L 7 R 3817/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 106/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 3817/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Meter mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1 - juris Rdnr. 20).

2. Leidet der Versicherte wegen einer chronischen Darmerkrankung unter häufigen und unkontrollierbaren Darmentleerungen, die es erforderlich machen, sich stets in der Nähe einer Toilette aufzuhalten, so kann er nicht auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel (Busse, Straßenbahnen, U-Bahn im öffentlichen Personennahverkehr) verwiesen werden.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Oktober 2019 abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 8. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2017 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juni 2017 bis zum 31. Dezember 2021 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die 1970 geborene Klägerin zog 1974 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Zuletzt stand sie in der Zeit vom 1. Juni 2010 bis zum 30. März 2014 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis in der Altenpflege. Anschließend bezog sie bis zum 13. Dezember 2016 Arbeitslosengeld bzw. Krankengeld. Seit November 2019 übt die Klägerin eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung im Umfang von bis zu sechs Stunden in der Woche im Bereich der häuslichen Altenpflege aus. Um die zu pflegende Person aufzusuchen, wird die Klägerin von ihrem Ehemann oder einer Freundin mit dem Auto gefahren. Die Klägerin ist nicht im Besitz eines Führerscheins.

Im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens betreffend Leistungen der medizinischen Rehabilitation erstattete die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E.  unter dem 2. April 2015 ein Gutachten mit der Diagnose Z.n. schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen, derzeit leicht bis mittelgradig. In der Zeit vom 5. Mai 2015 bis zum 7. Mai 2015 absolvierte die Klägerin eine stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der Klinik S. B. N. (Entlassbericht des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie K. vom 12. Mai 2015; Diagnosen: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen, arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus Typ II, Crohn-Krankheit). Die Rehabilitationsmaßnahme wurde vorzeitig auf ärztliche Veranlassung wegen aufgetretener psychotischer Symptome abgebrochen.

In der Zeit vom 25. Mai 2016 bis zum 15. Juni 2016 befand sich die Klägerin in der Rehaklinik O. in B. M. wegen der Diagnosen Morbus Crohn, aktuell akuter Schub, rezidivierende depressive Störung mit paranoidal-halluzinatorischer Psychose, Diabetes mellitus Typ II, arterielle Hypertonie und chronisches Schmerzsyndrom in stationärer Behandlung. Wegen eines weiteren Schubes der Morbus-Crohn-Erkrankung erfolgte in der Zeit vom 29. September 2016 bis zum 10. Oktober 2016 eine stationäre Behandlung im  S. Klinikum P.  (Entlassbericht des Prof. Dr. W. vom 11. Oktober 2016).

Am 23. Juni 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Sie begründete ihren Rentenantrag mit Depressionen, Morbus Crohn, Diabetes, hohem Blutdruck und Schmerzen am ganzen Körper. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin. Die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachärztin für Innere Medizin Dr. S. gelangte in ihrem Gutachten vom 4. September 2017 - unter Berücksichtigung der Diagnosen: Leichtgradige depressive Episode ohne wesentliche kognitive Einschränkungen, chronische Schmerzstörung mit überwiegend psychischen Anteilen ohne wesentliche körperliche Bewegungseinschränkung, psychische Belastung durch körperliche Erkrankung (Crohn-Krankheit), Crohn-Krankheit, Erstdiagnose 2014, derzeit zehn bis fünfzehn Durchfälle am Tag, zum Teil mit Inkontinenz, Diabetes mellitus Typ II, Bluthochdruck, medikamentös eingestellt - zu der Einschätzung, dass die Klägerin leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, überwiegend im Stehen, Gehen und im Sitzen in Tagesschicht sechs Stunden und mehr verrichten könne. Aufgrund der häufigen Stuhlgänge seien Arbeiten mit Publikumsverkehr zu vermeiden. Die Klägerin sollte jederzeit die Möglichkeit haben, auch kurzfristig eine Toilette aufzusuchen. Längere Anfahrtswege in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Toiletten seien zu vermeiden. Dr. S. führte u.a. aus, dass die Crohn-Krankheit derzeit aktiv sei. Die Klägerin sei durch diese psychisch mit Gedankeneinengung auf die Problematik mit den häufigen Stuhlgängen belastet. Durch die Problematik der häufigen Stuhlgänge sei die Klägerin in ihrer Teilhabe am Sozialleben und in ihrer Mobilität leicht eingeschränkt. Kürzere Fahrstrecken in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Toiletten seien ihr möglich. Die medikamentöse Behandlung der Crohn-Krankheit sei nicht ausgereizt.

Im Rahmen der Begutachtung durch Dr. S. hatte die Klägerin angegeben, dass sie oft Magen- und Unterbauchschmerzen, vergleichbar wie „Wehen“, sowie zehn- bis fünfzehnmal am Tag, zum Teil auch nachts, blutige Durchfälle, in akuten Phasen bis zu dreißigmal am Tag, zum Teil mit Inkontinenz, wenn sie nicht sofort eine Toilette aufsuche, habe. Die Sexualität habe sie eingestellt, da sie hierunter Stuhlgang entwickelt habe. Wenn sie von zu Hause weggehe, müsse sie sich immer vergewissern, wo sie unterwegs eine Toilette aufsuchen könne. So habe sie die Erlaubnis, im Supermarkt die Personaltoilette zu benutzen.

Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 8. September 2017 ab. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2017 als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 5. Januar 2018 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) (S 10 R 106/18) erhoben.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen vernommen. Der Facharzt für Nervenheilkunde Dr. K. hat mit Schreiben vom 6. Juni 2018 (Bl. 31/35 der SG-Akte) ausgeführt, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, aktuell schwergradige depressive Episode, vorliege. Der Facharzt für Innere Medizin F.  hat mit Schreiben vom 29. August 2018 (Bl. 41/47 der SG-Akten) mitgeteilt, dass der Morbus Crohn immer wieder Probleme im Alltag mit häufigen Stuhlgängen (um die zehn je Tag) und Durchfällen bereite. Insgesamt liege eine chronisch progrediente Verschlechterung vor. Medikamentöse Maßnahmen und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen hätten keine dauerhaften Erfolge gebracht. Dazu hat die Beklagte die sozialmedizinische Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 17. September 2018 (Bl. 53 der SG-Akten) vorgelegt.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens. Der Facharzt für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. hat in seinem Gutachten vom 18. Januar 2019 (Bl. 58/93 der SG-Akten) eine chronisch-depressive Verstimmung im Sinne einer Dysthymia, eine psychische Belastung durch körperliche Erkrankung (Crohn-Erkrankung), akzentuierte Persönlichkeitszüge, schädlichen Nikotinkonsum, eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn, Erstdiagnose 2014, derzeit zehn bis fünfzehn Durchfälle am Tag), Diabetes mellitus Typ II, Bluthochdruck, medikamentös behandelt, und Adipositas Grad I beschrieben. Anamnestisch hat die Klägerin gegenüber Dr. S. angegeben, dass sie aktuell am Tag etwa fünfzehn Durchfälle habe. Sie erbreche auch sechs- bis siebenmal am Tag, der Durchfall sei blutig, manchmal auch schleimartig. Sie hat eine Drang-Stuhlinkontinenz geschildert. Bei Stuhlgang müsse sie sehr rasch zur Toilette. Dr. S. hat ausgeführt, dass entsprechend den Eigenangaben der Klägerin und den aktuell erhobenen Befunden der Schwerpunkt des Beschwerdebildes auf dem internistischen bzw. dem gastroenterologischen Fachgebiet mit der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung liege. Die Klägerin könne leichte körperliche Tätigkeiten ohne vermehrt geistig-psychische Belastung in Tagesschicht verrichten. Aufgrund des Morbus Crohn müsse eine Toilette in erreichbarer Nähe sein. Die psychische Symptomatik sei nicht derart ausgeprägt bzw. entziehe sich nicht derart der zumutbaren Willensanstrengung, als dass sie ein unüberwindbares Hemmnis für die Aufnahme und Ausführung einer Tätigkeit im Umfang von arbeitstäglich mindestens sechs Stunden darstellen würde. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht liege ein arbeitstägliches Leistungsvermögen ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit von mindestens sechs Stunden unter Berücksichtigung des qualitativen Leistungsbildes vor. Betriebsunübliche Arbeitsbedingungen seien nicht erforderlich. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit bestehe nicht.

Entsprechend der Empfehlung des Dr. S. hat das SG weiter Beweis erhoben durch Einholung eines internistischen Gutachtens. Der Kardiologe und Diabetologe Dr. K. hat in seinem Gutachten vom 26. März 2019 (Bl. 98/129 der SG-Akten) einen Morbus Crohn mit mittelgradiger Aktivität, einen Diabetes mellitus Typ II, eine arterielle Hypertonie, eine Adipositas Grad I, mehrfache cutane und subcutane Abszesse, eine Lungenembolie 2010, eine psychische Belastung durch körperliche Erkrankung, eine chronisch-depressive Verstimmung sowie eine schwere depressive Episode mit halluzinatorischer Symptomatik 2014/2015 beschrieben. Die Klägerin sei in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnder Haltung auszuüben. Tätigkeiten mit Steigen auf Leitern und Gerüsten, Zwangshaltungen, mit häufigem Bücken, mit hoher geistiger und psychischer Stressbelastung sowie im Schicht- oder Akkordbetrieb seien ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen sei die Klägerin in der Lage, vollschichtig tätig zu sein. Erforderlich sei die rasche Nähe des Arbeitsplatzes zu einer immer verfügbaren Toilette. Der Klägerin müsse es jederzeit möglich sein, die Arbeit zu unterbrechen, um schnellstmöglich eine Toilette aufsuchen zu können. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt. Sie sei in der Lage, täglich viermal einen Fußweg von 500 Metern jeweils in maximal 20 Minuten zurückzulegen. Sie sei ebenfalls in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin könne sich gegebenenfalls bessern, wenn eine bessere Therapie des Morbus Crohn gelinge. Dr. K. hat in seinem Gutachten festgehalten, dass anlässlich der Durchführung eines Belastungs-EKGs auf der 50-Watt-Stufe es zu einem Belastungsabbruch bei „erneutem imperativen Stuhldrang“ gekommen ist und eine Fortführung der Ergometrie nicht möglich war. Gegenüber Dr. K. hat die Klägerin anamnestisch angegeben, dass sie massiv unter den Durchfällen leide. Sie habe zehn- bis fünfzehnmal am Tag Stuhlgang, manchmal auch häufiger, meist flüssig, manchmal schleimig, sehr selten breiig. Sie habe ein starkes Brennen im Bauch und am After, es bestehe ein imperativer Stuhldrang, sodass sie innerhalb kürzester Zeit die Toilette aufsuchen müsse. Auch auf der Autofahrt von P.  bis S. habe sie zweimal anhalten müssen, um eine Toilette aufzusuchen. Sie benötige drei bis vier große Vorlagen am Tag. Sie traue sich nicht mehr unter Menschen und in die Öffentlichkeit aufgrund des imperativen Stuhldranges.

Die Klägerin hat gegen die Leistungsbeurteilung des Dr. K. eingewandt (Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 12. Juni 2019), dass sie jederzeit eine freie Toilette in naher Umgebung benötige.

Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 1. Oktober 2019 - gestützt auf die Gutachten des Dr. S. und des Dr. K. - abgewiesen.

Gegen den ihren Bevollmächtigten am 9. Oktober 2019 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 11. November 2019 (Montag) beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung, mit der sie ihr Rentenbegehren weiterverfolgt. Das Gutachten des Dr. K. sei widersprüchlich. Einerseits führe dieser aus, dass für sie - die Klägerin - eine Toilette immer verfügbar sein müsse. Ihr müsse es jederzeit möglich sein, eine Arbeit zu unterbrechen, um schnellstmöglich eine Toilette aufsuchen zu können. Andererseits gehe er von einer nicht eingeschränkten Wegefähigkeit der Klägerin aus. Im heutigen Arbeitsleben stehe nicht jederzeit eine Toilette zur Verfügung. Im Übrigen sei es zu einer Befundverschlechterung hinsichtlich der Morbus-Crohn-Erkrankung gekommen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Oktober 2019 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 8. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2017 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Juni 2017 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist zur Begründung auf den angefochtenen Gerichtsbescheid.

Der Senat hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich einvernommen. Der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie Dr. W. hat mit Schreiben vom 9. März 2020 (Bl. 51/52 der Senatsakten) mitgeteilt, das führende Symptom bei der Klägerin seien massive Diarrhoen, im November 2018 bis zu 30 Stühlen täglich, im November 2019 ca. 15 Stühle täglich. Im November 2019 sei eine Umstellung der immunsuppressiven Therapie erfolgt, die gut angesprochen und zu einem Rückgang der Diarrhoen geführt habe. Der Facharzt für Innere Medizin F.  hat mit Schreiben vom 24. Juli 2020 (Bl. 72/92 der Senatsakten) mitgeteilt, dass die Klägerin immer wieder u.a. unter Bauchschmerzen und heftigen häufigen Durchfällen leide. Der Appetit sei je nach Beschwerden und Stimmungslage schwankend, das Gewicht stabil. Durch den langjährigen Krankheitsverlauf sei es zu einer Somatisierung der psychischen Störung gekommen mit Kreuzschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und einer Verstärkung der stark wechselnden Bauchschmerzen unabhängig vom Morbus Crohn. Die letzte Koloskopie im September 2019 habe im ganzen Colon eine mehr oder weniger starke Entzündungsaktivität des Crohn gezeigt. Eine Umstellung der Medikation auf Biologika sei eingeleitet worden. Die Klägerin habe immer wieder über Bauchschmerzen und -krämpfe sowie wechselnd häufige, sehr belastende Durchfälle bis zu zwanzigmal am Tag berichtet.

Die Beklagte hat unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des Facharztes für Innere Medizin Dr. L. vom 27. August 2020 (Bl. 101 der Senatsakten) an ihrer Leistungsbeurteilung festgehalten.

Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 29. Oktober 2020 einen Erörterungstermin durchgeführt und die Klägerin persönlich angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Niederschrift der nichtöffentlichen Sitzung vom 29. Oktober 2020 (Bl. 103/106 der Senatsakten) Bezug genommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist im tenorierten Umfang begründet.

1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da die Klägerin wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist der Bescheid vom 8. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2017 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dagegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) und begehrt die Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Juni 2017. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit macht die nach dem 1. Januar 1961 geborene Klägerin - zu Recht - nicht geltend, da sie von vornherein nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten dieser Rente gehört (§ 240 Sozialgesetzbuch <SGB> Sechstes Buch <VI> - Gesetzliche Rentenversicherung - <SGB VI>).

3. Die Berufung hat im tenorierten Umfang Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Dezember 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Juni 2017 bis zum 31. Dezember 2021.

a. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI (in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung gemäß Gesetz vom 20. April 2007 [BGBl. I, S. 554]) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn neben den oben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Hat - wie hier - der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann (so - auch zum Folgenden - Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R - juris Rdnr. 20 m.w.N.). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Dazu gehört z.B. auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges.

b. Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren sowie die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bezogen auf den Zeitpunkt der Rentenantragstellung im Juni 2017 erfüllt, was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin ab Oktober 2016 und damit auch in der hier streitigen Zeit ab 1. Juni 2017 voll erwerbsgemindert aufgrund fehlender Wegefähigkeit ist. Ob die Klägerin auch hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist, kann daher dahinstehen.

Aufgrund des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme, einschließlich der in den Verwaltungsverfahren eingeholten ärztlichen Äußerungen, die der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten kann (vgl. BSG, Beschluss vom 14. November 2013 - B 9 SB 10/13 B - juris Rdnr. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 - B 2 U 8/07 R - juris Rdnr. 51), steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin jedenfalls seit Oktober 2016 unter einer aktiven Morbus-Crohn-Erkrankung mit mindestens zehn Durchfällen pro Tag sowie plötzlicher und unvorhersehbarer Dranginkontinenz leidet.

Dass die Klägerin unter häufigen Durchfällen leidet, zieht sich durch ihre Krankheitsgeschichte seit 2014. Wegen eines akuten Schubs des Morbus Crohn mit häufigen wässrigen Diarrhoen wurde die Klägerin in der Zeit vom 2. Juni 2014 bis 17. Juni 2014 im S. St. T. Klinikum P.  stationär behandelt. Während dieses Aufenthalts wurde eine medikamentöse Therapie eingeleitet, die zu einer deutlichen Besserung der Symptome und der Stuhlfrequenz geführt hat. Zu weiteren akuten Schüben der Morbus-Crohn-Erkrankung kam es im Mai 2016 (stationärer Aufenthalt in der Rehaklinik O. vom 25. Mai 2016 bis zum 15. Juni 2016) sowie im September 2016 (stationärer Aufenthalt im S. St. T. Klinikum P.  vom 29. September 2016 bis zum 10. Oktober 2016). Während des stationären Aufenthalts im Herbst 2016 wurde ein Befundprogress zur Voruntersuchung festgestellt. U.a. durch Steroidgabe konnte langsam eine Besserung erreicht werden. Die Klägerin wurde mit der Maßgabe entlassen, die Steroiddosis zu reduzieren. Der behandelnde Internist F.  hat im November 2016 von einem akuten Schub des Morbus Crohn mit einer erhöhten Cortisoldosis berichtet. Im Rahmen der Begutachtung durch Dr. S. im August 2017 stand nach wie vor die Beschwerdesymptomatik aufgrund des Morbus Crohn ganz im Vordergrund. Dr. S. stellte fest, dass die Crohn-Krankheit seinerzeit aktiv war und die Klägerin durch diese auch psychisch erheblich belastet war (Gedankeneinengung auf die Problematik mit den häufigen Stuhlgängen). Dr. S. hat festgehalten, dass die Klägerin jederzeit die Möglichkeit haben muss, kurzfristig eine Toilette aufzusuchen, und ihr „längere Anfahrtswege“ in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zumutbar sind. Gegenüber Dr. S. gab die Klägerin an, dass sie oft Magen- und Unterbauchschmerzen, vergleichbar wie „Wehen“, sowie zehn- bis fünfzehnmal am Tag Durchfälle, in akuten Phasen bis zu dreißigmal am Tag, habe und dabei auch Inkontinenz auftrete. Die Klägerin schilderte weiter, dass sie wegen des Stuhldrangs die Sexualität eingestellt habe. Wenn sie ihre Wohnung verlasse, müsse sie sich immer vergewissern, ob und ggf. wo sie unterwegs eine Toilette aufsuchen könne. Im August 2018 berichtete der behandelnde Internist F. , dass der Morbus Crohn der Klägerin mit häufigen Stuhlgängen und Durchfällen (um die zehn je Tag) Probleme im Alltag bereitet hat. Er ging unter medikamentöser Therapie von einer chronisch progredienten Verschlechterung aus. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel hielt er nicht für planbar und nur tagesformabhängig möglich. Der Internist und Gastroenterologe Dr. W. berichtet im November 2018 von bis zu 30 Stühlen unter immunsupressiver Therapie. Bei ihrer dortigen Vorstellung im September 2019 gab sie fünfzehn Stühle und Schmerzen im Unterbauch an. Dr. W. stellte im November 2019 die immunsupressive Therapie um, wodurch zwar zunächst ein Rückgang der Durchfälle erreicht werden konnte, jedoch auch rezidivierende Mammaabszesse hervorgerufen wurden (Berichte des T. vom 3. Dezember 2019, 10. Februar 2020 und 17. Februar 2020). Der Internist F. hat im Juli 2020 u.a. von einem Morbus Crohn mit heftigen häufigen Durchfällen (zehn bis zwanzigmal am Tag) berichtet.    

Gegenüber Dr. S. gab die Klägerin im Januar 2019 an, dass sie seinerzeit am Tag etwa fünfzehn Durchfälle habe. Sie erbreche auch sechs- bis siebenmal am Tag, der Durchfall sei blutig, manchmal auch schleimartig. Sie hat eine Drang-Stuhlinkontinenz mit der Notwendigkeit der raschen Erreichbarkeit einer Toilette geschildert. Dr. S. sah den Schwerpunkt des Beschwerdebildes auf dem internistischen bzw. dem gastroenterologischen Fachgebiet mit der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Er hat betont, dass aufgrund des Morbus Crohn ständig eine Toilette in erreichbarer Nähe sein muss. Der Kardiologe und Diabetologe Dr. K. stellte im März 2019 u.a. einen Morbus Crohn mit mittelgradiger Aktivität fest und wies darauf hin, dass für die Klägerin eine Toilette immer verfügbar sein muss. Er hat darüber berichtet, dass anlässlich der Durchführung eines Belastungs-EKGs auf der 50-Watt-Stufe, d.h. bei leichter körperlicher Belastung, es zweimal zu einem „imperativen Stuhldrang“ kam und eine Fortführung der Ergometrie nicht möglich war. Gegenüber Dr. K. gab die Klägerin anamnestisch an, dass sie massiv unter den Durchfällen leide. Sie habe zehn- bis fünfzehnmal am Tag Stuhlgang, manchmal auch häufiger, meist flüssig, manchmal schleimig, sehr selten breiig. Sie habe ein starkes Brennen im Bauch und am After, es bestehe ein imperativer Stuhldrang, sodass sie innerhalb kürzester Zeit die Toilette aufsuchen müsse. Die Autofahrt von ihrem Wohnort P.  zum Sachverständigen in S. habe sie zweimal unterbrechen müssen, um eine Toilette aufzusuchen. Sie benötige drei bis vier große Vorlagen am Tag. Sie traue sich nicht mehr unter Menschen und in die Öffentlichkeit aufgrund des imperativen Stuhldranges. Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vor dem Berichterstatter am 29. Oktober 2020 berichtete die Klägerin glaubhaft von plötzlich und unvorhersehbar auftretendem Stuhldrang, bei dem sie unverzüglich eine Toilette aufsuchen müsse. Einen Auslöser für den Stuhldrang könne sie nicht feststellen. Deshalb benutze sie grundsätzlich keine öffentlichen Verkehrsmittel und organisiere ihren Alltag so, dass sie immer eine Toilette erreichen könne.

Hieraus folgt zur Überzeugung des Senats, dass die Klägerin regelmäßig unter häufigen und unkontrollierbaren Darmentleerungen leidet, die es erforderlich machen, sich stets in der Nähe einer Toilette aufzuhalten. Dass die Angaben der Klägerin zur Häufigkeit unkontrollierten Stuhldrangs im Laufe der Zeit wechselhaft waren, stellt deren Plausibilität nicht in Frage. Angesichts der - unstreitigen - Morbus-Crohn-Erkrankung mit mehrfachen Schüben ist das geschildete Krankheitsgeschehen nachvollziehbar. Dass sich dieses nicht jeden Tag in exakt derselben Weise vollzieht und auch im langfristigen Verlauf Veränderungen unterliegt, ist dabei ebenso plausibel. Auch die Sachverständigen Dr. S., Dr. S. und Dr. K. haben die von der Klägerin geschilderten Beschwerden für plausibel und nachvollziehbar erachtet. Die Klägerin hat im Erörterungstermin am 29. Oktober 2020 anschaulich geschildert, wie sie ihren Alltag so organisiert, dass für sie immer eine Toilette erreichbar ist. Dass die Klägerin im November 2019 eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hat, spricht entgegen der Auffassung der Beklagten nicht für eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes. Denn die Klägerin, die über keinen Führerschein verfügt, wird von ihrem Ehemann oder einer Freundin in die lediglich drei Kilometer entfernt liegende Wohnung der zu pflegenden Person mit dem Auto gefahren. In der Wohnung der zu pflegenden Person existieren zwei Toiletten, sodass es der Klägerin während ihrer Tätigkeit jederzeit möglich ist, bei Stuhldrang eine der beiden Toilette aufzusuchen. Schließlich spricht auch die durch Dr. S. und Dr. K. diagnostizierte Adipositas Grad I nicht gegen häufige und unkontrollierbare Darmentleerungen, da diese nicht zwingend mit einem Gewichtsverlust verbunden sein müssen. Insoweit hat die Klägerin gegenüber Dr. S. angegeben, dass sie unter Cortisongabe viel Appetit habe.  

Der Senat ist daher überzeugt, dass es der Klägerin nicht in zumutbarer Weise möglich ist, eine Arbeitsstätte aufzusuchen. Angesichts der Notwendigkeit, jederzeit eine Toilette aufsuchen zu müssen, kann sie nicht auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel verwiesen werden, da diese entweder (etwa Busse oder Straßenbahnen) gar keine Toiletten oder (etwa Regionalverkehrszüge) Toiletten nicht in quantitativ ausreichender und funktionell zuverlässiger Weise haben (vgl. Urteil des Senats vom 6. Februar 2020 - L 7 R 592/19 - <n.v.>; Urteil des Senats vom 17. Mai 2018 - L 7 R 1029/16 - <n.v.>). Die Möglichkeit der Klägerin, eine Wegstrecke von 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, reicht für die Wegefähigkeit nicht aus, da das Zurücklegen einer solchen Wegstrecke gerade nur dem Aufsuchen der nächsten Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel dient.

Die Klägerin kann auch nicht zumutbar auf die Nutzung eines Personenkraftwagens verwiesen werden. Denn sie verfügt nicht über einen Führerschein. Auch kann sie nicht darauf verwiesen werden, dass sie - wie im Rahmen der derzeit maximal dreimal in der Woche ausgeübten geringfügigen Beschäftigung - arbeitstäglich von ihrem berufstätigen Ehemann oder ihrer Freundin mit dem Auto zu einer Arbeitsstelle gefahren wird. Zunächst hat die Klägerin keinen Arbeitsplatz mit einer Arbeitszeit von sechs Stunden an fünf Tagen in der Woche inne. Weiterhin ist nicht gesichert, dass ein solcher Vollzeitarbeitsplatz im näheren Wohnumfeld der Klägerin befinden würde und mit kurzen Anfahrten erreicht werde könnte. Schließlich kann die Klägerin auf Mitfahrgelegenheiten nur verwiesen werden, wenn ein Arbeitsplatz unter entsprechend günstigen Bedingungen angeboten wird (vgl. Freudenberg in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 Rdnr. 214; Gürtner in Kasseler Kommentar, Stand September 2020, § 43 SGB VI Rdnr. 44; von Koch in Kreikebohm, SGB VI, 5. Aufl. 2017, § 43 Rdnr. 37). Dass der Klägerin eine Mitfahrgelegenheit sicher zur Verfügung stehen würde, ist nicht ersichtlich.   

Die Möglichkeit, durch eine Optimierung der Therapie des Morbus Crohn in Zukunft die Notwendigkeit zu reduzieren, kurzfristig eine Toilette aufsuchen zu müssen, steht der fehlenden Wegefähigkeit in der hier streitigen Zeit nicht entgegen. Zwar mag durch eine weitere Anpassung der medikamentösen Therapie in Zukunft eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes erfolgreich sein, jedoch schließt dies die aufgehobene Wegefähigkeit weder in der Vergangenheit noch aktuell aus. Dabei ist auch zu beachten, dass ausweislich der Berichte des Dr. T. vom 3. Dezember 2019, 10. Februar 2020 und 17. Februar 2020 die immunsupressive Therapie zu erheblichen Nebenwirkungen, nämlich rezidivierenden Mammaabszessen, geführt hat, was gegen die rentenversicherungsrechtliche Zumutbarkeit deren Fortführung spricht.

Die Einschränkung der Wegefähigkeit kann schließlich nicht durch den Verweis auf die Nutzung von Einlagen/Vorlagen beseitigt werden. Insofern ist für den Senat ohne Weiteres plausibel, dass die Nutzung von Einlagen/Vorlagen bei Stuhlinkontinenz - anders als unter Umständen etwa bei Harninkontinenz - einem Versicherten nicht zumutbar ist, zumal wenn er sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befindet (Urteil des Senats vom 6. Februar 2020 - L 7 R 592/19 - <n.v.>; Urteil des Senats vom 17. Mai 2018 - L 7 R 1029/16 - <n.v.>).

c. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist lediglich als Zeitrente zu leisten.

Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist (§ 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI).

Nach diesen Maßstäben ist die Rente lediglich befristet zu gewähren. Die der Klägerin zustehende Rente ist zwar unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass hinsichtlich der die Erwerbsunfähigkeit begründenden Wegefähigkeit eine Besserung eintritt und die Klägerin - ggf. durch die Optimierung der Therapie - wieder in der Lage ist, die erforderlichen Wege zu einem Arbeitsplatz zurückzulegen. Da die Minderung der Erwerbsfähigkeit - wie dargelegt - bereits im Oktober 2016 und damit mehr als sechs Monate vor dem Monat der Antragstellung eingetreten ist (vgl. § 101 Abs. 1 SGB VI zum Rentenbeginn bei befristeten Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit), bleibt für den Rentenbeginn die Regelung des § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI maßgeblich, wonach eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet wird, in dem die Rente beantragt wird.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs.1 SGG und berücksichtigt das weitgehende Obsiegen der Klägerin.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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