L 10 U 2095/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 5 U 488/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 2095/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 16.06.2020 sowie der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2017 werden aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Anerkennung des Ereignisses vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall im Streit.

Der am 03.08.1966 geborene Kläger, der selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb (Obstanbau, Bl. 61 SG-Akte) führt, ist das älteste Kind von insgesamt sechs Kinder - das jüngste wurde am 27.08.1973 geboren (Bl. 56 LSG-Akte) - des Zeugen A (im Folgenden: der Vater), der als Mitglied der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin einen landwirtschaftlichen Betrieb (im Folgenden einheitlich: die Beklagte) u.a. mit Rindviehhaltung führte (s. Bl. 49 LSG-Akte, Bl. 4/1 und Bl. 4/12 VA).

Am Morgen des 26.08.1973 gegen 8.00 Uhr zog sich der Kläger eine Weichteilverletzung im Bereich des linken Vorfußes sowie eine Quetschverletzung des linken Vorfußes mit knöcherner Verletzung am Großzehengrundgelenk, am Mittelgelenk der zweiten Zehe mit Luxation sowie am Endgelenk der dritten Zehe links (Bl. 143 SG-Akte) zu, als er gemeinsam mit seiner damals fünf Jahre alten Schwester H (im Folgenden: die Schwester) dem Vater helfen sollte, einen 200 l fassenden gefüllten Milchtank über den ungepflasterten Hof zur Milchsammelstelle an der Dorfstraße zu transportieren (Bl. 4/7 und 4/9 VA). Der Vater hatte sich mit den beiden Kindern bereits zum Milchtank begeben, als er nochmals in den Stall zurückkehren musste. Die Kinder warteten solange am Milchtank. Als sich der Vater dem Milchtank wieder näherte, entschloss sich die Schwester, den Tank nicht - wie vorgesehen - gemeinsam mit dem Kläger zu schieben, sondern dem Vater beim Ziehen zu helfen. Sie begab sich zur Deichsel, hob diese an, ließ sie dann jedoch - ohne dass der Vater eingreifen konnte - wieder los, woraufhin der Milchtank abrupt nach hinten kippte und auf den linken Vorfuß des damals siebenjährigen Klägers prallte (Bl. 4/9 ff. und Niederschrift vom 04.02.2021). Dieser war zu diesem Zeitpunkt - u.a. aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft seiner Mutter A1 (im Folgenden: die Mutter), welche am Folgetag, dem 27.08.1973, ihr sechstes Kind entband (Bl. 4/9 VA) -, seit mehreren Wochen nahezu täglich für ca. zwei Stunden in die Hof-, Stall- und Gartenarbeit eingebunden und u.a. mit Stallkehren, Kälberfüttern, Einstreuen und eben auch der Mithilfe beim Milchtanktransport betraut (Bl. 4/3 und 4/9 VA). Weitere Verletzungen im Bereich des linken Fußes vor oder nach dem Ereignis vom 26.08.1973 erlitt der Kläger - jedenfalls bis Juni 1985 - nicht (Bl. 34 SG-Akte).

Unmittelbar nach dem Ereignis zog der Vater dem Kläger den Gummistiefel und die Socke aus und es zeigte sich eine blutende Quetschverletzung des linken Fußes/der linken Zehen (Bl. 4/10 und 28/2 VA). Er brachte den Kläger in die private Fklinik O, in der die hochschwangere Mutter des Klägers in Behandlung stand - sie entband dort am Folgetag auch ihr sechstes Kind - und die zum damaligen Zeitpunkt nicht ausschließlich Entbindungen und Behandlungen wegen gynäkologischer Beschwerden durchführte, sondern vielmehr im ländlichen Raum auch die übrige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherstellte. Die Wunde des Klägers wurde dort genäht und er erhielt eine Impfung gegen Wundstarrkrampf (Bl. 27/2 VA). Anschließend blieb er mehrere Tage stationär dort. Eine fachorthopädische Vorstellung oder Behandlung erfolgte (zunächst) nicht, ebensowenig eine Meldung des Unfallereignisses an die Beklagte.

Anlässlich der operativen Versorgung eines idiopathischen muskulären Schiefhalses befand sich der Kläger im Juni 1978 in der Cklinik F1 im B, in der im Rahmen der Anamneseerhebung eine 1973 erlittene Quetschverletzung des linken Fußes mit seither bestehender Fehlstellung der zweiten und dritten Zehe links beschrieben wurde (Bl. 55/3 f. VA, Bl. 23 SG-Akte). Im Juli 1983 wurde im Rahmen der Erstuntersuchung nach § 32 Abs. 1 des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) eine „Verkrüppelung 1. + 2. Zeh re. = Traumafolge“ dokumentiert. Im Juni 1985 wurde bei einer Untersuchung für das Kreiswehrersatzamt Ravensburg eine Vorfußquetschung in der Kindheit mit Verkürzung der ersten und zweiten Zehe beschrieben (Bl. 55 SG-Akte) und eine Röntgenuntersuchung des linken Vorfußes veranlasst. Diese zeigte eine Absprengung des Processus unguicularis (Endgelenk) an der dritten Zehe, eine Luxation im proximalen Interphalangealgelenk (Mittelgelenk) der zweiten Zehe und einen Zustand nach einer Fraktur der Grundphalanx (Grundgelenk) der Großzehe. Alle Frakturlinien waren glatt begrenzt als Ausdruck einer lange zurückliegenden Fraktur.

Am 01.11.2015 zeigte der Vater des Klägers das Unfallereignis bei der Beklagten an (Bl. 1/1 ff. VA). Diese holte daraufhin Auskünfte des Vaters (Bl. 4/1 ff. VA) und der Schwester (Bl. 28/2 VA) ein und befragte die den Kläger behandelnden Ärzte. Der Facharzt für Allgemeinmedizin H1 teilte im März 2016 mit, dass im Rahmen einer Gesundheitsuntersuchung im Januar 2007 erstmals eine alte Verletzung am linken Fuß mit Deformität des linken Vorfußes und der linken Zehen dokumentiert worden sei (Bl. 23/1 VA). Er übersandte den Untersuchungsbogen für die Erstuntersuchung nach § 32 Abs. 1 des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) vom 26.07.1983 (Bl. 23/2 ff. VA), einen Befundbericht einer orthopädischen Praxis von Januar 2014, dem sich entnehmen lässt, dass der Kläger nach einem schweren Kontusionstrauma im Alter von sieben Jahren an einer posttraumatischen Deformität der 1. und 2. Zehe links leide (Bl. 23/6 VA) und einen Befundbericht des Ärztlichen Direktors der BGU M B von Januar 2014, wonach der Kläger an Beschwerden im Bereich des Vorfußes linksseitig bei deutlicher Deformierung nach einem Unfall als Siebenjähriger leide (Bl. 23/7 f. VA). Außerdem zog sie einen Befundbericht des H2 von April 2014, wonach der Kläger an einem Z.n. kindlichem Vorfußtrauma links mit plantaren Fußbeschwerden unter dem 1. Strahl leide (Bl. 24/1 VA), sowie Röntgenaufnahmen (s. Bl. 35/1 und 37/1 VA) bei.

Die Beklagte holte sodann ein Zusammenhangsgutachten bei dem K ein (Bl. 42/1 ff. VA, Untersuchungstag: 30.08.2016) ein. Dieser führte aus, dass mangels dokumentierter Erstbefunde die unmittelbar nach dem Unfallereignis vom 26.08.1973 vorliegenden Beeinträchtigungen nicht mehr eruiert werden könnten, retrospektiv gehe er jedoch von einer Quetschverletzung des linken Vorfußes mit stattgehabter Weichteilschädigung unbekannten Ausmaßes, einer Fraktur der ersten Zehe, einer Luxationsfraktur der zweiten Zehe mit nachfolgender Verkürzung des zweiten Mittelfußes (gemeint: Mittelgelenk), einer knöchernen Verletzung der dritten Zehe im Endgelenk mit Rotationsfehlstellung und einer Quetschverletzung der vierten Zehe mit Rotationsfehlstellung aus (Bl. 42/19 f. VA). Als Folgen des erlittenen landwirtschaftlichen Unfalles diagnostizierte er eine schmerzhafte Fehlstellung der Großzehe bei unter Falschgelenkbildung verheiltem ehemaligem Bruch des Großzehengrundgelenkes, eine Subluxation der zweiten Zehe im Grundgelenk nach unter Fehlstellung verheiltem Bruch der zweiten Zehe mit Gelenkbeteiligung und Achsdeviation der Zehe nach tibial-(Schienbein)seitig, eine in Fehlstellung verheilte ehemalige Nagelkranzfraktur mit Pseudarthrose (Falschgelenkbildung) im Endgelenk und Fehlstellung der dritten Zehe im Endgelenk nach tibial, eine mögliche Fraktur der vierten Zehe im Mittel- und Endgelenk (Fehlstellung nach tibial), eine Arthrodese des Zehenendgelenkes sowie eine Belastungsminderung des linken Fußes, eine pathologische Hornschwielenbildung im Vorfußbereich und eine Hautveränderung zum Mittelfuß reichend. Zweifelsfrei relevante Vorschädigungen hätten nicht vorgelegen.

Mit Bescheid vom 10.10.2016 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall ab (Bl. 46/1 ff. VA). Der Gesundheitserstschaden sei eine den Versicherungsfall selbst begründende Tatbestandsvoraussetzung und müsse daher grundsätzlich bei der Feststellung des Versicherungsfalls benannt und mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden. Da der Unfall erst im November 2015 gemeldet worden sei und keine zeitnah erstellten medizinischen Unterlagen vorlägen, könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, wann und bei welcher Gelegenheit es zu der klägerischen Verletzung gekommen sei. Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssten jedoch mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden, die bloße Möglichkeit reiche nicht aus.

Hiergegen erhob der Kläger am 04.11.2016 Widerspruch (Bl. 49/1 VA), führte aus, dass die Klinik O schon seit Jahren nicht mehr existiere und daher keine Möglichkeit bestehe, entsprechende Arztberichte vorzulegen und legte den Operationsbericht der C-Klinik F1 im B vom 20.06.1978 vor (Bl. 55/3 f. VA, s.a. Bl. 23 SG-Akte).

Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme des M1 ein (Bl. 57/1 ff. VA), der ausführte, dass die ihm vorgelegten Röntgenaufnahmen ältere Frakturen im Bereich des Grundgliedes der Großzehe links, eine alte Verrenkung der zweiten Zehe links sowie eine alte Fraktur des Endgliedes an der dritten Zehe links zeige. Die Großzehe sei auf Grund einer Falschgelenkbildung bei nicht erfolgter Frakturheilung verkürzt. Die zweite Zehe komme subluxiert untertauchend zur Darstellung. Im Bereich des rechten Fußes zeige sich ein Regelbefund. Bei diesen Verletzungen handele es sich unstrittig um ältere Verletzungen. Grundsätzlich könne unter inadäquater Therapie ohne hinreichende Reposition und unter frühzeitiger Belastung des Fußes auch bereits im 7. Lebensjahr eine derartige verletzungsbedingte Deformität verbleiben. Auch sei ein Tank der angeschuldigten Größe in der Lage, einen Vorfuß derart zu belasten, dass es zur ausgedehnten weichteiligen und knöchernen Verletzung komme. Der seitens der Verwandten geschilderte Unfallhergang lasse sich auch unkritisch mit den angeschuldigten Verletzungsfolgen vereinbaren. Allerdings könne von medizinischer Seite her nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, wann diese Verletzungen entstanden seien. Dies könne sowohl 1978 als auch erst vor zwei bis drei Jahren geschehen sein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Bl. 60/1 ff. VA), da nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein durch das Unfallereignis vom 26.08.1973 verursachter Gesundheitserstschaden habe nachgewiesen werden können.

Hiergegen hat der Kläger am 10.03.2017 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und u.a. eine schriftliche Bestätigung seiner Mutter vorgelegt (Bl. 34 ff. SG-Akte), wonach er vor dem Unfallereignis am 26.08.1973 gesunde Füße und Zehen und er danach keinen Unfall oder eine Verletzung an den Füßen gehabt habe. Sofort nach dem Unfall hätten sie festgestellt, dass die Zehen sehr stark gequetscht gewesen seien. Der Kläger hat außerdem mitgeteilt, dass seinen Eltern damals nicht bekannt gewesen sei, dass es sich um einen versicherten Unfall gehandelt habe. Deshalb sei keine Meldung an die Beklagte erfolgt. Erst im Rahmen eines Lehrgangs bei der Beklagten, den er auf Grund seiner eigenen Arbeitgebereigenschaft habe absolvieren müssen, sei er mit einem Mitarbeiter der Beklagten ins Gespräch gekommen, der ihn darauf aufmerksam gemacht habe, dass es sich bei dem Ereignis vom 26.08.1973 um einen Arbeitsunfall gehandelt haben könnte. Daraufhin habe er den Unfall bei der Beklagten gemeldet. Er hat ausgeführt, dass er trotz seines Kindesalters neben den leichteren auch schwerere Aufgaben auf dem Hof seines Vaters ausgeführt habe, was damals in der Landwirtschaft nichts Außergewöhnliches gewesen sei (Bl. 173 f. und 182 f. SG-Akte). Die Beklagte hat an ihrer Auffassung, wonach in Ermangelung unfallzeitpunktnaher medizinischer Unterlagen ein Gesundheitserstschaden nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen worden sei, festgehalten und zudem angezweifelt, dass der Unfall während einer versicherten Tätigkeit geschehen sei, da es sich bei dem Schieben des Milchwagens um eine schwere Tätigkeit gehandelt habe und der Kläger zum Ereigniszeitpunkt auch nicht aktiv zur Bewegung des Milchtanks angesetzt gehabt habe (Bl. 168 f. und 179 f. SG-Akte).

Das SG hat von Amts wegen das Sachverständigengutachten bei dem B1 eingeholt (Bl. 58 ff. SG-Akte). Dieser hat im Ergebnis ausgeführt, dass es - soweit noch beurteilbar - bei dem Ereignis vom 26.08.1973 als Gesundheitserstschaden zu einer Quetschverletzung des linken Vorfußes mit (in Fehlstellung verheilten) knöchernen Verletzungen am Großzehengrundgelenk, am Mittelgelenk der zweiten Zehe mit Luxation sowie am Endgelenk der dritten Zehe links (s. ergänzende Stellungnahme Bl. 143 SG-Akte) gekommen sei. Als Folge des Ereignisses vom 26.08.1973 bestünde eine schmerzhafte Störung der Abrollbewegung des linken Vorfußes, eine schmerzhafte Fehlstellung der linken Großzehe bei Pseudarthrose des Grundgliedes nach Grundgliedfraktur, eine schmerzhafte Fehlstellung der zweiten Zehe links mit Luxation im Mittelgelenk und Achsabweichung nach in Fehlstellung verheiltem Bruch des Grundgliedes mit Beteiligung des Mittelgelenkes, in Fehlstellung pseudarthrotisch verheilte Endgliedfraktur der dritten Zehe und eine geringe Fehlstellung der vierten Zehe links nach mutmaßlicher Fraktur im Endgelenkbereich. Die klägerischen Angaben zum Ereignisablauf und zu den hierbei erlittenen Körperschäden seien aus medizinischer Sicht völlig plausibel und sehr gut nachvollziehbar. Nach medizinischer Einschätzung sei nachvollziehbar davon auszugehen, dass es sich bei dem Ereignis vom 26.08.1973 um einen landwirtschaftlichen Arbeitsunfall gehandelt habe. In seinen ergänzenden Stellungnahmen von November 2018 (Bl. 110 ff. SG-Akte) und März 2019 (Bl. 138 ff. SG-Akte) hat B1 eingeräumt, dass der Vollbeweis des exakten primären Körperschadens nach der langen Zeit nicht mehr erbracht werden könne, seiner Einschätzung nach das angeschuldigte Ereignis von 1973 als wahrscheinlichste Entstehungsursache anzusehen sei und es nach vernünftiger und lebensnaher Betrachtung keine Alternativursachen für die gutachterlich objektivierten Veränderungen als dieses Ereignis gebe.

Die Beklagte hat beratungsärztliche Stellungnahmen des T (Bl. 105 ff. SG-Akte) und des O1
(Bl. 133 ff. SG-Akte) vorgelegt, in der diese - M1 folgend - erneut darauf hingewiesen haben, dass ein konkretes Erstschadensbild mit Dokumentation des Befundes und konkreter Benennung der erlittenen Verletzungen zeitnah zum Ereignis vom 26.08.1973 nicht vorliege und aus medizinischer Sicht nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden könne, wann die stattgehabten Verletzungen am linken Vorfuß des Klägers eingetreten seien, die Beweiswürdigung unterliege letztlich jedoch dem Gericht.

Mit Gerichtsbescheid vom 16.06.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Sowohl die „versicherte Tätigkeit“ als auch der „Gesundheitserstschaden“ müssten im Vollbeweis, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden. Es sei bereits fragwürdig, ob sich der Unfall im Rahmen einer versicherten Tätigkeit ereignet habe, da es sich bei dem Schieben des schweren Milchtanks nicht um eine leichte Tätigkeit gehandelt habe. Außerdem fehle es am Nachweis des konkret eingetretenen Gesundheitserstschadens, da es an zeitnah erstellten medizinische Befundberichten oder Attesten fehle und Veränderungen des linken Fußes erst Jahre später und in unabhängig vom streitgegenständlichen Ereignis erstellten Berichten (beiläufig) Erwähnung fänden. Auch der Sachverständige B1 habe einräumen müssen, dass der Vollbeweis des exakten primären Körperschadens nach so langer Zeit nicht mehr erbracht werden könne. Selbst wenn ein Arbeitsunfall anerkannt würde, dürfte die Hauptproblematik darin bestehen, die aktuellen Beschwerden und Gesundheitsstörungen des Klägers im linken Fuß dem Unfallereignis zuzuordnen.

Gegen den - seiner Prozessbevollmächtigten am 22.06.2020 zugestellten Gerichtsbescheid - hat der Kläger am 06.07.2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Mit den (schriftlichen) Zeugenauskünften sowie den Gutachten des K seien sowohl die „versicherte Tätigkeit“ als auch der „Gesundheitserstschaden“ im Vollbeweis nachgewiesen worden. 

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 16.06.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall anzuerkennen. 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf die erstinstanzlichen Ausführungen im Gerichtsbescheid.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2017 mit dem die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall ablehnte. Die hier vorliegende kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann der Versicherte an Stelle gerichtlicher Feststellung (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG, vgl. hierzu u.a. BSG, U. v. 07.09.2004, B 2 U 46/03 R, zitiert - wie alle nachfolgenden höchstrichterlichen Entscheidungen - nach juris) auch die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung eines Arbeitsunfalles als Element eines jeglichen Leistungsanspruchs im Wege der Verpflichtungsklage verlangen (U. v. 05.07.2011, B 2 U 17/10 mit weiteren Ausführungen zur Anspruchsgrundlage; speziell zur Anerkennung eines Arbeitsunfalles BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 8/11 R), da die Beklagte in ihren Bescheiden ausschließlich hierüber entschied und auch der Kläger ausschließlich die Anerkennung des Ereignisses vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall begehrt. Nicht streitig ist hingegen, ob und ggfs. welche durch das Ereignis vom 26.08.1973 verursachte Unfallfolgen vorliegen.

Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Beklagte ist verpflichtet, das Ereignis vom 26.08.1973 als Arbeitsunfall anzuerkennen, da es sich hierbei um einen solchen handelte.

Die Beurteilung des streitigen Ereignisses als Arbeitsunfall richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten ist (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).

Nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeit erleidet. Ein Unfall ist ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt - so die heutige Legaldefinition in § 8 Abs. 1
Satz 2 SGB VII, die auf die jahrzehntealte Definition in Rechtsprechung und Literatur zurückgeht (BSG U. v. 12.04.2005, B 2 U 27/04 R) und vor Inkrafttreten des SGB VII galt. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, dass die Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat und letzteres einen Gesundheitsschaden verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen von länger andauernden Unfall­folgen aufgrund des Gesundheits(erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Vor­aussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht - auch nach den Vorschriften der RVO - die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Arbeitsunfall) und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84). Hierbei verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen, da ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit so gut wie nie zu erlangen ist (BSG, U. v. 15.12.2016, B 9 V 3/15 R), weshalb auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, U. v. 17.04.2013, B 9 V 1/12 R; BSG, U. v. 24.11.2010, B 11 AL 35/09 R). Eine Tatsache ist dann bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, B. v. 08.08.2001, B 8 V 23/01 B; BSG, U. v. 05.05.2009, B 13 R 55/08 R). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, U. v. 30.04.1985, a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG, U. v. 02.11.1999, B 2 U 47/98 R; BSG, U. v. 02.05.2001, B 2 U 16/00 R). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (BSG, U. v. 28.06.1988, 2/9b RU 28/87). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (BSG, U. v. 27.06.1991, 2 RU 31/90).

Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (ständige Rechtsprechung, s. u.a. BSG, U. v. 28.06.1988, 2 RU 60/87; BSG, U. v. 29.10.1986, 2 RU 7/86; BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem  untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis  zu welcher Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSG, U. v. 30.04.1985, B 2 RU 24/84; BSG, U. v. 20.01.1987, 2 RU 27/86; BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund. Maßgeblich ist die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalles bestätigt wird (BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen (s. hierzu bereits oben); bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss also der volle Beweis für das Vorliegen der versicherten Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSG, U. v. 30.04.1985, 2 RU 43/84, BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Es muss demnach sicher feststehen, dass im Unfallzeitpunkt eine - noch - versicherte Tätigkeit ausgeübt wurde (BSG, U. v. 20.01.1987, 2 RU 27/86, BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Lässt sich nicht feststellen, ob der Versicherte bei einer Tätigkeit verunglückt ist, die in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand, trifft die objektive Beweislast für das Vorliegen dieser Verrichtung den Versicherten (BSG, U. v. 30.04.1985, 2 RU 24/84; BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R).

Von den in § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO genannten Vorschriften kommt für den Versicherungsschutz des Klägers allein § 539 Abs. 2 RVO, wonach gegen Arbeitsunfall auch Personen versichert sind, die wie ein nach Abs. 1 Versicherter tätig werden, in Betracht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt die Anwendung des § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO (beschäftigtenähnliche Tätigkeit) voraus, dass es sich um eine ernstliche, dem in Betracht kommenden fremden Unternehmen zu dienen bestimmte Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert handelt, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ungeachtet des Beweggrundes für den Entschluss, tätig zu werden, unter solchen Umständen tatsächlich geleistet wird, dass sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist (BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Bei einer Tätigkeit gemäߧ 539 Abs. 2 RVO braucht eine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen nicht vorzuliegen. Entscheidend ist, ob nach dem Gesamtbild der Tätigkeit diese beschäftigtenähnlich ausgeübt wird. Es ist unerheblich, welches Alter, welches Geschlecht und welche wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung die handelnde Person hat. Auch Kinder können in einem Beschäftigungsverhältnis stehen oder wie ein Beschäftigter tätig werden (BSG, U. v. 30.06.1996, 2 RU 40/92; BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R; s.a. Bayerisches LSG, U. v. 11.03.1997, L 17 U 39/96, juris). Es muss sich aber um eine ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende ernsthafte Arbeitstätigkeit und nicht lediglich um eine spielerische Beschäftigung handeln (BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Darüber hinaus ist für den Fall, dass  der Verletzte - wie hier - mit dem Unternehmer verwandt ist, danach abzugrenzen, ob die Tätigkeit eher einer innerfamiliären Gefälligkeit entsprach, also familienhaft geprägt war (BSG, U. v. 30.06.1993, 2 RU 40/92; BSG, U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). Wie im Rahmen einer Beschäftigung nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO muss auch für  die  Beurteilung einer Tätigkeit wie ein Beschäftigter nach § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO der volle Beweis für das Vorliegen der Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSG, U. v. 30.05.1985, 2 RU 43/84; BSG U. v. 13.08.2002, B 2 U 33/01 R). 

Diese Voraussetzungen für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles liegen zur Überzeugung des Senats hier vor. Der Kläger übte eine versicherte Tätigkeit aus, in deren Rahmen es zu einem Unfallereignis kam, durch das er einen Gesundheits(erst)schaden erlitt.

Der Kläger war nach den überzeugenden Angaben seines Vaters (B. 4/9 ff. VA) wie auch seiner eigenen Angaben u.a. aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft seiner Mutter - am Tag nach dem Unfall entband sie das sechste Kind - als das älteste der zum Unfallzeitpunkt am 26.08.1973 insgesamt fünf Geschwister bereits seit mehreren Wochen - wie damals und auch heute noch in landwirtschaftlichen Betrieben üblich - schon als Siebenjähriger in die Garten-, Stall- und Hofarbeit mit eingebunden und mit Tätigkeiten wie z.B. Aufräumen, Stallkehren, Kälberfüttern, Einstreuen und eben auch Mithelfen beim Milchwagentransport betraut. Diese Tätigkeiten gehörten zum täglichen Geschäft des u.a. Rindvieh haltenden landwirtschaftlichen Betriebs seines Vaters, waren zur Aufrechterhaltung des reibungslosen Betriebs erforderlich und erfüllten folglich einen ernsthaften wirtschaftlichen Nutzen. Der Kläger befolgte die Anweisungen des Vaters und ersetzte durch seine Mithilfe die aufgrund der Schwangerschaft ausgefallene Mutter, was auch seine Handlungstendenz prägte. Hätte er diese Tätigkeiten nicht ausgeübt, hätten sie notwendigerweise zwingend von einer anderen Person ausgeführt werden müssen. Da die Tätigkeiten betriebswichtig, erforderlich und sinnvoll waren, können sie auch nach ihrem Gesamtbild nicht mehr als bloße Gefälligkeitshandlung im Rahmen einer engen familiären Gemeinschaft angesehen werden (Bayerisches LSG, U. v. 11.03.1997, L 17 U 39/96, juris). Zur Überzeugung des Senats entsprachen sie auch den Kräften und Fähigkeiten des Klägers und stellten nicht lediglich eine spielerische Beschäftigung dar. Insbesondere war seine Hilfe auch beim Milchwagentransport zur Sammelstelle erforderlich, da der Vater den vollen Milchwagen nicht bzw. nur unter größter körperlicher Anstrengung alleine über den damals noch ungepflasterten Hof zur Sammelstelle an der Straße hätte transportieren können. Der Einwand der Beklagten, der Kläger sei aufgrund seiner körperlichen Konstitution als Siebenjähriger nicht in der Lage gewesen, die nötige Kraft zum Schieben des Milchwagens aufzubringen, ist reine Spekulation und verkennt insbesondere, dass er den Milchwagen nicht alleine über den Hof schieben, sondern den Vater bei dessen Transport unterstützen sollte. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass auch die Kraft des damals siebenjährigen Klägers ausreichte, um den Transport des schweren Milchtanks zumindest zu erleichtern.

Die versicherte Tätigkeit ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Kläger - worauf die Beklagte hingewiesen hat (Bl. 169 SG-Akte) - zum Unfallzeitpunkt nicht aktiv zur Bewegung des Milchtanks angesetzt hatte. Nach den glaubhaften Angaben des Vaters (Bl. 4/9 VA) war er bereits mit dem Kläger und der Schwester dabei, den Milchwagentransport durchzuführen, als er den Vorgang unterbrechen und nochmals in den Stall zurückmusste. Die Kinder warteten solange am Milchtank. Als sich der Vater dem Milchtank wieder näherte, ereignete sich der Unfall, da die Schwester nach der Deichsel griff, diese wieder losließ, der Milchtank abrupt kippte und auf den linken Vorfuß des Klägers prallte. Das Warten des Klägers am Milchtank war von der Absicht geleitet und somit von der Handlungstendenz geprägt gewesen, nach der anstehenden Rückkehr des Vaters den Milchwagen zu transportieren. Der Kläger hat sich zum Transport des Milchwagens bereitgestellt, als er den Unfall erlitt. Seine Handlung stand somit in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem gemeinsamen Transport des Milchwagens und war folglich Teil der versicherten Tätigkeit. Der Kläger übte mithin eine versicherte Tätigkeit nach § 539 Abs. 2 RVO aus.

Im Rahmen dieser versicherten Tätigkeit ereignete sich am 26.08.1973 auch das schädigende Ereignis. Das auf den Körper einwirkende Ereignis ist in dem Aufprall der Milchkanne auf den linken Vorfuß des Klägers zu sehen. Ausweislich der glaubhaften Angaben des Vaters und der Schwester, die den Vorfall als Augenzeugen unmittelbar miterlebten - an deren Angaben hat der Senat schon deshalb keine Zweifel, weil sie aufgrund der Geburt des sechsten Kindes der Familie am Folgetag, dem 27.08.1973, in der Klinik O in der Lage waren, den Unfall zeitlich genau einzuordnen (Bl. 4/9 VA, Bl. 34 SG-Akte); im Übrigen hat auch die Beklagte den Unfallhergang nicht in Zweifel gezogen -, kippte der mit ca. 200 l Milch befüllte Milchtank, auf den linken Vorfuß des Klägers. Zweifel hieran verbleiben für den Senat nicht.

Beim Kläger lagen auch Gesundheits(erst)schäden in Form einer Weichteilverletzung im Bereich des linken Vorfußes sowie einer Quetschverletzung des linken Vorfußes mit knöcherner Verletzung am Großzehengrundgelenk, am Mittelgelenk der zweiten Zehe mit Luxation sowie am Endgelenk der dritten Zehe links (Bl. 54 SG-Akte, Bl. 143 SG-Akte) vor. Diese Verletzungen sind vollbeweislich gesichert. In dem Röntgenbericht von Juni 1985 wird ausdrücklich eine Absprengung des Proccesus unguicularis (Endgelenksfraktur) an der dritten Zehe, eine Luxation im proximalen Interphalangealgelenk (Mittelgelenksfraktur) der zweiten Zehe und ein Zustand nach Fraktur der Grundphalanx (Grundgelenksfraktur) der Großzehe beschrieben (Bl. 54 SG-Akte). Auch erlitt der Kläger unzweifelhaft eine Weichteilverletzung im Bereich des linken Vorfußes. Dies ergibt sich sowohl aus den glaubhaften Angaben des Vaters und der Schwester, wonach sie beim Kläger nach dem Ausziehen von Gummistiefel und Socke eine (blutende) Quetschverletzung im Bereich des linken Fußes/der linken Zehen wahrnahmen. Der Vater schilderte zudem überzeugend, dass die Wunde in der Klinik O genäht wurde. Dies wird durch die in der Klinik O am 26.08.1973 vorgenommene Wundstarrkrampfimpfung belegt. Da der 26.08.1973 ein Sonntag war, ist eine routinemäßige Wundstarrkrampfimpfung auszuschließen. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass der Kläger knöcherne sowie eine Weichteilverletzung im Bereich des linken Vorfußes erlitt.

Diese Verletzungen sind zur Überzeugung des Senats auch durch das Ereignis vom 26.08.1973 verursacht worden. Beweismaßstab für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) ist entgegen der Annahme der Beklagten nicht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis), sondern lediglich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (s.o.). Ausschließlich die anspruchsbegründenden Tatsachen (versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung, Gesundheitsschaden) müssen im Vollbeweis gesichert sein, woran der Senat - wie ausgeführt - keine Zweifel hat. Hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (s.o.). Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden liegt hier gerade vor. Dass keine ausführliche ärztliche Dokumentation mit zeitnah gestellten Diagnosen - wie von der Beklagten gefordert - der konkret durch das Ereignis vom 26.08.1973 erlittenen Schäden (mehr) vorliegt, ist für die Überzeugungsbildung des Senats nicht erforderlich. Es gibt keinen Rechtssatz, wonach ein Gesundheitsschaden erst dann einem Ereignis zugeordnet werden kann, wenn eine zeitnahe ärztliche Diagnose vorliegt, zumal die Angaben der Verwandten des Klägers und die (noch) vorliegenden medizinischen Unterlagen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und den Verletzungen am linken Fuß gerade hinreichend wahrscheinlich machen. Wie bereits oben ausgeführt, bekundeten sowohl der Vater, der dem Kläger unmittelbar nach dem Ereignis den Gummistiefel und die Socke auszog, als auch die Schwester, eine sichtbare - laut Schwester auch blutende - Quetschung im Bereich der linken Zehen/des linken Fußes wahrgenommen zu haben (Bl. 4/10 und 28/2 VA). Der Kläger wurde daraufhin in die Privatklinik O zur Erstversorgung gebracht und die Wunde wurde genäht, was gerade durch den Eintrag im Impfbuch vom 26.08.1973, wonach der Kläger an diesem Tag in der Klinik O gegen Wundstarrkrampf geimpft wurde (Bl. 27/2 VA), bestätigt wird. Dass es sich bei der Klinik O eigentlich um eine private Frauenklinik handelte, ändert an diesen Tatsachen nichts. Insbesondere hat auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers glaubhaft berichtet, dass diese Klinik in der damaligen Zeit zur medizinischen Grundversorgung des gesamten ländlichen Raums Ravensburg beitrug und es üblich war, dass dort auch nicht mit gynäkologischen Erkrankungen oder Entbindungen zusammenhängende Erkrankungen und Verletzungen und auch Männer behandelt wurden (s. Niederschrift vom 04.02.2021). Der Senat ist auch davon überzeugt, dass die im Röntgenbericht von Juni 1985 erstmals genau beschriebenen knöcherner Verletzungen durch das schädigende Ereignis vom 26.08.1973 entstanden sind. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass es zu erheblichen Quetschungen mit knöchernen Verletzungen kommt, wenn einem siebenjährigen Kind ein mit ca. 200 l Milch gefüllter Milchtank auf den Vorfuß prallt. Dass es hierbei nur zu einer blutenden Wunde ohne knöcherne Verletzungen kommt, ist nahezu ausgeschlossen. Die insoweit verbleibende Möglichkeit, dass der Aufprall des Milchtanks auf den Vorfuß des siebenjährigen Klägers keine knöchernen Verletzungen verursachte, schätzt der Senat als derart gering ein, dass sie nicht geeignet ist, beachtenswerten Restzweifel hervorzurufen. Wie bereits mehrfach ausgeführt, liegen keine zeitnah erstellten medizinischen Unterlagen über derartige Verletzungen (mehr) vor. Allerdings wurde bereits im Rahmen der Operation des Schiefhalses im Juni 1978 eine im Jahr 1973 erlittene Quetschverletzung des linken Fußes mit seither bestehender Fehlstellung der Zehen zwei und drei links dokumentiert (Bl. 55/4 VA). Zwar ist das konkrete schädigende Ereignis nicht benannt. Dies verwundert indes nicht, da dieses für die anstehende Operation nicht von Bedeutung war. Jedoch wurde bereits konkret das Jahr 1973 genannt, in dem auch das streitige Unfallereignis stattfand. Gründe dafür, bereits im Rahmen der Anamneseerhebung im Jahr 1978 eine falsche Jahreszahl zu nennen oder Anhaltspunkte dafür, dass es im selben Jahr zu einem weiteren Unfallereignis kam, sind nicht ersichtlich. Vielmehr versicherte die Mutter des Klägers glaubhaft, dass dieser weder vor noch nach dem streitigen Unfall eine Verletzung an den Füßen hatte (Bl. 34 f. SG-Akte). Dass der Kläger zwischen 1973 und 1978 - also zwischen seinem achten und zwölften Lebensjahr - durch ein anderes Ereignis eine derart schwere Quetschverletzung des linken Vorfußes erlitt, die zu einer Fehlstellung der Zehen links führte und von seiner Mutter unbemerkt blieb, hält der Senat für ausgeschlossen. Gleiches gilt für eine Verletzung im Zeitraum zwischen Juni 1978 bis zur Untersuchung für das Kreiswehrersatzamt im Juni 1985. Die im Rahmen der Erstuntersuchung nach § 32 Abs. 1 JArbSchG im Juli 1983 dokumentierte „Verkrüppelung der 1. und 2. Zehe re. = Traumafolge“ (Bl. 23/4 VA) bestätigt abermals, dass die knöcherne Verletzung bereits vor Juni 1985 vorlag. Dass hier die Verkrüppelung dem rechten und nicht dem linken Fuß zugeordnet wurde, basiert offenkundig auf einem Dokumentationsversehen, da keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass auch der rechte Fuß des Klägers vor 1983 in irgendeiner Form verletzt wurde. Vor diesem Hintergrund ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger durch den Aufprall des gefüllten Milchtanks auf seinen linken Vorfuß neben der in der Klinik O versorgten Weichteilverletzung jedenfalls auch die im Röntgenbericht von Juni 1985 beschriebenen Verletzungen, nämlich eine Fraktur der Grundphalanx (Grundgelenkfraktur) der linken Großzehe, eine Luxation im proximalen Interphalangealgelenk (Mittelgelenkfraktur) des zweiten Zehes und eine Absprengung des Processus unguicularis (Endgelenksfraktur) an der dritten Zehe erlitt. Diese Verletzungen hat auch der Sachverständige B1 in seiner abschließenden Stellungnahme (Quetschverletzung des linken Vorfußes mit knöchernen Verletzungen am Großzehengrundgelenk, am Mittelegelenk der zweiten Zehe mit Luxation sowie am Endgelenk der dritten Zehe links, Bl. 143 SG-Akte) und der Verwaltungsgutachter K (42/16 und 42/19 f. VA) als Gesundheitserstschäden bestätigt. Dass eine präzisere Beschreibung der Gesundheitserstschäden nach mehr als vierzig Jahren nicht gelingen kann, liegt auf der Hand, führt jedoch nicht dazu, die Anerkennung eines Arbeitsunfalls abzulehnen, da eine grobe Beschreibung der stattgehabten Verletzungen insbesondere aufgrund der Röntgenbefunde von Juni 1985 gerade (noch) möglich ist.

Auch die vorgelegten beratungsärztlichen Stellungnahmen sind nicht geeignet, die Überzeugung des Senats zu erschüttern. Zwar ist M1 - ebenso wie T und O1 - insoweit zuzustimmen, dass aus rein medizinischer Sicht rückblickend der genaue Zeitpunkt der Entstehung der auch von ihm anhand der Röntgenaufnahmen vom 28.01.2014 bestätigten älteren Frakturen im Bereich der Großzehe bis zur dritten Zehe links nicht (mehr) ermittelt werden kann (Bl. 57/7 VA). Jedoch berücksichtigte M1 bei seiner abschließenden Beurteilung die Untersuchungsergebnisse und Auswertungen die Röntgenaufnahmen von Juni 1985 nicht. Wie oben ausgeführt, waren bereits damals die auch von ihm bestätigten knöchernen Verletzungen auf den Röntgenbildern darstellbar. Es entbehrt daher jeglicher Logik, wenn er behauptet, es könne nicht „im Vollbeweis“ - hier setzt er den seitens der Beklagten vorgegebenen falschen Beweismaßstab an, da für den ursächlichen Zusammenhang „nur“ eine hinreichende Wahrscheinlichkeit erforderlich ist - nachgewiesen werden, ob die Frakturen 1978 - hier meint er wohl 1973 - oder erst vor zwei bis drei Jahren entstanden seien. Denn jedenfalls lagen sie nachweislich bereits im Juni 1985 vor. Auch berücksichtigt er den Befundbericht der Uklinik F von Juni 1978 - da für ihn offenbar unleserlich (Bl. 57/2 VA) - nicht, in dem eine Quetschverletzung der zweiten und dritten Zehe links aus dem Jahr 1973 bereits dokumentiert, wenn auch nicht mittels Röntgenaufnahmen gesichert wurde. Gleiches gilt für den Untersuchungsbericht von Juli 1983. Gleichzeitig bestätigte er jedoch, dass es sich bei den Verletzungen des Klägers im Bereich der Großzehe bis zur dritten Zehe links um Verletzungsfolgen und nicht um eine anlagebedingte Deformität handelt (Bl. 57/4 f. VA) und der seitens der Verwandten des Klägers beschriebene Hergang des Ereignisses vom 26.08.1973 - also der Sturz eines mit ca. 200 l Milch befüllten Milchtanks auf den Fuß eines siebenjährigen Kindes - sich „unkritisch“ mit den angeschuldigten Verletzungsfolgen vereinen lasse (Bl. 57/6 VA). Diese Ausführungen bekräftigen gerade die Überzeugung des Senats, wonach es hinreichend wahrscheinlich ist, dass durch das schädigende Ereignis vom 26.08.1973 gerade die Weichteilverletzung und die knöchernen Verletzungen im Bereich der Großzehe bis zur dritten Zehe entstanden. Auch die beratungsärztlichen Stellungnahmen von T (Bl. 105 ff. SG-Akte) und O1 (Bl. 133 ff. SG-Akte) bringen keine neuen Erkenntnisse. Vielmehr weisen sie zu Recht darauf hin, dass die abschließende Beweiswürdigung durch das Gericht zu erfolgen hat. Der Senat hält - wie bereits oben ausgeführt - die Aussagen von Vater, Mutter und Schwester des Klägers ebenso wie dessen eigenen Angaben für glaubhaft und gelangt daher unter Auswertung der medizinischen Unterlagen aus den Jahren 1978, 1983 und 1985 zu der Überzeugung, dass allein das Ereignis vom 26.08.1973 die Weichteilverletzung im Bereich des linken Vorfußes, die in der Klinik O versorgt wurde, und die im Rahmen der Röntgenuntersuchung des linken Vorfußes im Juni 1985 dokumentierten knöchernen Verletzungen verursachte.

Das Ereignis vom 26.08.1973 stellt folglich einen Arbeitsunfall dar.

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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