L 7 R 3372/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 376/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 3372/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 30. September 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die 1970 geborene Klägerin war zuletzt als Versorgungsassistentin in einer Hausarztpraxis versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 30. Mai 2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Vom 23. Juni 2016 bis zum 9. November 2017 bezog sie Krankengeld sowie daran anschließend vom 10. November 2017 bis 9. November 2018 Arbeitslosengeld.

In dem im Auftrag der Krankenkasse erstellten sozialmedizinischen Gutachten vom 11. April 2017 stellte H. die Diagnose einer Agoraphobie mit Panikstörung. Es bestünden keine Hinweise auf eine depressive Stimmungslage, latente soziale Rückzugstendenzen seien durch die Angsterkrankung bedingt, die sich insbesondere nachts nach unkompliziertem Einschlafen durch Aufwachen mit plötzlichem starken Herzrasen, intensiver Angst, Zittern und anderen Zeichen einer vegetativen Angstreaktion zeige. Aufgrund der dortigen Empfehlung absolvierte die Klägerin vom 21. Juni 2017 bis zum 19. Juli 2017 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik H. in B.. Dort wurde sie ausweislich des Entlassungsberichts vom 24. Juli 2017 mit den Diagnosen Angst- und Panikstörung mit psychischer Abhängigkeit von Benzodiazepinen, Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren, chronisches Lumbalsyndrom, diskreter Prolaps L5/S1 sowie wechselnden Arthralgien mit einem Leistungsvermögen von unter drei Stunden für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Versorgungsassistentin, mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr mit qualitativen Einschränkungen für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen.

Am 30. Mai 2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte ließ sie daraufhin durch den Facharzt für Allgemeinmedizin G. gutachterlich untersuchen. Dieser stellte im Gutachten vom 27. Juni 2018 die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, derzeitig mittelgradig ausgeprägt, teilremittiert unter Therapie, einer Angst- und Panikstörung sowie einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Die Klägerin könne leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in Tagesschicht noch sechs Stunden und mehr verrichten.

Mit Bescheid vom 10. Juli 2018 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 23. Juli 2018 wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2019 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 7. Februar 2019 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Das SG hat die behandelnden Ärzte Fachärztin für Gynäkologie M. (sachverständige Zeugenaussage vom 10. April 2019), Fachärztin für Innere Medizin H. (sachverständige Zeugenaussage vom 30. April 2019) und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie M.1 (sachverständige Zeugenaussage vom 30. April 2019) gehört. Auf deren Aussagen wird Bezug genommen. Das SG hat sodann weiter Beweis erhoben durch Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens durch A., Ärztlicher Leiter des ZfpG N.. Im Gutachten vom 6. November 2019 hat A. die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte bis mittelgradige depressive Episode, einer Dysthymia, einer Fibromyalgie sowie einer generalisierten Angststörung genannt. Aus diesen Diagnosen resultiere eine leicht- bis mittelgradig reduzierte Belastbarkeit, insbesondere eine reduzierte Stressresistenz, insbesondere für Tätigkeiten, die mit einem Zeitdruck einhergingen und ein höheres Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität erforderten und mit besonderer Verantwortung einhergingen. Die Fibromyalgie stehe zudem Tätigkeiten mit gleichförmigen Körper- und Zwangshaltungen, Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern, Arbeiten an gefährdenden Maschinen, Akkord- und Schichtarbeiten sowie Belastungen durch Hitze, Kälte, Nässe und Zugluft entgegen. Zu vermeiden seien auch Tätigkeiten mit häufigem Heben oder Tragen von Gewichten über fünf kg. Die Klägerin sei noch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit zu benutzen und durchschnittliche Fußstrecken von mindestens 500 m Länge viermal täglich in etwa jeweils 20 Minuten zurückzulegen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne besondere Verantwortung und mit leichter bis mittelschwerer geistiger Beanspruchung ohne Publikumsverkehr mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat sodann der Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie R., ein Gutachten erstattet. Im Gutachten vom 15. Mai 2020 hat R. die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, eines Protracted withdrawal Syndrom bei jahrelangem Tavor-Missbrauch (iatrogen) und nicht vollständiger Abstinenz, DD: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, DD: Fibromyalgie, einer generalisierten Angststörung, einer Panikstörung sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit ängstlichen, dependenten sowie masochistischen Persönlichkeitsanteilen gestellt. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit erhöhtem Stress, mit vorwiegendem Publikumsverkehr, mit erhöhter Verantwortung für andere Personen, Tätigkeiten unter Termindruck, mit hoher Verantwortung sowie dem Bedienen komplizierter Maschinen, Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeit, Arbeiten unter Kälte oder Wärmeeinfluss sowie unter Einwirkung von Staub, Gas, Dämpfen und Nässe, Arbeiten unter erhöhtem Zeitdruck, erhöhten Anforderungen an schnelle Merkfähigkeit und mit hoher nervlicher Belastung. Weiter seien Tätigkeiten mit gleichförmigen Körperzwangshaltungen wie Arbeiten auf Gerüsten und Leitern, an gefährlichen Maschinen sowie Tätigkeiten mit häufigem Bücken und Tragen von Gewichten über fünf kg nicht mehr zumutbar. Im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche könne die Klägerin eine leichte körperliche Arbeit täglich noch in einem Umfang von mindestens drei bis unter sechs Stunden ausüben. Vorgelegt wurden weitere ärztliche Atteste des M.1 vom 29. Januar 2020, der Fachärztin für Innere Medizin H. vom 18. Februar 2020 sowie Arztbriefe des H.1 vom 5. Februar 2020. Die Beklagte ist unter Bezugnahme auf die sozialmedizinische Stellungnahme der D. vom 29. Juni 2020 dieser Beurteilung entgegengetreten. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 30. September 2020 hat die Klägerin zudem Arztbriefe des M.1 vom 16. September 2020, des W. vom 15. August 2020 und des Radiologen H.2 vom 18. August 2020 vorgelegt, auf die Bezug genommen wird. Mit Urteil vom 30. September 2020 hat das SG die Klage, gestützt auf das Gutachten des A., abgewiesen.

Gegen das am 8. Oktober 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27. Oktober 2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im Gutachten des R. und dessen Leistungsbeurteilung. Entgegen der Beurteilung durch A. liege bei ihr ein ausgefüllter Tagesablauf nicht vor. Auch habe R. auf die Mängel im Gutachten des A. hingewiesen, mit denen sich das Sozialgericht nicht auseinandergesetzt habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 30. September 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2019 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Mai 2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend.

Der Senat hat mit Verfügung vom 5. Februar 2021 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen könne, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte (§ 153 Abs. 4 SGG). Es sei derzeit beabsichtigt, entsprechend zu verfahren. Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15. März 2021 gegeben worden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

 

II.

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs. 4 SGG). Die Beteiligten sind hierzu gehört worden. Die Klägerin hat keinerlei Umstände vorgebracht, aus denen sich die Erforderlichkeit einer erneuten mündlichen Verhandlung ergibt.

2. Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 144 Abs. 1 und 2 SGG).

3. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist der Bescheid vom 10. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2019 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dagegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) und begehrt die Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Mai 2016. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit macht die 1970 geborene Klägerin - zu Recht - nicht geltend, da sie nach dem 1. Januar 1961 geboren ist und deshalb von vornherein nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten dieser Rente gehört (§ 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>).

4. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Das SG hat einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zutreffend verneint. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2019 stellt sich als rechtmäßig dar und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

a. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI (in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung gemäß Gesetz vom 20. April 2007 [BGBl. I, S. 554]) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn neben den oben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

b. Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren sowie die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt der Rentenantragstellung erfüllt, was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Der Senat ist aber nicht davon überzeugt, dass die Klägerin erwerbsgemindert ist. Bei der Beurteilung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit stehen im Vordergrund ihre Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet. Diese sind jedoch nicht von einer solchen Schwere, dass sie das Leistungsvermögen der Klägerin in zeitlicher Hinsicht einschränken. Vielmehr genügen qualitative Einschränkungen, um ihren Leiden gerecht zu werden. Der Senat stützt sich hierbei insbesondere auf das Rentengutachten des Arztes G. sowie das vom SG eingeholte Gutachten des A., wobei der Senat die Rentengutachten im Rahmen des Urkundenbeweises zu verwerten hat (BSG, Beschluss vom 29. Juni 2015 - B 9 V 45/14 B - juris Rdnr. 6; Beschluss vom 26. Mai 2000 - B 2 U 90/00 B - juris Rdnr. 4).

Die Leistungsfähigkeit der Klägerin wird maßgeblich beeinträchtigt durch eine rezidivierende depressive Störung mit leicht bis mittelgradig ausgeprägten depressiven Episoden, eine Dysthymia, eine generalisierte Angststörung sowie eine Fibromyalgie. Bei der gutachterlichen Untersuchung durch A. war die Klägerin bewusstseinsklar, die Auffassung unauffällig, die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsspanne nicht beeinträchtigt. Es gab keine Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen. Die Grundstimmung war leicht gedrückt bei etwas eingeschränkter, aber insgesamt noch erhaltener Modulationsfähigkeit. Im Rahmen der Exploration konnten keine wesentlichen Beeinträchtigungen des Antriebs und keine Auffälligkeiten in der Psychomotorik festgestellt werden. Anamnestisch wurde eine Angstsymptomatik, einhergehend mit vegetativen Begleitsymptomen, reduzierter Stresstoleranz sowie einem Gefühl dauerhafter Müdigkeit und einer die Extremitäten betreffenden Schmerzsymptomatik beschrieben. Allerdings hat der Gutachter auch ausgeführt, sowohl hinsichtlich der seelischen als auch der körperlichen Beeinträchtigungen falle eine deutliche Diskrepanz zwischen den erhobenen Testergebnissen, den im Rahmen der Begutachtung erhobenen Befunden und dem bei der Begutachtung gewonnenen Eindruck auf, insbesondere unter Berücksichtigung des von der Klägerin geschilderten Tagesablaufs. Danach ist die Klägerin noch in der Lage, ihren Alltag zu strukturieren und zahlreichen Aktivitäten nachzugehen. So erledigt sie die Einkäufe, versorgt den Haushalt weitgehend selbständig, bereitet am Nachmittag der erwachsenen berufstätigen Tochter das Mittagessen und am Abend das Essen für den erwachsenen und berufstätigen Sohn, unternimmt mit dem Hund längere Spaziergänge und unterstützt die Tochter bei der Versorgung eines Pferdes. Aufgrund der zweifellos bestehenden reduzierten Stressresistenz sind der Klägerin keine Tätigkeiten, die mit einem Zeitdruck oder besonderer Verantwortung einhergehen oder die ein höheres Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität erfordern, mehr zumutbar. Wegen der Schmerzerkrankung kann die Klägerin auch keine Tätigkeiten, die mit gleichförmigen Köperhaltungen oder Zwangshaltungen einhergehen, mehr verrichten. Gleiches gilt für Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, an gefährdenden Maschinen, für Akkord- und Schichtarbeit sowie mit Belastung durch Hitze, Kälte, Nässe oder Zugluft. Zudem sind Tätigkeiten mit häufigem Heben oder Tragen von Lasten über fünf kg wegen der Gefahr einer Zunahme der Schmerzsymptomatik nicht mehr zumutbar. Die auf orthopädischem Fachgebiet bestehenden Erkrankungen, nämlich ein chronisches Lumbalsyndrom, ein diskreter Prolaps L5/S1 sowie wechselnde Arthralgien, bedingen keine darüber hinausgehenden Leistungseinschränkungen.

Die Klägerin kann zwar aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht mehr die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Versorgungsassistentin ausüben. Unter Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen ist sie jedoch noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest sechs Stunden täglich zu verrichten.

Der Senat folgt nicht der Leistungsbeurteilung des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie M.1, wonach bei der Klägerin ein unter dreistündiges Leistungsvermögen bestehe. Dagegen spricht insbesondere, dass dieser in der sachverständigen Zeugenaussage vom 30. April 2019 sowie den Stellungnahmen vom 29. Januar 2020 und 16. September 2020 jeweils die Diagnose einer gegenwärtig schweren Episode einer rezidivierenden depressiven Störung genannt hat, eine solche jedoch weder von A. noch von R. in deren Gutachten diagnostiziert worden ist und auch in den sonstigen medizinischen Unterlagen nicht genannt wird. Auch hat M.1 keine Befunde genannt, die eine entsprechende Diagnose rechtfertigen könnten. Er hat zudem die Diagnose Ein- und Durchschlafstörungen genannt. Demgegenüber hat die Klägerin sowohl gegenüber R. wie auch gegenüber A. von keinen Einschlafproblemen berichtet, sondern lediglich nächtliche Panikattacken angegeben.

Der Senat folgt auch nicht der Leistungsbeurteilung durch den Sachverständigen R.. Soweit dieser zusätzlich die Diagnose einer Panikstörung genannt hat, die vor allem vor schwierigen Terminen auftrete, resultieren hieraus keine über die mit der Angststörung verbundenen weiteren Einschränkungen. Soweit R. weiter ausgeführt hat, A. habe den Verlauf der Depression nicht ausreichend berücksichtigt, er habe nicht bemerkt, dass eine Kombination der Erkrankung an einer rezidivierenden depressiven Störung bei leicht- bis mittelgradig ausgeprägter depressiven Episode und einer Dysthymie die Diagnose einer „double depression“ mit besonders schlechter Prognose ergebe, trifft dies nicht zu. A. hat vielmehr ausgeführt, hinsichtlich der depressiven Störung stehe im Vordergrund ein leicht bis mittelgradig reduzierter Antrieb, eine leichtgradig gedrückte Stimmungslage mit noch recht gut erhaltener, affektiver Schwingungsfähigkeit, ein vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sowie eine reduzierte Belastbarkeit. Daneben leide die Klägerin an einer chronischen, mehrere Jahre andauernden depressiven Verstimmung, die er als Dysthymia diagnostiziert hat. Auch A. ist danach von einem langjährigen Krankheitsverlauf sowie davon ausgegangen, dass keine Zeiten einer vollständigen Beschwerdefreiheit vorgelegen haben. Unbeachtlich ist zudem eine mögliche zukünftige Verschlechterung des Krankheitsbildes, auf die eine prognostische Beurteilung abstellt. Maßgeblich sind vielmehr der aktuelle gesundheitliche Zustand und die daraus resultierenden Leistungseinschränkungen. Insoweit ist zu berücksichtigen - worauf auch A. hingewiesen hat - dass die Klägerin noch in der Lage ist, ihren Alltag zu strukturieren und zahlreichen Aktivitäten nachzugehen. Eine andere Beurteilung rechtfertigt schließlich auch nicht die von R. gestellte Diagnose eines Protracted withdrawal Syndrom (langwieriges Entzugssyndrom) bei jahrelangem Tavor-Missbrauch (iatrogen) und nicht vollständiger Abstinenz, als deren aktuelle Auswirkungen er eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine Fibromyalgie beschreibt. Denn diese, nicht durch organische Befunde erklärbaren Schmerzzustände, hat auch A. in seine Beurteilung mit einbezogen. Schließlich wird die Leistungsbeurteilung des R. gerade nicht durch die vom Beklagten herausgegebenen Empfehlungen zur sozialmedizinischen Begutachtung, auf die er sich berufen hat, gestützt, wonach beim Vorliegen einer mittelschwer bis schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik sowie weiterer Voraussetzungen die Wiederherstellung einer vollen Leistungsfähigkeit kaum zu erwarten sei. Denn bei der Klägerin liegt auch nach den von R. erhobenen Befunden keine mittelschwere bis schwer ausgeprägte Depression vor.

Maßgeblich ist somit, ob die Klägerin noch in der Lage ist, ihr aufgrund des dokumentierten Tagesablaufs zweifellos vorhandenes Leistungsvermögen auch in einem Arbeitsverhältnis zu erbringen. Der Senat hält dies unter Beachtung der genannten qualitativen Leistungseinschränkungen noch für möglich. Auch R. hat dies nicht ausgeschlossen, sondern lediglich ausgeführt, eine Arbeit im Umfang von sechs bis acht Stunden könnte die psychische Symptomatik erheblich verschlimmern. Allerdings hat er sich hierbei im Wesentlichen auf die innerfamiliäre Situation bezogen, in welcher die Klägerin einer Überforderung ausgesetzt sei und durch die innere Verpflichtung, einerseits eine gute Mutter zu sein, andererseits die Arbeiten in guter Qualität und rechtzeitig zu erledigen, einem starken Druck ausgesetzt sei, der zu starker Erschöpfung führe. Angesichts dieser Konstellation spricht viel dafür, dass eine berufliche Tätigkeit sogar zu einer Entlastung der Klägerin führen könnte, wie auch die behandelnde Gynäkologin M. angedeutet hat.

Steht das krankheits- bzw. behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob der Versicherte damit außerstande ist, „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ tätig zu sein. Diese Frage ist hier zu verneinen. „Bedingungen“ sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind. Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen. Die Bedingungen sind „üblich“, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl. Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch „Angebot“ und „Nachfrage“ gibt. Das Adjektiv „allgemein“ grenzt den ersten vom zweiten - öffentlich geförderten - Arbeitsmarkt, zu dem regelmäßig nur Leistungsempfänger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) Zugang haben, sowie von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und andere geschützte Einrichtungen.

Die Klägerin kann - wie dargelegt - an fünf Tagen in der Woche mindestens sechs Stunden arbeiten. Sieht man davon ab, dass ihr Schichtarbeiten krankheitsbedingt nicht mehr zugemutet werden dürfen, benötigt sie im Hinblick auf Dauer und Verteilung der Arbeitszeit keine Sonderbehandlung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich wäre. Sie hat auch keinen erhöhten, betriebsunüblichen Pausen- oder Urlaubsbedarf und ist in einem Betrieb, also außerhalb geschützter Einrichtungen, einsetzbar. Dabei ist der Senat der Auffassung, dass die Klägerin über die für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit notwendigen kognitiven Grundfähigkeiten verfügt. Nach der Rechtsprechung des BSG werden unter den Begriff der üblichen Bedingungen „auch tatsächliche Umstände“ verstanden, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz, mithin ausschließlich kognitive Grundfähigkeiten (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R - juris Rdnr. 29). Wie dargelegt, liegt bei der Klägerin kein Leiden vor, das leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließt. Die angesprochenen kognitiven Grundfähigkeiten sind nicht betroffen, sondern allenfalls qualitative Leistungsausschlüsse für Tätigkeiten mit erhöhtem Zeitdruck oder mit besonderer Verantwortung sowie für Tätigkeiten, die ein höheres Maß an Anpassungsfähigkeit erfordern.

Die gesundheitlichen Einschränkungen sind weder in ihrer Art noch in ihrer Summe geeignet, die Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu begründen (dazu BSG, a.a.O. Rdnr. 24 ff.). Im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch in der Lage ist, körperlich leichte und geistige einfache Tätigkeiten - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten regelmäßig gefordert werden, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. zuletzt Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 79/09 R - BSGE 109, 189 -; Urteil vom 11. Dezember 2019 - B 13 R 7/18 R - juris Rdnr. 27). Der Senat ist der Überzeugung, dass das Restleistungsvermögen der Klägerin es dieser erlaubt, die oben genannten Verrichtungen oder Tätigkeiten, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, auszuüben. Es liegt weder eine spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Der Senat ist in Übereinstimmung mit den Sachverständigen A. und R. auch davon überzeugt, dass bei der Klägerin die erforderliche Wegefähigkeit vorliegt (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1).  

Mit dem festgestellten Leistungsvermögen ist die Klägerin weder teilweise noch voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI. Somit hat die Berufung keinen Erfolg.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

6. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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