L 11 R 706/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 3780/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 706/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 13.02.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1960 in der T Republik geborene Kläger absolvierte keine Berufsausbildung und erlangte keine berufliche Qualifikation. Er zog 1977 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Zuletzt war er versicherungspflichtig als Betonsäger bzw -bohrer beschäftigt. In der Zeit vom 23.01.2016 bis zum 18.10.2018 bezog der Kläger Kranken-, Arbeitslosen- bzw Übergangsgeld. Aktuell steht er im Bezug von Arbeitslosengeld II. Das Landratsamt Heilbronn stellte bei dem Kläger für die Zeit ab 26.10.2017 einen Grad der Behinderung in Höhe von 50 fest.

In der Zeit vom 12.02.2016 bis zum 03.03.2016 absolvierte der Kläger eine ganztägige ambulante Rehabilitation in der Rehabilitationseinrichtung M in U, aus der er arbeitsunfähig für seine letzte Tätigkeit als Betonschneider und mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr für mittelschwere körperliche Arbeiten, ständig im Stehen, Gehen oder Sitzen (Ausschluss von Tätigkeiten, die die volle Kraftentwicklung der rechten Hand benötigen, mit diadochokinetischen Bewegungsmustern, unter Einfluss von Kälte, Nässe und Zugluft) entlassen wurde. Der Leitende J diagnostizierte im Entlassbericht vom 11.03.2016 einen Belastungsschmerz der rechten Hand/des Handgelenks bei radiokarpaler Handgelenksarthrose rechts, eine knöchern konsolidierte Mittelgliedfraktur rechts am 22.10.2015, eine Ulnar-Plusvariante rechts sowie einen Diabetes mellitus Typ II.

Am 27.10.2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten erstmalig Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte veranlasste eine sozialmedizinische Begutachtung des Klägers. Der Internist und Sozialmediziner B2 gelangte in seinem Gutachten vom 28.12.2016 - unter Berücksichtigung der Diagnosen: Handgelenksarthrose rechts, leichte bis mittelgradige Funktionseinschränkung, kein Reizzustand, Impingementsyndrom linke Schulter, Zustand nach arthroskopischer subacromialer Dekompression Oktober 2016, gut mittelgradige Funktionseinschränkung, und Diabetes mellitus, unter oraler Medikation unzureichend eingestellt, ohne Folgenerkrankung - zu der Einschätzung, dass der Kläger seine letzte Tätigkeit als Betonsäger noch unter drei Stunden, jedoch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Stehen, Gehen oder Sitzen in Früh- und Spätschicht (Ausschluss von Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten, Überkopfarbeiten, Arbeiten mit besonderem Zeitdruck) sechs Stunden und mehr verrichten könne. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 04.01.2017 ab.

In der Zeit vom 25.09.2017 bis zum 18.10.2017 absolvierte der Kläger eine weitere ganztägige ambulante Rehabilitation im SRH G B, aus der er arbeitsunfähig entlassen wurde. Der P diagnostizierte im Entlassbericht vom 23.10.2017 eine therapieresistente Cervikobrachialgie links und Cervikocephalgie bei NPP C6/7 rechts, eine Lumboischialgie links bei Osteochondrose und Protrusionen sowie Spondylarthrose L3 bis S1, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einen Zustand nach arthroskopischer Dekompression der Schulter links am 07.10.2016, einen Zustand nach Thoraktomie 1981 bei TBC, einen Diabetes mellitus, eine arterielle Hypertonie sowie eine Prostatahyperplasie. Die letzte berufliche Tätigkeit als Betonbohrer könne er nur noch unter drei Stunden verrichten. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen seien sechs Stunden und mehr möglich. Ausgeschlossen seien Arbeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, überwiegenden Stoß- und Erschütterungsbelastungen, regelmäßigem Ersteigen von Leitern und Gerüsten, häufig anfallenden gewichtsbelastenden Armhebetätigkeiten, Kopfrückneigung und endgradig maximaler Kopfrotation, dauerhaften Kopfzwangshaltungen, kraftvollem Zupacken und regelmäßigem Armvorhalt sowie unter Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft.

Am 29.03.2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut Rente wegen Erwerbsminderung. In der Anlage zum Rentenantrag zur Feststellung der Erwerbsminderung vom 29.03.2018 gab er an, dass er sich wegen Depressionen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Problemen der linken Schulter, Beschwerden nach dem Unfall der rechten Hand, des Bewegungsapparates, Bluthochdruck, Herzbeschwerden, Diabetes mellitus, chronischen Schmerzstörungen und Atemproblemen seit Herbst 2015 für erwerbsgemindert halte. Er legte ein Attest des A vom 09.11.2017 vor, wonach der Kläger aufgrund persistierender Schmerzsymptomatik die berufliche Tätigkeit als Betonbohrer nicht mehr ausführen könne. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 05.06.2018 ab, weil die medizinischen Voraussetzungen nicht vorlägen. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.10.2018 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 14.11.2018 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Er - der Kläger - sei multimorbide. Er könne seinen Beruf als Betonbauer nicht mehr ausüben. Es bestehe auch kein Restleistungsvermögen für leichte Tätigkeiten bis zu sechs Stunden.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. Der W hat mit Schreiben vom 18.04.2019 mitgeteilt, dass bei dem Kläger eine arterielle Hypertonie und eine Aorteninsuffizienz vorlägen, die jedoch keine zusätzliche Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingten. Die für das berufliche Leistungsvermögen relevanten Diagnosen lägen auf orthopädischem Fachgebiet. Der B1 hat unter dem 24.04.2019 über eine einmalige Vorstellung des Klägers im Juli 2018 berichtet. Das für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers maßgebende Leiden bestehe nicht auf HNO-Fachgebiet. Der K hat mit Schreiben vom 17.04.2019 ausgeführt, dass sich der Kläger seit Dezember 2015 in seiner regelmäßigen ambulanten Behandlung aufgrund der Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und einer anhaltenden Schmerzstörung befinde. Die psychopharmakologische Behandlung erfolge mit dem Antidepressivum Citalopram 30 mg und dem Antipsychotikum Resperidon 1 mg. Das Leistungsvermögen solle nach einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung mit orthopädischem/psychosomatischem Schwerpunkt und aus der Prognose dieser Behandlung eingeschätzt werden. Der S hat unter dem 23.04.2019 über noch keine CPAP-therapiepflichtige Schlafapnoe sowie eine mäßige restriktive Ventilationsstörung berichtet und eine Gewichtsreduktion empfohlen. Er hat sich der Leistungseinschätzung des B2 angeschlossen. Der L hat mit Schreiben vom 25.05.2019 die Auffassung vertreten, dass für den allgemeinen Arbeitsmarkt eine Leistungsfähigkeit von unter drei Stunden täglich bestehe. Bei dem Kläger liege eine ausgeprägte depressive Symptomatik mit Antriebslosigkeit, Schlafstörung und Grübelzwang vor. Die antidepressive Therapie habe nur eine begrenzte Symptomlinderung erbracht. Des Weiteren bestehe ein chronisches Schmerzsyndrom mit chronischen Wirbelsäulen-, Hüft- und Knieschmerzen, Schmerzen des rechten Handgelenks mit Bewegungseinschränkung sowie eine deutlich schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der linken Schulter. Der A hat sich mit Schreiben vom 04.06.2019 den Feststellungen des Rentengutachtens des B2 angeschlossen. Die Hauptleiden lägen auf psychiatrischem und orthopädischem Fachgebiet. Der S hat mit Schreiben vom 11.07.2019 über Vorstellungen am 31.01.2018 und 09.07.2019 sowie über eine chronische Bronchitis, minimal obstruktiv, eine Hypertonie, einen Diabetes mellitus Typ II bei Übergewicht, noch keine CPAP-therapiepflichtige Schlafapnoe, eine mäßige restriktive Ventilationsstörung berichtet und sich der Beurteilung des B2 angeschlossen. Die Beklagte hat zu den ärztlichen Äußerungen die sozialmedizinische Stellungnahme der B3 vom 15.11.2019 vorgelegt.

Auf die Anfrage des SG hat K mit Schreiben vom 20.01.2020 ergänzend die Behandlungstermine seit 07.12.2015 mitgeteilt. Es habe eine psychiatrische Behandlung mit supportiver Gesprächstherapie stattgefunden.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13.02.2020 abgewiesen, weil der Kläger nicht erwerbsgemindert sei.

Gegen den seinen Bevollmächtigten am 19.02.2020 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 28.02.2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Den Schwerpunkt bildeten seine nervenärztlichen Beschwerden (schwergradige Depression, neurologische Beschwerden in Form einer chronischen Schmerzstörung und ausgeprägte therapieresistente Gesundheitsbeeinträchtigung auf orthopädischem Fachgebiet). Hinzu kämen internistische Beschwerden, die bei der Beurteilung seines quantitativen Leistungsvermögens eine untergeordnete Rolle spielten. K habe eine depressive Episode bei gegenwärtig schwerer Episode festgestellt und eine psychosomatische Rehabilitationsbehandlung empfohlen, die die Beklagte mangels Reha-Fähigkeit abgelehnt habe. Seine Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit sei derartig eingeschränkt, dass er keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten könne. Eine Reha-Maßnahme werde ihm nicht bewilligt. Ihm werde vorgeworfen, er würde keine ausreichenden Therapiemaßnahmen ergreifen, obwohl er in den zurückliegenden Jahren über 20 Behandlungstermine bei seinem Psychiater wahrgenommen habe. Dies sei widersprüchlich und werde seinen Beschwerden nicht gerecht.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 13.02.2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 05.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2018 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.03.2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist zur Begründung auf den angefochtenen Gerichtsbescheid.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens. Der G1 hat in seinem Gutachten vom 07.09.2020 aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 15.08.2020 eine Dysthymia mit einem somatoformen Schmerzsyndrom beschrieben. Ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit seien noch leichte körperliche Arbeiten mit Handhaben leichter Werkstücke und Handwerkszeuge bis zu 10 kg, Bedienen leichtgängiger Steuerhebel und Controller oder ähnlicher mechanisch wirkender Einrichtungen, Arbeiten im Sitzen, Stehen und Umhergehen sowie Heben (maximal 60 Minuten pro Schicht) und Tragen (maximal 30 Minuten pro Schicht) von Lasten bis 6 kg zumutbar. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit besonderer Anforderung an die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit oder besonderer nervlicher Belastung, mit besonderer Verantwortung für Menschen und Maschinen, in Nacht- oder Wechselschicht sowie auf Leitern oder Gerüsten. Der Kläger sei in der Lage, ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Besondere Arbeitsbedingungen seien nicht unerlässlich. Durch eine leitliniengerechte psychiatrische bzw psychotherapeutische Behandlung sei zu erwarten, dass binnen eines Jahres die angegebenen Leistungseinschränkungen teilweise wegfallen könnten.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein weiteres nervenärztliches Gutachten eingeholt. Der B4 hat in seinem Gutachten vom 06.06.2021 eine mittelgradige depressive Episode mit phobischer Symptomatik, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine leichte kognitive Beeinträchtigung, eine Adipositas permagna, einen Diabetes mellitus Typ II, eine arterielle Hypertonie, eine COPD, chronische Cervikobrachialgien bei degenerativen Veränderungen, rezidivierende Lumboischialgien bei degenerativen Veränderungen, einen Zustand nach arthroskopischer Dekompression der linken Schulter, eine radiokarpale Arthrose rechts und Zustand nach Mittelgliedfraktur rechts bei Zustand nach Unfall 2015, einen Zustand nach Thorakotomie wegen TBC 1981, eine Prostatahyperplasie, Status Varikosis und beidseitige Innenohrschwerhörigkeit diagnostiziert. Bei dem Kläger handele es sich um einen multimorbid kranken Mann mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. Der Kläger verfüge über eine sehr einfache intellektuelle Strukturierung mit einem entsprechenden Auffassungsvermögen. Es seien Gedächtnisdefizite hinsichtlich des Langzeitgedächtnisses festzustellen. Exaktere Untersuchungen hinsichtlich des Kurzzeitgedächtnisses und des Neugedächtnisses seien angesichts der Sprachbarriere nicht durchführbar. Bei diesem bestehe eine gravierende depressive Symptomatik. Der neurologische Befund sei nahezu regelrecht gewesen, bis auf leichte Defizite im Bereich der rechten Hand. Die vielfältigen Gesundheitsstörungen führten zu erheblichen Beeinträchtigungen der körperlichen, seelischen und letztlich auch geistigen Funktionen. Der Kläger sei nicht mehr in der Lage, sich an irgendwelchen beruflichen Tätigkeiten zu beteiligen, auch nicht an halbschichtigen oder unter halbschichtigen beruflichen Aktivitäten. Eine nachhaltige Besserung sei nicht zu erwarten.

Die Beklagte ist unter Vorlage der sozialmedizinischen Stellungnahme des N vom 22.07.2021 der Leistungseinschätzung des B4 entgegengetreten.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat keinen Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG eingelegte Berufung ist form- und fristgerecht sowie im Übrigen statthaft.

Den Gegenstand des Rechtsstreits bildet der Bescheid vom 05.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2018 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dagegen wendet sich der Kläger statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs 1 und 4, 56 SGG) und begehrt eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.03.2018 (Monat der Rentenantragstellung). Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) macht der Kläger zu Recht nicht geltend, da er mangels beruflicher Qualifikation keinen Berufsschutz genießt und auf sämtliche ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar ist.

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 05.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI. Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen noch leichte körperliche Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten kann. Tätigkeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Überkopfarbeiten, regelmäßigem Armvorhalt, regelmäßigem Ersteigen von Leitern und Gerüsten, besonderem Zeitdruck (Fließbandarbeiten, taktgebundene Tätigkeiten, Akkordtätigkeiten), mit Nacht- und/oder Wechselschicht, in Hitze, Kälte, Zugluft und Nässe, mit besonderen Anforderungen an die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit, besonderer nervlicher Belastung sowie besonderer Verantwortung für Menschen und Maschinen können nicht mehr durchgeführt werden. Der Senat stützt seine Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers maßgeblich auf das Gutachten des G1 und die sachverständigen Zeugenauskünfte der behandelnden W, B1, S und A sowie den Entlassbericht des P und das Rentengutachten des B2, die der Senat im Wege des Urkundenbeweises zu verwerten hat.

Auf orthopädischem Fachgebiet besteht bei dem Kläger eine Handgelenksarthrose rechts mit einer leichten bis mittelgradigen Funktionseinschränkung, ein Impingementsyndrom der linken Schulter mit mittelgradiger Funktionseinschränkung sowie eine degenerative Erkrankung der Hals- und Lendenwirbelsäule. Die aus diesen Erkrankungen resultierenden Funktionseinschränkungen bedingen keine Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht, diesen kann durch qualitative Leistungseinschränkungen Rechnung getragen werden. Wie B2 und P überzeugend und übereinstimmend dargelegt haben, sind dem Kläger trotz der Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden möglich. Ausgeschlossen sind Tätigkeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Überkopfarbeiten, regelmäßigem Armvorhalt, regelmäßigem Ersteigen von Leitern und Gerüsten, besonderem Zeitdruck (Fließbandarbeiten, taktgebundene Tätigkeiten, Akkordtätigkeiten), mit Nacht- und/oder Wechselschicht sowie in Hitze, Kälte, Zugluft und Nässe. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie hat sich ausdrücklich dieser Leistungseinschätzung angeschlossen. In seinem Attest vom 09.11.2017 hat er lediglich die Auffassung vertreten, dass der Kläger die letztliche berufliche Tätigkeit als Betonbohrer nicht mehr ausführen kann. Diese Tätigkeit bildet aber nicht den Maßstab für die Beurteilung der Erwerbsminderung iSd § 43 SGB VI. Schließlich hat B4 in seinem wahlärztlichen Gutachten darauf hingewiesen, dass er einen im Wesentlichen regelgerechten neurologischen Befund erhoben hat und insbesondere keine relevanten Einschränkungen der Mobilität, Koordination und Sensibilität feststellen konnte.

Auch die weiteren somatischen Erkrankungen des Klägers bedingen keine Einschränkungen (Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Aorteninsuffizienz, Adipositas, Schwerhörigkeit, Schlafapnoe, mäßige restriktive Ventilationsstörung) des beruflichen Leistungsvermögens des Klägers in zeitlicher Hinsicht. Dies entnimmt der Senat dem Rentengutachten des B2 sowie dem Entlassbericht des P. Die behandelnden Fachärzte des Klägers W, B1 und S haben sich der Leistungsbeurteilung des B2 angeschlossen und bestätigt, dass auf kardiologischem, HNO-ärztlichem und pneumologischem Fachgebiet keine für das berufliche Leistungsvermögen relevanten Erkrankungen vorliegen.

Auf nervenärztlichem Fachgebiet besteht beim Kläger eine Dysthymia mit einem somatoformen Schmerzsyndrom. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des G1. Er hat auf Grundlage einer ausführlichen Anamnese und einer eingehenden Untersuchung sowie unter Berücksichtigung des bisherigen Krankheitsverlaufs und unter Würdigung der Behandlungsunterlagen über den Kläger eine belangvolle psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen. Er hat lediglich eine leicht depressive Grundstimmung und eine Affektarmut festgestellt. Einschränkungen bzgl Sprache, Bewusstsein, Orientierung, Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentration und Psychomotorik lagen nicht vor. Der Kläger zeigte sich gepflegt, auskunftsbereit und kooperativ. G1 hat darauf hingewiesen, dass die niederfrequente psychiatrische Behandlung bei K (in der Regel 1 x pro Quartal) und die fehlende Inanspruchnahme einer psychotherapeutischen Behandlung gegen eine schwerwiegend psychiatrische Erkrankung sprechen. Auch hat er eine deutliche Diskrepanz zwischen den vom Kläger geklagten vielfältigen und starken Schmerzen sowie dem Verhalten des Klägers während der fünfstündigen Untersuchung, das nicht von einem Schmerz- und Entlastungsverhalten geprägt war, festgestellt und dies als Hinweis auf Aggravation gewertet. Weiterhin machte der Kläger Einschränkungen bezüglich bedeutsamer biographischer Daten geltend, während er dazu im Widerspruch biographisch weniger bedeutsame Gedächtnisinhalte exakt zu reproduzieren vermochte. Schließlich hat G1 darauf hingewiesen, dass die vom Kläger anamnestisch geltend gemachten Beschwerden inkonsistent mit dem dargelegten selbstbestimmten Aktivitätsniveau war. Zwar ist der Kläger durch die leichte, aber chronifizierte depressive Symptomatik in seiner psychischen Belastbarkeit beeinträchtigt. Er kann deshalb keine Tätigkeiten mit besonderem Zeitdruck (Fließbandarbeiten, taktgebundene Tätigkeiten, Akkordtätigkeiten), mit Nacht- und/oder Wechselschicht, mit besonderen Anforderungen an die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit oder besonderer nervlicher Belastung sowie mit besonderer Verantwortung für Menschen und Maschinen verrichten. Bei Beachtung der genannten Einschränkungen ist eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht aber nicht gerechtfertigt.

Der Senat folgt nicht der Leistungsbeurteilung des wahlärztlichen Sachverständigen B4. Dieser hat in seinem Gutachten vom 06.06.2021 auf Grundlage eines im Wesentlichen vergleichbaren Befundes eine mittelgradige depressive Episode mit phobischer Symptomatik, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und eine leichte kognitive Beeinträchtigung angenommen. B4 hat den Kläger als vorgealtert und müde, höflich, korrekt, zurückhaltend, behäbig, traurig und etwas angespannt, mit rigide anmutenden Gesichtszügen, rudimentären deutschen Sprachkenntnissen und gedrückter Grundstimmung beschrieben. Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Wahrnehmung, der Ich-Funktionen, des Gedankengangs- und -inhalts und der Konzentrationsfähigkeit lagen nicht vor. Er hat eine Einschränkung der Umstellung- und Anpassungsfähigkeit sowie eine einfache intellektuelle Strukturierung mit korrelierendem Auffassungsvermögen, ein eingeschränktes Kurzzeit- und Neugedächtnis, ein brüchiges Langzeitgedächtnis und eine eingeschränkte Affektivität angenommen und Hinweise auf Suizidalität verneint. Dabei hat B4 die Angaben des Klägers unkritisch übernommen, obwohl er hinsichtlich der Schwere der depressiven Erkrankung eine Diskrepanz zwischen der Selbstbeurteilung (Beck-Depressions-Inventar: schwere Depression) und der Fremdbeurteilung (Hamilton-Depressions-Scale: mittelschwere Depression an der Grenze zur leichten Depression) sowie im Strukturierten Fragebogen simulierter Symptome starke Aggravationstendenzen festgestellt hat. Der Hinweis auf die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse und die einfache intellektuelle Strukturierung des Klägers vermag diese auffälligen Ergebnisse nicht zu erklären, da die Untersuchung unter Hinzuziehung eines Dolmetschers erfolgte und der Kläger sich ausweislich der durch B4 ausführlich dokumentierten Anamnese hinreichend differenziert zu äußern vermochte. Die Annahme des B4, bei dem Kläger liege eine leichte kognitive Beeinträchtigung iS einer Beeinträchtigung der Denkleistung, die über das nach Alter und Bildung des Betroffenen Normale hinausgeht, vor, überzeugt ebenfalls nicht, da er selbst einräumt, dass eine differenzierte Prüfung der Gedächtnisfunktionen im Hinblick auf die Sprachbarriere auch mit Unterstützung eines Dolmetschers nicht möglich war. Im Übrigen wurde eine kognitive Störung durch keiner der den Kläger behandelnden oder untersuchenden Ärzte festgestellt. Schließlich ist die Diagnose einer leichten kognitiven Störung (ICD-10 F06.7) ausgeschlossen, da diese bei Vorliegen einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung aus dem Abschnitt F10-F99 nicht gestellt werden soll, worauf der N zutreffend hingewiesen hat. Die von B4 für eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht angeführten Begründung, der Kläger sei multimorbide und chronisch krank und sei seit vielen Jahren nicht mehr beruflich aktiv, ist völlig pauschal und ersetzt nicht die konkrete Feststellung krankheits- bzw behinderungsbedingter Funktionseinschränkungen sowie deren Auswirkungen auf das berufliche Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Unter diesen Umständen vermag die Leistungsbeurteilung der B4 nicht zu überzeugen.  

Soweit die Leistungsfähigkeit des Klägers von seinen behandelnden Ärzten negativer eingeschätzt wird als von dem Sachverständigen G1, folgt der Senat deren Leistungsbeurteilung nicht. Der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Bei der Untersuchung von Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten spielt die Frage nach der Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens in der Regel keine Rolle. Dagegen ist es die Aufgabe des Sachverständigen, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen.

Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person des Klägers eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Die zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, BSGE 129, 274-290 = SozR 4-2600 § 43 Nr 22). Vom praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Anforderungen verknüpft sind, kann derzeit nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen (BSG 11.12.2019, aaO, juris Rn 27). Eine spezifische Leistungseinschränkung liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80, SozR 2200 § 1246 Nr 90). Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es nicht, wenn - wie hier - typische Verrichtungen wie zB das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen möglich sind. Einschränkungen, die dem entgegenstehen könnten, lassen sich den vorliegenden Gutachten nicht entnehmen. Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung des Senats bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden zu der Frage, welche konkrete Tätigkeit dem Kläger noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 letzter Halbsatz SGB VI). Der Kläger ist auch wegefähig im rentenrechtlichen Sinne (vgl BSG 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr 2 mwN; 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten und Arztauskünfte bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats. Das vorliegende Gutachten des G1 sowie die aktenkundigen medizinischen Unterlagen über den Kläger haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 Zivilprozessordnung [ZPO]). Das Gutachten geht von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, enthält keine unlösbaren inhaltlichen Widersprüche und gibt auch keinen Anlass, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters zu zweifeln; weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.

Rechtskraft
Aus
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