L 7 AY 1929/21 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 17 AY 791/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AY 1929/21 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Bei fortbestehender Pflichtverletzung nach Ablauf der erstmaligen Anspruchseinschränkung nach § 14 Abs. 1 AsylbLG muss die Behörde eine neue Sach- und Rechtsprüfung des Einzelfalls nach § 14 Abs. 2 AsylbLG durchführen. Lediglich wiederholende Mitteilungen der Behörde erfüllen diese Voraussetzung nicht.

Der Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 30. April 2021 wird aufgehoben, soweit der Antragsgegner verpflichtet worden ist, dem Antragsteller vorläufig vom 1. April 2021 bis zum 21. Juni 2021 ungekürzte Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten in beiden Instanzen nicht zu erstatten.


Gründe

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat nur in dem tenorierten Umfang Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei haben sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 13. April 2010 - 1 BvR 216/07 - juris Rdnr. 64; BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 - 1 BvR 1453/12 - juris Rdnr. 9). Eine Folgenabwägung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn eine Prüfung der materiellen Rechtslage nicht möglich ist (BVerfG, Beschluss vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13 - juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 - L 7 SO 2557/17 ER-B - juris Rdnr. 21; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 - L 7 SO 4253/17 ER-B - juris Rdnr. 3; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B - juris Rdnr. 19; Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - L 7 AS 634/19 ER-B - juris Rdnr. 3).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 - L 7 SO 2557/17 ER-B - juris Rdnr. 22; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 - L 7 SO 4253/17 ER-B - juris Rdnr. 4; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B - juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - L 7 AS 634/19 ER-B - juris Rdnr. 4; vgl. Beschluss des Senats vom 29. Januar 2007 - L 7 SO 5672/06 ER-B - juris Rdnr. 2; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 - L 15 AS 365/13 B ER - juris Rdnr. 18). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 - L 7 SO 2557/17 ER-B - juris Rdnr. 22; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 - L 7 SO 4253/17 ER-B - juris Rdnr. 4; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B - juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - L 7 AS 634/19 ER-B - juris Rdnr. 4; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 - L 15 AS 365/13 B ER - juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 - L 9 AS 254/06 ER - juris Rdnr. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden (Beschluss des Senats vom 31. Juli 2017 - L 7 SO 2557/17 ER-B - juris Rdnr. 22; Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2017 - L 7 SO 4253/17 ER-B - juris Rdnr. 4; Beschluss des Senats vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B - juris Rdnr. 20; Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - L 7 AS 634/19 ER-B - juris Rdnr. 4; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 - L 15 AS 365/13 B ER - juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 - L 9 AS 254/06 ER - juris Rdnr. 4).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Beschwerde nur teilweise begründet.

Der Senat hält auch nach der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – an seiner Rechtsprechung fest, dass gegen die Regelung des § 1a Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen bzw. dass diese Regelung nicht verfassungswidrig ist (vgl. Senatsbeschluss vom 8. November 2018 – L 7 AY 4468/16 – juris Rdnrn. 47 ff.). Zur Überzeugung des Senats folgt auch aus der Entscheidung des BVerfG keine andere Beurteilung. Verfassungsrechtliches Korrektiv ist vorliegend die Regelung über die Dauer der Anspruchseinschränkung in § 14 AsylbLG. Danach sind die Anspruchseinschränkungen nach diesem Gesetz auf sechs Monate zu befristen (Abs. 1). Im Anschluss ist die Anspruchseinschränkung bei fortbestehender Pflichtverletzung fortzusetzen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen der Anspruchseinschränkung weiterhin erfüllt werden (Abs. 2).

Nach dieser Regelung ist erforderlich, dass bei fortbestehendem Fehlverhalten die Behörde in eine neue Prüfung eintreten muss, ob die behördliche Sanktion noch geeignet ist, um das gewünschte Verhalten bzw. Ergebnis zu erreichen (Oppermann in jurisPK-SGB XII, Stand 10. Mai 2021, § 14 AsylbLG Rdnr. 19). Auch den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass ein nicht mehr änderbares, zurückliegendes Fehlverhalten oder sogar ein bereits korrigiertes Fehlverhalten in einer Sanktion nicht unbegrenzt fortwirkt (vgl. BT-Drs.18/6185, S. 48 zu Nr. 12). Deshalb ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob vor einer erneuten Anspruchseinschränkung das mit der Sanktion verfolgte Ziel noch erreicht werden kann. Bei fortbestehender Pflichtverletzung nach Ablauf der erstmaligen Anspruchseinschränkung nach § 14 Abs. 1 AsylbLG muss die Behörde eine neue Sach- und Rechtsprüfung des Einzelfalls nach § 14 Abs. 2 AsylbLG durchführen, ob und inwieweit die Anspruchseinschränkung gegebenenfalls durch einen neuen Bescheid befristet fortzusetzen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 18. Juni 2018 – L 7 AY 1511/18 ER-B – juris Rdnr. 9). Lediglich wiederholende Mitteilungen der Behörde erfüllen damit nicht die Anforderungen an eine erneute Sach- und Rechtsprüfung (Oppermann, a.a.O. Rdnr. 18; Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 14 Rdnr. 7).

Der Antragsgegner hat den Antragsteller mit Anhörungsschreiben vom 8. März 2021 (Bl. 163 Verwaltungsakten) aufgefordert, seinen Mitwirkungspflichten zur Beschaffung von Passdokumenten oder Identitätspapieren nachzukommen, insbesondere ein gültiges Reisedokument vorzulegen bzw., sofern er über ein solches nicht verfüge, hilfsweise Ersatzpapiere zu beschaffen bzw. an der Beschaffung mitzuwirken sowie alle Urkunden und sonstigen Unterlagen vorzulegen, die Rückschlüsse auf seine Identität und Nationalität zulassen.

Der Antragsteller hat hierzu vorgetragen, er habe wiederholt beim chinesischen Generalkonsulat vorgesprochen, dieses sei seiner Bitte, ihm wenigstens eine Bescheinigung über die jeweilige Vorsprache auszustellen, nicht nachgekommen (Bezugnahme auf den Antragsschriftsatz vom 23. Dezember 2020, Anlage 1 zu Bl.165 Verwaltungsakten). Konkrete Angaben bzw. Nachweise, zu welchen Zeitpunkten eine Vorsprache beim Generalkonsulat erfolgt ist, wurden nicht vorgelegt. Dem Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. Oktober 2019 (Anlage K 3 zu Verwaltungsakten Bl. 171) kann lediglich entnommen werden, dass ein „Pickup Form“ als Nachweis zur Passbeantragung zuletzt am 14. Oktober 2016 vorgelegt worden ist. In dem im Verfahren S 17 AY 3262/20 vorgelegten Schriftsatz vom 27. März 2021 (Bl. 171 Verwaltungsakten) hat der Bevollmächtigte des Antragstellers selbst eingeräumt, dass der letzte Nachweis über eine persönliche Vorsprache beim chinesischen Generalkonsulat auf den 14. Oktober 2016 datiere. Auch die Beantragung eines Termins beim chinesischen Generalkonsulat zur Ausstellung eines chinesischen Reisepasses durch den Bevollmächtigten des Antragstellers am 7. Oktober 2019 liegt außerhalb des zeitlichen Rahmens. Nicht ausreichend ist es, lediglich einmal (vergeblich) einen Reisepass zu beantragen. Die Mitwirkungspflichten gebieten vielmehr, jedenfalls nach erneuter Aufforderung durch den Antragsgegner neue Mitwirkungshandlungen vorzunehmen.

Dieser Verpflichtung ist der Antragsteller durch das Schreiben seines Bevollmächtigten vom 22. Juni 2021 nachgekommen, indem er bei dem chinesischen Generalkonsulat einen Vorsprachetermin für den Antragsteller beantragt hat. Der Antragsteller ist damit ab diesem Zeitpunkt seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen, so dass ab diesem Zeitpunkt aufgrund summarischer Prüfung eine Leistungseinschränkung nicht mehr gerechtfertigt ist und deshalb ein Anordnungsanspruch vorliegt.

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Ein solcher folgt bereits aus der völligen Einschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit durch die Beschränkung der Leistungen auf das unabweisbar Notwendige (Oppermann in jurisPK- SGB XII, Stand 12. April 2021 - § 1a AsylbLG Rdnr. 219; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 9. April 2020 - L 8 AY 4/20 B ER -  juris Rdnr. 40).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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