eigener Antragstellersicht - weder im Sinne eines Hängebeschlusses noch im Sinne einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 SGG gegeben war bzw. zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ist.

Für die Einschätzung des Senats, dass eine Eilbedürftigkeit nicht im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht ist, spricht schließlich auch, wenn die Mutter des Antragstellers im Rahmen des Termins zur Erörterung der Sach- und Rechtslage bestätigt, dass "wir die Entscheidung eher nicht nutzen würden". Daraus bestätigt sich für den Senat, dass sich mit den gesundheitlichen Interessen des Antragstellers, die dieser selbst hinter seine wirtschaftlichen Interessen zurückstellt, im hier vorliegenden konkreten Einzelfall zum jetzigen Zeitpunkt eine Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft machen lässt, sondern nach derzeitigem Stand das Abwarten des Hauptsacheverfahrens zumutbar ist.
Ein Anordnungsgrund, wie er für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich ist, ist somit im vorliegenden Fall aufgrund der besonders gelagerten Umstände des Einzelfalls nicht glaubhaft gemacht. Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat nochmals darauf hin, dass auch mit Blick auf die schwerwiegende Erkrankung des Antragstellers und das im Raum stehende Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG die getroffene Wertung des Senats die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes nicht überspannt. Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, dass dem Antragsteller die Möglichkeit offensteht, erneut einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen, wenn er denn tatsächlich auch bereit sein sollte, die sich ihm aus einer positiven Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz ergebenden Möglichkeiten wahrzunehmen. Daraus, dass dem Antragsteller jetzt ein Erfolg versagt wird, er einen solchen aber im Rahmen eines erneuten Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz haben könnte, erwachsen ihm keine so tiefgreifenden Nachteile, dass dies, um zu vermeiden, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes überspannt würden, eine andere Beurteilung rechtfertigen würde. Denn anders als bei der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Studienplatzvergabe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.03.2005, 1 BvR 584/05) hat der Antragsteller nur eine weitaus kürzere und somit nur unwesentliche zeitliche Verzögerung - das erstinstanzliche Verfahren hat trotz der Weihnachtsfeiertage gerade einmal ein Monat gedauert; dafür, dass eine erneutes Verfahren länger dauern würde, spricht nichts - in Kauf zu nehmen, wenn ihm ein Erfolg im aktuellen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes jetzt verwehrt wird. Irgendein Grund, dem Antragsteller sozusagen auf Vorrat, aber ohne konkreten Nutzungswillen, über den Weg des einstweiligen Rechtsschutzes die Möglichkeit der Inanspruchnahme der begehrten Behandlung bei einem zukünftigen Gesinnungswandel betreffend den Nutzungswillen auch in Anbetracht der wirtschaftlichen Risiken einer Rückforderung nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens offenzuhalten, ist rechtlich nicht anzuerkennen.

Da ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist, ist schon aus diesem Grund der Beschwerde stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG nicht mit der Beschwerde zum BSG anfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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