L 6 VG 4002/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 VG 3783/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 4002/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 12. November 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren noch die Feststellung eines Grads der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 statt 40 sowie der Pflegebedürftigkeit und die Gewährung einer Pflegezulage nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG).

Sie ist 1991 geboren. Nach dem Abschluss der Realschule machte sie eine Ausbildung zur staatlich geprüften Modedesignerin und Maßschneiderin. Danach absolvierte sie für zwei Monate in B ein Praktikum bei einem Modedesigner und war befristet für zwei Monate im Jahr 2013 als Modeberaterin bei „Z“ angestellt. Seitdem hat die Klägerin keine Beschäftigung mehr ausgeübt. Zusammen mit ihrem Partner lebt sie in einer Wohnung zur Miete. Sie beschäftigt sich mit Basteln, Designen, Spazierengehen mit ihrem Freund und Fotographie. Zuletzt war sie im Mai 2019 für zwei Wochen auf M im Urlaub. Einen Freundeskreis hat sie nicht (vgl. Bericht des Psychotherapeutischen Zentrum K-Klinik, B, und Sachverständigengutachten B1).

Am 7. August 2015 stellte die Klägerin beim zuständigen Landratsamt (LRA) L einen Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem OEG. Sie schilderte zwei Vorfälle, die zu den Gesundheitsstörungen Anorexia nervosa, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Agoraphobie und Depression geführt hätten.

Der erste Vorfall habe sich Ende April 2004 zur Nachmittagszeit ereignet. Sie sei zusammen mit einer Freundin unterwegs gewesen, als sie von zehn, ihr vollkommen unbekannten Mädchen überfallen worden sei. Die Mädchen hätten schnell einen Kreis um sie gebildet, sie dann beschimpft und mit den Händen ins Gesicht geschlagen. Ein Mädchen habe sie an den Haaren zu Boden gezogen, die anderen hätten auf ihr Fahrrad eingetreten. Es sei ihr gedroht worden, dass das erst der Anfang gewesen sein, wenn sie Anzeige erstatte. Auf Druck ihrer Eltern habe sie dann aber Anzeige erstattet. Es sei ein Ermittlungsverfahren gegen Ü durchgeführt worden, die nicht direkt an der Tat beteiligt gewesen sei, sondern nur die anderen Mädchen davon wieder habe abbringen wollen. Im Folgenden seien viele Menschen von Dritten angestachelt worden, indem ihnen erzählt worden sei, sie hätte gegen die Ü grundlos Anzeige erstattet. Danach seien unzählige weitere Straftaten gegen sie verübt worden, die sie aus Angst um ihr Leben nicht zur Anzeige gebracht habe. Die folgenden zwei Jahre seien geprägt gewesen – insbesondere an der Schule – von Mobbing, Rufmord, übler Nachrede, Demütigungen und Bedrohungen bis hin zu konkreten Morddrohungen. Die Klägerin legte ergänzend die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Freiburg i. Br., Zweigstelle L, vom 4. Juni 2004 über die Einstellung der Ermittlungsverfahren gegen S, M1 und Ü wegen Körperverletzung nach § 152 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) vor, weil die Beschuldigten zur Tatzeit noch nicht 14 Jahre alt und damit schuldunfähig gewesen seien.

Ein zweiter Vorfall habe sich am 9. Juni 2015 ereignet. Sie sei mit dem Zug um 13.48 Uhr von B nach F unterwegs gewesen. Es habe sich ein betrunkener Mann im Zug neben sie gesetzt und sie belästigt. Er habe gesagt, er heiße J, habe ihr Komplimente wegen ihrer Augen gemacht, seine Hand auf ihre Schulter gelegt und sie gestreichelt. Sie habe seine Hand weggewischt und ihm signalisiert, dass sie das nicht wolle. Er sei wohl davon ausgegangen, dass zwischen ihnen eine Partnerschaft bestehe, und habe permanent versucht, nach ihrer Halskette zu greifen, um ihr damit näher zu kommen; sie habe ständig seine Hand wegwischen müssen. Nach dem Aussteigen habe sie sich am Bahnsteig mit einer Freundin getroffen. Der Mann sei mit ihr zusammen ausgestiegen. Sie habe zunächst verhindern können, dass dieser zusammen mit ihr und ihrer Freundin ein nahegelegenes Café besucht. Er sei dann circa eine dreiviertel Stunde später aber doch in dem Café aufgetaucht und habe sich zu ihnen gesetzt. Ein Mitarbeiter des Cafés habe ihn dann hinausgeworfen, worauf er verschwunden sei. Sie habe ihn anschließend über Facebook ausfindig machen können, herausgefunden, dass er G heiße, und Strafanzeige erstattet. Aus der vom LRA beigezogenen Ermittlungsakte ergab sich, dass das Ermittlungsverfahren gegen G nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, weil die durchgeführten Ermittlungen einen Tatnachweis nicht mit hinreichender Sicherheit erbracht hätten. Die Einlassung des Beschuldigten, dass er sich zum Tatzeitpunkt an einem anderen Ort befunden habe, seien glaubhaft gewesen und durch einen Zeugen bestätigt worden.

Im Verwaltungsverfahren kamen verschiedene ärztliche Unterlage zur Vorlage.

Dem Bericht der Klinik H, Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Erkrankungen, über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 26. Juli bis zum 4. Dezember 2006 ließen sich als Diagnosen eine emotional instabile Persönlichkeitsentwicklungsstörung (ICD-10 F60.13) mit selbstverletzenden, anorketischen Tendenzen und schwergradiger Störung des Selbstwerterlebens sowie eines schädlichen Gebrauchs von Alkohol (ICD-10 F10.1) entnehmen. Die Klägerin habe sich mit spitzen Gegenständen sowie mit Schlagen der Fäuste gegen die Wand und Möbelstücke selbst verletzt. Es habe in der Familie eine Disharmonie zwischen den Erwachsenen, eine massive Geschwisterkonkurrenz und eine verzerrte intrafamiliäre Kommunikation vorgelegen.

Aus dem Bericht des S1 Krankenhaus L, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, über die stationäre Behandlung vom 13. bis zum 19. März 2007 ergab sich diagnostisch eine Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2), eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.31) mit Selbstverletzung, anorektischen Tendenzen und einer schwergradigen Störung des Selbsterlebens sowie ein schädlicher Gebrauch von Alkohol (ICD-10 F10.1). Die Klägerin sei als Notfall aufgenommen worden, nachdem sie sich nicht von suizidalen Gedanken habe distanzieren können. Unter anderem habe sie berichtet, im Mai 2004 von mehreren türkischen Jugendlichen zusammengeschlagen worden zu sein. Die Klägerin sei sehr modisch gekleidet und geschminkt gewesen. Im Aufnahmegespräch sei sie unkooperativ gewesen und habe die ihr gestellten Fragen kaum beantwortet. Es hätten bei Bewusstseinsklarheit und altersentsprechender Orientierung keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen, keine Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen, keine Antriebsstörung, eine stark reduzierte Schwingungsfähigkeit, bei Aufnahme keine Distanzierung von Suizidgedanken, Schulängste und Ängste in der Öffentlichkeit zu essen bestanden. Es sei der Klägerin schnell gelungen, sich von der Suizidalität zu distanzieren, bei Entlassung sei sie schwingungsfähig gewesen.

Der Entlassungsbrief des S1 Krankenhaus L, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, über die stationäre Behandlung vom 17. bis zum 25. Juni 2008 nannte als Diagnosen eine suizidale Krise im Sinne einer Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.21), selbstverletzendes Verhalten mit scharfen Gegenständen und durch Vereisung (Erfrierungen) mittels Deo-Spray (ICD-10 X84), eine beginnende Persönlichkeitsstörung mit im Vordergrund stehenden histrionischen und emotional instabilen Anteilen (ICD-10 Z73.1), ein schädlicher Gebrauch von Nikotin (ICD-10 F17.1G) und eine Hypothyreose (ICD-10 E03.9). Die Klägerin habe sich im stationären Kontext deutlich entlastet sowie glaubhaft von selbstgefährdendem und selbstschädigendem Verhalten distanziert gezeigt. Es hätten sich insbesondere Hinweise für eine Überforderung im zwischenmenschlichen Kontext und bei der Bewältigung schulischer Anforderungen ergeben; in diesem Zusammenhang scheine es auch häufig zu Konflikten mit ihrer Mutter zu kommen. Die Klägerin habe sich jedoch nicht zu einem längeren stationären Aufenthalt entscheiden können. Es hätten sich große Defizite bei der Selbstregulation und ein stark beeinträchtigtes Selbstwerterleben gezeigt, dass dringend einer psychotherapeutischen Unterstützung bedurft habe.

Aus dem Bericht des Zentrums für Psychiatrie (zfp) E über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 4. Juli bis zum 26. August 2011 ergaben sich die Diagnosen einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10 F60.31) mit Selbstverletzungen, anorektischen Tendenzen und schwergradiger Störung des Selbstwerterlebens sowie eines schädlichen Gebrauchs von Alkohol (ICD-10 F10.1). Der Klägerin sei es nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten im Dezember 2010 sehr schlecht gegangen, sie sei depressiv eingebrochen, sei im Februar und März 2011 wegen Alkoholvergiftungen stationär behandelt worden und habe im Februar 2011 einen Suizidversuch (Medikamentenintoxikation) unternommen. Sie sei im Auftreten deutlich ängstlich und gehemmt gewesen, habe sehr angepasst und um eine freundliche Fassade bemüht gewirkt. Insgesamt sei die Schwingungsfähigkeit deutlich reduziert bei depressivem Affekt und Insuffizienzerleben gewesen. Der Antrieb habe sich ungestört gezeigt, die Klägerin habe jedoch von einer Antriebs- und Energielosigkeit berichtet.

Die T Klinik, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, in der sich die Klägerin vom 22. Mai bis zum 11. September 2014 in stationärer Behandlung befand, erhob als Diagnosen eine Anorexia nervosa (ICD-10 F50.0), eine rezidivierende depressive Störung, mittelgradig ohne psychotische Symptome, (ICD-10 F32.10), eine PTBS (ICD-10 F43.1) und eine Agoraphobie (ICD-10 F40.00). Die Klägerin sei seit Oktober 2013 zunehmend in eine Problematik beim Essverhalten geraten, sie habe rasant circa 15 kg abgenommen. Die Gewichtsabnahme sei ausschließlich über restriktives Essverhalten erfolgt. Sie habe täglich nur noch 600 Kalorien durch identische Nahrung und kaum noch Flüssigkeit zu sich genommen; auch habe sie jeden zweiten Tag ein intensives körperliches Trainingsprogramm absolviert. Das Gewicht bei Aufnahme habe 47,6 kg bei einer Köpergröße von 1,60 m betragen (BMI 18,6). Die Klägerin sei im Kontakt sehr zurückhaltend, deutlich gehemmt und in der affektiven Schwingungsfähigkeit stark eingeschränkt bei subdepressiver Stimmung gewesen. Sie habe von einer traumatischen Erfahrung berichtet, als sie als 15-jährige von mehreren Jugendlichen bedroht und zusammengeschlagen worden sei. Die erfolgte Behandlung sei als erster erfolgreicher Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin mit stabilen Veränderungen der pathogenen Faktoren zu sehen. Der (lebens-)bedrohliche Gewichtsverlust habe weitgehend gestoppt und eine Gewichtszunahme initiiert werden können. Im Verlauf der Behandlung habe die Klägerin ihr Selbstkonzept reflektiert, an Selbstvertrauen gewonnen, ihre Selbstwahrnehmungsfähigkeit ausgestaltet und ein vom Gewicht unabhängiges Selbstwerterleben konsolidiert. Im Rahmen der erfolgten Expositionsübungen habe sie erstmals wieder alleine auf die Straße und unter Menschen gehen können.  

Im Weiteren kam zur Vorlage der Bericht des Psychotherapeutischen Zentrum K-Klinik, B, über die dortige stationäre Behandlung der Klägerin vom 23. November bis zum 9. Dezember 2015 mit den Diagnosen einer Anorexia nervosa (ICD-10 F50.0), einer Agoraphobie (ICD-10 F40.00) und eines Untergewichts (ICD-10 R63.4). Die Klägerin habe ein sehr zwanghaftes Essverhalten beschrieben, geprägt durch die immer gleiche Mahlzeitenstrukturierung und Einhaltung von Essenszeiten. Nach dem Auszug aus dem Elternhaus habe mit Hilfe des Partners eine Gewichtsstabilisierung auf bis zu 49,2 kg erreicht werden können. Im Jahr 2006 (gemeint wohl: 2004) sei ein belastendes Ereignis eingetreten, zehn Mädchen hätten sie verprügelt, und im Jahr 2015 ein weiterer belastender Vorfall im Zug durch die Belästigung durch einen alkoholisierten Mitreisenden. Nach dem letzten Ereignis sei es zu einer erneuten Gewichtsreduktion gekommen. Jeweils nach den Ereignissen seien auch starke Vermeidungstendenzen in Form agoraphobischer Symptome aufgetreten. Die Klägerin könne das Haus nicht mehr alleine, sondern derzeit nur mit ihr vertrauten Personen verlassen. Auch habe sie von Alpträumen berichtet, die jede Nacht, meist einmalig, aufträten. Zum Aufnahmezeitpunkt habe ein reduzierter Allgemein- und Ernährungszustand (42,0 kg, BMI 16,4) vorgelegen. Es bestehe eine chronifizierte anorektische Erkrankung seit dem 10. Lebensjahr. Dieser scheine eine mangelnde emotionale Versorgung und Anerkennung in der Familie zugrunde zu liegen. Es habe zwar anfänglich hinsichtlich des Essverhaltens eine Verbesserung erzielt werden können, eine Gewichtszunahme habe sich jedoch nur zu Beginn der Behandlung verzeichnen lassen.

Das W (WIAP) teilte mit, dass sich die Klägerin seit dem 1. Oktober 2015, nachdem es nach einer übergriffigen Situation im Zug zu einer Verschlechterung ihrer anorketischen und agoraphobischen Symptomatik gekommen sei, in tiefenpsychologisch fundierter therapeutischen Behandlung befinde. Die Symptomatik bestehe auch weiterhin, eine Beendigung der Therapie sei nicht absehbar und eine Verlängerung der bislang genehmigten 50 Stunden denkbar.

Im Auftrag des LRA erstellte V, aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 8. November 2016 ein psychiatrisches Gutachten. V diagnostizierte eine schädigungsabhängige PTBS (ICD-10 F43.1) und eine schädigungsabhängige Anorexia nervosa, restriktiver Typus (ICD-10 F50.00). Schädigungsunabhängige Störungen lägen nicht vor. Die Klägerin leide seit der im Jahr 2004 erlittenen Schädigung an diesen Schädigungsfolgen, seit dem Jahr 2015 – den Vorfällen im Zug – sei es zu einer Verschlimmerung gekommen. Der GdS betrage 40.

Die Klägerin sei mit ihrem Lebensgefährten zur gutachterlichen Untersuchung erschienen und habe eine triggerbare psychotraumatische Symptomatik mit Hypervigilanz, Erschreckbarkeit, Intrusionen, täglichen, zum Teil massiven Albträumen, depressiven Symptomen sowie Ein- und Durchschlafstörungen präsentiert. Ihre konzentrativen Ressourcen schienen deutlich reduziert zu sein, was sich auch in der Untersuchungssituation gezeigt habe. Es habe sich ein massiver psychosozialer Rückzug verbunden mit Vermeidung potentiell auslösender Stimuli mit invaliditätsnahem Alltagsverhalten sowie nicht freier Gestaltbarkeit der Lebensumstände außerhalb der Wohnung ergeben. In der Wohnung scheine sich die Klägerin gut beschäftigen zu können. Ihre Lebenssituation sei durch ein erhebliches Vermeidungs- und Sicherungsverhalten geprägt. Die Aufnahme einer Arbeit sei ihr nicht möglich, sie sei nicht in der Lage, das Haus zu verlassen. Auch weiterhin bestünden anorektische Verhaltensweisen mit Meidung hochkalorienreicher Speisen, Körperschematastörungen, Gewichtsphobie sowie restriktivem Essverhalten als Gegenmaßnahme zur befürchteten Gewichtszunahme. Seit der letzten stationären Maßnahme scheine die Klägerin jedoch in der Lage zu sein, die Essstörung zu kontrollieren. Dies könnte dazu führen, dass ihr die gewohnten, wenn auch dysfunktionalen Eigenbehandlungsmittel nicht mehr zur Spannungsregulation zur Verfügung stehen könnten, was das Gesamtarrousal sowie die allgemeine Anspannung ansteigen lassen könnten. Es bestehe ein erhebliches Sicherungs- und Meideverhalten. Die Klägerin benötige ständig jemanden, der sie begleite. Außer dem wöchentlichen Gang zur Psychotherapeutin (300 Meter) verlasse sie das Haus nicht. Hierbei würde sie immer als Sicherungsmaßnahmen ihr Handy und Pfefferspray mit sich führen. Eine Suizidgefahr bestehe wie in der Vergangenheit nicht mehr, auch das selbstverletzende Verhalten scheine seit Jahren nicht mehr aufgetreten zu sein.

Zum Tagesablauf habe die Klägerin angegeben, im Winter um 8 Uhr und im Sommer um 7 Uhr aufzustehen. Nach einer ersten Tasse Kaffee erledige sie ihre Morgentoilette und achte hierbei sehr auf ihr Äußeres. Sie esse so spät wie möglich, meist erst gegen 11 Uhr immer das Gleiche zum Frühstück. Danach verbringe sie die Zeit mit Nachrichten auf dem Handy lesen und Fernsehen. Je nach Konzentrationsfähigkeit arbeite sie etwas; sie gestalte Logos und Visitenkärtchen, zeichne gerne und beteilige sich an Zeichenkontests im Internet. Den ganzen Tag beschäftige sie sich mit irgendwas (Aufräumen, Kontrollieren, Mahlzeiten vorbereiten, usw.). Abends gehe sie mit ihrem Lebensgefährten einkaufen; allerdings erledige dieser dies je nach ihrer Verfassung auch alleine. Abends werde noch eine Kleinigkeit gegessen, Fernsehen geschaut und Tee getrunken. Zu Bett gehe sie zwischen 22 und 23 Uhr.

Versorgungsärztlich hielt A das Sachverständigengutachten des V für überzeugend. Sie empfahl als Schädigungsfolge nach dem OEG eine „Psychoreaktive Sörung“ – hervorgerufen – mit einem GdS von 40 anzuerkennen.                

Durch Erstanerkennungsbescheid vom 10. Februar 2017 stellte das LRA fest, dass die Klägerin Ende April 2004 Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden sei. Als Folge der Schädigung erkannte es eine „Psychoreaktive Störung“ an und zwar hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG. Der dadurch bedingte GdS betrage 40 ab dem 1. August 2015. Vom 1. August 2015 an erhalte die Klägerin eine Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG in Form eine Grundrente in Höhe von 181,00 € und ab dem 1. Juli 2016 in Höhe von 189,00 €. Wegen der anerkannten Schädigungsfolgen werde außerdem Heilbehandlung nach den Vorschriften der §§ 10 bis 24 BVG gewährt. Zur Begründung stützte sich das LRA auf das Sachverständigengutachten des V. Bei dem festgestellten GdS sei keine Erhöhung nach § 30 Abs. 2 BVG wegen besonderer beruflicher Betroffenheit enthalten. Die Klägerin sei in den letzten Jahren mehrfach stationär in verschiedenen psychotherapeutischen Kliniken behandelt worden und befinde sich in laufender psychotherapeutischer Behandlung. Einer Erhöhung des GdS stehe demnach § 29 BVG entgegen, wonach, wenn Maßnahmen zur Rehabilitation erfolgreich und zumutbar seien, ein Anspruch auf Höherbewertung des GdS, auf Berufsschadensausgleich sowie eine Ausgleichsrente frühestens in dem Monat entstehe, in dem diesen Maßnahmen abgeschlossen würden.

Die Klägerin erhob Widerspruch, mit dem sie die Nichtberücksichtigung der Tat im Zug im Jahr 2015 rügte; auch „Grapschen“ erfülle einen Straftatbestand (§ 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch [StGB]). Nach den gutachterlichen Feststellungen des V, der unter anderem einen massiven sozialen Rückzug beschrieben habe, sei der GdS mit 40 zu niedrig angesetzt, er müsse mindestens 80 betragen. Zu betonen sei im Weiteren, dass ihr Leben ohne die Unterstützung ihres Lebenspartners nicht funktionieren würde. Aus diesem Grund beantrage sie zudem eine Pflegezulage und wegen ihrer Erwerbsunfähigkeit eine Ausgleichsrente nach § 32 BVG.

Im Widerspruchsverfahren kam zur Vorlage das Attest des WIAP vom 27. Februar 2017, wonach sich die Klägerin dort seit dem 1. Oktober 2015 unter den Diagnosen Anorexia nervosa (ICD-10 F50.00), Agoraphobie (ICD-10 F40.00) und sonstige Reaktionen auf schwere Belastung (ICD-10 F43.8) in Behandlung befunden habe. Die Klägerin sei nicht in der Lage – außer zur Therapie -, alleine ihre Wohnung zu verlassen. Sie zeige zahlreiche Symptome einer PTBS. Vorwiegend einschränkend für ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei die paranoide Verarbeitung, besonders die hohe Kränkbarkeit, verstärkt dadurch die Agoraphobie und Anorexie. Die Klägerin habe sich von allen familiären Beziehungen sowie Freundschaften zurückgezogen und pflege keine Hobbys. Sie sei in ihrer gesamten Existenzsicherung auf ihren Lebensgefährten angewiesen und von diesem abhängig.

Das LRA erhob bei V eine gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage. Dieser führte aus, dass psychische Schädigungsfolgen nach tätlichen Angriffen in ihrer Spezifität als gering einzuschätzen seien, so dass objektive Beurteilungen erschwert seien. Die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Belastungssymptomen nach körperlichen Angriffen sei gering (11,5 % PTBS), hoch sei sie dagegen nach sexueller Gewalt (50 bis 80 %). Nach Diagnosestellung einer PTBS sehe das OEG nach der Tagung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 6. bis zum 7. September 2008 (Beschluss zur PTBS – Klinik und Begutachtung der Sitzung Sektion „Versorgungsmedizin“ des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA am 12./13. November 1997 – Az.: 65-50122-2/38) einen GdS von 30 bis 40, in Ausnahmefällen auch Werte darüber vor. In der Praxis sei ein GdS von über 40 für dieses Störungsbild ein eher hoher Wert. Ein GdS von 80 und mehr sei im sozialen Entschädigungsrecht schwersten psychiatrischen Störungsbildern, wie z. B. wahnhaften Depressionen, einem depressiven Stupor oder einer chronifizierten paranoiden bzw. katatonen Schizophrenie vorbehalten, da Betroffene, die an diesen Störungen litten, in der Regel einer längerfristigen stationären Behandlung bis hin zur Überwachung und Unterstützung von verschiedenen überlebenswichtigen Köperfunktionen, der Köperhygiene sowie die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bedürften. Dieser Schweregrad liege bei der Klägerin nicht vor. Auch wenn es sie viel Willensanstrengung koste, sei sie in der Lage, relativ frei und unbeschwert mit ihrem Gegenüber zu kommunizieren und ihren Alltag außerhalb von Triggersituationen zu gestalten. In der klinischen Untersuchung habe sie mit Ausnahme von gelegentlichen Dissoziationen keine wesentlichen Einschränkungen aufgewiesen. Sie habe ihre Lebenswelt so organisiert, dass sie ihren Alltag meistern könne, auch wenn sie auf fremde Hilfe angewiesen sei. Selbst wenn sie alleinstehend wäre, wäre mit ambulanten Hilfen eine Versorgung in ihrer Wohnung unter Aufrechterhaltung ihrer Selbständigkeit möglich. Es bestehe deshalb keine Hilflosigkeit. Auch einer Erwerbstätigkeit könne sie prinzipiell von zu Hause aus nachgehen, sie sei damit auch nicht erwerbsunfähig.

Die Versorgungsärztin A stimmte den Ausführungen des V zu. Der GdS sei mit 40 ausreichend bewertet, Hilflosigkeit liege nicht vor und hinsichtlich der Vorfalls am 9. Juni 2015 im Zug würden sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben.

Der Beklagte wies den Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 13. September 2017 zurück. Zur Begründung führte er aus, der angefochtene Bescheid vom 10. Februar 2017 entspreche der Sach- und Rechtslage. Nach der versorgungsärztlichen Beurteilung lasse sich ein höherer GdS als 40 nicht begründen. Dem Begehren nach einer Erhöhung des GdS wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG und auf Gewährung einkommensabhängiger Leistungen nach §§ 30 ff. BVG könne nicht entsprochen werden, es werde insofern auf die entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen. Die Klägerin sei auch nicht hilflos, da eine dauernde fremde Hilfe für eine Reihe von häufigen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages nicht erforderlich sei. Hinsichtlich des Vorfalls im Zug hätten sich keine neuen Erkenntnisse ergeben.

Mit der am 10. Oktober 2017 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung eines GdS von 80, eines darüber hinausgehenden höheren GdS wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit, die Gewährung einer Pflegezulage sowie einer Ausgleichsrente und die Feststellung des Ereignisses im Regionalzug von B nach F am 9. Juni 2015 als weitere Gewalttat im Sinne des OEG begehrt.

Die Klägerin hat weitere medizinische Unterlagen vorgelegt (Bericht der Nuklearmedizinischen Praxis A1 F über die Untersuchung am 19. Februar 2018 [sonographisch V. a. abgelaufene Thyreoditis mit atrophischer Verlaufsform]; Universitätsklinikum F, Klinik für Nuklearmedizin über die Vorstellung der Klägerin am 19. Mai 2016 [substitutionspflichtige Hypothyreose, normal große Schilddrüse ohne abgrenzbare Knotenbildungen]; Angiologischer Bericht des Venenzentrum F vom 19. Februar 2018 [Lipödem vom Oberschenkeltyp beidseits]; Bericht der T Klinik vom 9. Juli 2014 [Skoliose]; Universitätsklinikum F, Klinik für Augenheilkunde, Vorstellung der Klägerin am 6. September 2017 [Myopie, Astigmatismus mit irregulären Anteilen, Blepharitis mit Benetzungsstörung der Augenoberfläche, asymmetrische Papillenmorphologie]; Bericht des Universitätsklinikums F, Klinik für HNO-Heilkunde, vom 22. März 2018 [V. a. kraniomandibuläre Dysfunktion, Kieferschmerzen]).

Aus der darüber hinaus von der Klägerin zur Akte gereichten sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahme des B3 vom 17. April 2018 für die Bundesagentur für Arbeit hat sich ein arbeitstägliches Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden, voraussichtlich über sechs Monate, aber nicht auf Dauer ergeben. Die Klägerin sei psychoemotional infolge komplexer gesundheitlicher Störungen in ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit deutlich limitiert. Sie leide unter anderem unter einer Essstörung, Ängsten und rezidivierenden Depressionen. Die Prognose der Dauer der Leistungsminderung sei schwer einzuschätzen, da therapeutische Maßnahmen keineswegs ausgeschöpft seien. 

Zur Vorlage ist im Weiteren der bereits im Verwaltungsverfahren zur Akte gelangte Abschlussbericht der T Klinik über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 22. Mai bis zum 11. September 2014 gekommen.

Das SG hat Beweis erhoben durch die schriftliche Vernehmung der S2 als sachverständige Zeugin und hat B1, S3-Zentrum, Akutklinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, beauftragt, nach ambulanter Untersuchung der Klägerin ein Sachverständigengutachten zu erstellen.

Die S2 hat von der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung der Klägerin seit dem 5. Dezember 2018 berichtet. Die letzte Therapiestunde sei am 26. Februar 2019 gewesen, bislang hätten 10 Termine stattgefunden. Als Diagnosen habe sie eine PTBS (ICD-10 F43.1) und eine Anorexia nervosa, restriktiver Typus (ICD-10 F50.00), gestellt. Die Klägerin sei vollständig orientiert und hypervigilant bei leicht geminderter Konzentrationsfähigkeit sowie leichten Gedächtnisstörungen gewesen. Es hätten Intrusionen, Dissoziationen, Panikattacken und Schlafstörungen bestanden. Der Antrieb sei normgerecht. Die Patientin sei affektiv sehr verhalten und kontrolliert, ängstlich und zwanghaft. Ihr formales Denken sei unauffällig, inhaltlich eingeschränkt auf das traumatische Erleben und dem Wunsch nach Wiedergutmachung, aber auslenkbar. Es bestehe eine massive Einschränkung der Partizipation durch das Vermeidungsverhalten, die Klägerin habe sich von sozialen Kontakten vollständig zurückgezogen. Sie verlasse das Haus nicht alleine und habe lediglich einen sozialen Kontakt zu ihrem Freund, mit dem sie zusammenwohne und der in ihr Sicherungssystem eingebunden sei. Außerhalb der Wohnung mache sie nichts alleine. Den einzigen Weg, den sie alleine zurücklege, sei der zu ihr in die Praxis; dieser betrage weniger als fünf Minuten. Es liege eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in Form einer schweren sozialen Anpassungsfähigkeit und massiven Ängsten mit einem ausgeprägten Vermeidungs- und Sicherungsverhalten vor. Die Befunde und Beschwerden stünden in einem direkten Zusammenhang mit den beiden beschriebenen Vorfällen. Bezogen auf den zweiten Vorfall habe die Klägerin zuvor eine starke Verbesserung durch den stationären Aufenthalt in der T Klinik beschrieben. Danach habe sie keine weiteren Versuche unternommen, alleine auf die Straße zu gehen. Die anschließende anorektische Phase sei nach ihrer Aussage lebensbedrohlich gewesen. Das Ausmaß der Vermeidung und Sicherungsvorkehrungen habe sich danach massiv erhöht.

B1 hat aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 18. Juli 2019 ein psychiatrisches-schmerzpsychologisches Sachverständigengutachten erstattet. Er hat eine PTBS festgestellt, wodurch der Elan vital, die Teilhabefähigkeit im Sinne von Sozialkontakten im altersgemäßen Rahmen, die Schwingungsfähigkeit, die Fähigkeit, Freude zu erleben, die Spontanimpulsbildung und die Durchhaltefähigkeit, die Outdoor-Kreativität und Fähigkeit zu alleinigen Outdoor-Aktivitäten eingeschränkt sei. Sehr wahrscheinlich bestünden auch dissoziative oder zumindest prädissoziative Phänomene. Die Partizipationsfähigkeit der Klägerin sei massiv eingeschränkt, sie gehe nicht alleine vor die Tür, sie habe sich quasi ein Umfeld geschaffen, das sie ständig bei Outdoor-Aktivitäten, auch bei nur sehr kurzen Wegen, begleite. Deshalb sei auch ihre soziale Integration am letzten Arbeitsplatz gescheitert. Derzeit habe sie keine Beschäftigung, die selbständige Lebensführung sei praktisch aufgehoben. Die Klägerin sei völlig altersuntypisch deprivatisiert und sich selbst begrenzend in ihrer Lebensführung. Dies alles übertünche sie durch ihre maskenhafte Erscheinung mit einer makellosen Köperpflege und Kleidung. Sie leide an einer schweren sozialen Anpassungsstörung. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestünden im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen aufgrund des schädigenden Ereignisses die soziale Desintegration sowie die Unfähigkeit zur selbständigen Lebensführung, zur Spontanimpulsbildung und Freude zu erleben. Der zweite Vorfall habe das Krankheitsbild aufrecht erhalten, aber nicht verstärkt, neue Krankheitsbilder seien nicht hinzugetreten. Der GdS betrage 40.

Die Klägerin könne einer zumutbaren Erwerbstätigkeit unter besonderen Bedingungen, zunächst in Heimarbeit nachgehen. Eine drei- bis unter sechsstündige Tätigkeit sei denkbar. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben seien zumutbar und erfolgsversprechend. Für ihre persönliche Existenz, die Befriedigung der basalen Bedürfnisse, Köperpflege, Kleidung, Toilettengänge benötige sie keine unmittelbare Hilfe. Sie könne aber nicht alleine Einkaufen und benötige Motivation für eine dauerhafte geistige Beschäftigung und eine Psychotherapie. Die tägliche personelle Unterstützung betrage derzeit ein bis zwei Stunden.

Die Klägerin habe angegeben, es gehe ihr abends besser als morgens. Zwangsphänome habe sie verneint, die Anorexie sei nicht mehr ganz so stark wie früher. Zu Hause beschäftige sie sich viel mit verschiedenen Projekten, so fertige sie z. B. aus Papierkunstwerke wie etwa Arrangements aus Pflanzen. Zum Tagesablauf habe die Klägerin eine Übersicht vorgelegt. Aus dieser hat sich entnehmen lassen, dass sie um 7:30 Uhr aufsteht, Kaffee trinkt, sich über aktuelle Nachrichten und  Sport informiert, manchmal direkt anfängt zu designen oder zu basteln, um 10:30 Uhr ihre Morgenhygiene macht, danach Haushaltsaufgaben erledigt, zwischen 12 und 14 Uhr das immer gleiche Frühstück einnimmt, von 14 bis 17 Uhr Vorlagen designt, kreativ ist, Blumenarrangements bastelt, um 17.30 Uhr Freude und Entspannung erlebt, von 18 bis 19 Uhr mit ihrem Partner die Zeit genießt, um 20.15 Uhr mit diesem gemeinsam kocht, danach zu Abend isst und um 20.45 Uhr den Abend ausklingen lässt, um dann um 23 Uhr zu Bett zu gehen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 12. November 2020 hat die Klägerin erneut ihren Tagesablauf geschildert. Dies hat im Wesentlichen dem Tagesablauf aus der B1 vorgelegten Übersicht entsprochen. Sie hat ergänzend dargelegt, dass es schlechte Tage gebe, an denen sie sich zu nichts in der Lage fühle. Im Weiteren hat sie ausgeführt, es finde derzeit keine Psychotherapie statt. Nachdem die S2 nach L umgezogen sei, habe sie sich nicht um einen neuen Therapieplatz bemüht. Hinsichtlich des Gewichts liege derzeit ein stabiler Zustand vor, sie wiege sich seit vielen Jahren nicht mehr.

Das SG hat mit Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. November 2020 die Klage abgewiesen. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei die Klage auch hinsichtlich der geltend gemachten Ausgleichsrente zulässig, jedoch insgesamt unbegründet. Der GdS sei zutreffend mit 40 bewertet. Das SG hat sich insofern auf die gutachterlichen Feststellungen des V und des B1 gestützt. Der GdS sei auch nicht wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit zu erhöhen gewesen. Eine Erhöhung stehe der sich aus § 29 BVG ergebende Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ entgegen. Aus den vorliegenden Sachverständigengutachten ergebe sich, dass Rehabilitationsmaßnahmen zumutbar und erfolgsversprechend seien. Auch bestehe kein Anspruch auf eine Pflegezulage, denn es sei nicht nachzuvollziehen, dass die Klägerin die Verrichtungen der Grundpflege nicht selbst erledigen könne. Ein dauernder grundpflegerischer Hilfebedarf bestehe nicht. Letztlich sei auch die Ablehnung der Feststellung des Ereignisses im Zug am 9. Juni 2015 als weitere Gewalttat nicht zu beanstanden, denn es habe sich hierbei nicht um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, mithin um eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung, gehandelt.

Am 16. Dezember 2020 hat die Klägerin gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 18. November 2020 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Zur Berufungsbegründung führt sie aus, die Berufung beschränke sich ausdrücklich auf die Höhe des GdS und die Gewährung einer Pflegezulage. Die gutachterlichen Feststellungen des B1 und auch des V seien nicht überzeugend. Der GdS betrage 80. Sie leide unter schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten, für die ein GdS von 80 bis 100 vorgesehen sei. Sie habe sich vollständig zurückgezogen und außer zu ihrem Lebensgefährten keine sozialen Kontakte mehr. Ohne dessen Unterstützung wäre sie vollkommen hilflos, sie erfülle deshalb die Voraussetzungen für eine Pflegezulage. Dem Sachverständigengutachten des B1 sei zu entnehmen, dass sie alleine nicht aus dem Haus gehe und Motivation für eine dauerhafte geistige Beschäftigung benötige; den Bedarf an täglicher personeller Unterstützung habe er bei ein bis zwei Stunden angesiedelt. Die ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung sei laut ihm mehrfach täglich erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 12. November 2020 sowie den Bescheid vom 10. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2017 aufzuheben und den Beklagte zu verurteilen, einen Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 80 sowie die Pflegebedürftigkeit festzustellen und eine Pflegezulage zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist auf die gutachterlichen Feststellungen des B1.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143144 SGG), auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 12. November 2020, mit das SG die kombinierten Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklagen (§§ 54 Abs. 1 und 4, 55 Abs. 1 SGG) der Klägerin gegen den Bescheid vom 10. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2017 (§ 95 SGG) auf Feststellung eines GdS von 80, eines darüber hinausgehenden höheren GdS wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit, die Gewährung einer Pflegezulage sowie einer Ausgleichsrente und die Feststellung des Ereignisses im Regionalzug von B nach F am 9. Juni 2015 als weitere Gewalttat im Sinne des OEG abgewiesen hat. Die Klägerin hat ausdrücklich im Berufungsverfahren erklärt, mit der Berufung die Klage nur noch insoweit weiterzuverfolgen, wie sie die Feststellung eines GdS von 80 und der Pflegebedürftigkeit sowie die Gewährung einer Pflegezulage verfolgt. Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens ist demnach die Gewährung einer Ausgleichsrente und der Feststellung des Ereignisses am 9. Juni 2015 als weitere Gewalttat im Sinne des OEG, insofern hat die Klägerin die Klage zurückgenommen. Die besondere berufliche Betroffenheit, die die Klägerin ebenso im Berufungsverfahren nicht mehr geltend macht, ist indes kein eigenständiger Streitgegenstand. Der GdS im allgemeinen Erwerbsleben nach § 30 Abs. 1 BVG und das berufliche Betroffensein nach § 30 Abs. 2 BVG sind als Teilfaktoren des einheitlichen Rentenanspruchs anzusehen (vgl. Senatsurteil vom 24. Januar 2017 – L 6 VH 789/15 –, juris, Rz. 64 m. w. N.). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei den vorliegenden Klagearten grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 <124>; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34, § 55 Rz. 21), ohne eine mündliche Verhandlung derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unzulässigkeit der Klagen in dem noch im Berufungsverfahren streitgegenständlichen Umfang. Im Übrigen wären die Klagen aber auch hinsichtlich der noch im Berufungsverfahren von der Klägerin verfolgten Streitgegenstände unbegründet. Das SG hat demnach im Ergebnis zu Recht die Klagen durch Urteil vom 12. November 2020 abgewiesen.

Die Höhe des GdS kann nicht isoliert festgestellt werden. Dieser Antrag, den die Klägerin bereits im erstinstanzlichen Verfahren, in dem sie noch anwaltlich vertreten war, gestellt hat, ist unzulässig. Weder durch eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 SGG noch im Rahmen einer Verurteilung auf behördliche Feststellung kann isoliert die Höhe des GdS festgestellt werden. Es würde sich um eine Elementenfeststellung handeln, die nur dann zulässig ist, wenn sie gesetzlich ausdrücklich zugelassen wird, etwa die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) oder in den Fällen des § 55 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 bis 4 SGG. Für den GdS besteht eine solche Regelung nicht, sodass er nicht isoliert festgestellt werden kann (vgl. Senatsurteil vom 24. Januar 2017 – L 6 VH 789/15 –, juris, Rz. 55 m. w. N.). Zur Zulässigkeit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage führt auch nicht, dass das LRA durch Bescheid vom 10. Februar 2017 eine isolierte Entscheidung über die Höhe des GdS getroffen hat. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass für eine solche Feststellung keine Rechtsgrundlage besteht.

Aber auch bei der Auslegung des Begehrens der Klägerin zu ihren Gunsten dahingehend, dass sie mit der Klage und der Berufung insoweit die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung einer Beschädigtenrente nach einem GdS von 80 unter Abänderung des Bescheides vom 10. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2017 verfolgt, wäre die Klage und damit auch die Berufung unbegründet. Denn der vorgenannte Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).   

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG Rz. 2).

Für einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit Ja oder mit Nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15).

Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (VG, Teil C, Nrn. 1 bis 3; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17). Die Einzelheiten werden in der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV geregelt.

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben und der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, hat der Beklagte zu Recht durch Bescheid vom 10. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2017 der Klägerin ab dem 1. August 2015 eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 40 gewährt und zugleich – sinngemäß – die Gewährung einer Beschädigtenrente nach einem höheren GdS abgelehnt. Der Senat stützt sich insofern auf das im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwerteten Sachverständigengutachten des V und dessen ebenso urkundsbeweislich verwertete ergänzende gutachterliche Stellungnahme sowie auf das erstinstanzliche Sachverständigengutachten des B1.  

Die Klägerin leidet, wie der Senat den vorgenannten Sachverständigengutachten und auch der erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussage der S2 entnimmt, an einer PTBS (ICD-10 F43.1) und an einer Anorexia nervosa, restriktiver Typus (ICD-10 F50.00), die nach den gutachterliche Feststellungen Folgen des Ereignisses von Ende April 2004, bei dem die Klägerin von mehreren Mädchen umringt, beschimpft und geschlagen worden ist, sind und damit Schädigungsfolgen darstellen, die nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit §§ 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, 30, 31 BVG zu entschädigen sind. B1 hat zwar nachvollziehbar ausgeführt, dass die Essstörung nicht kausal durch das Ereignis Ende April 2004 hervorgerufen worden ist, sondern nach dem Bericht des Psychotherapeutischen Zentrum K-Klinik, B, über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 23. November bis zum 9. Dezember 2015 bereits seit dem 10. Lebensjahr der Klägerin bestanden hat und deswegen vorbestehend ist. Die Essstörung ist aber durch das Ereignis von Ende April 2004 – so B1 ebenso nachvollziehbar – aufrechterhalten und befördert worden.    

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdS von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdS von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdS von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdS von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach ICD-10 F30.- oder F40.- handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das BSG in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdS-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht; denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztliche Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdS-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Orientiert an diesen Vorgaben sind die bei der Klägerin bestehenden Schädigungsfolgen zur Überzeugung des Senats – wie auch des SG – mit einem GdS von 40 ausreichend bewertet. Die Klägerin leidet demnach unter einer schädigungsbedingten stärkeren Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), die mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten ist. Eine schwere Störung (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdS von 50 bis 70) oder mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdS von 80 bis 100) liegt hingegen nicht vor.

Hiergegen spricht der von der Klägerin gegenüber V und B1 in den gutachterlichen Untersuchungen im Wesentlich identisch beschriebene strukturierte Tagesablauf, den sie auch nochmals so in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vor dem SG geschildert hat und der ihre erhaltene Fähigkeit zur Tagesgestaltung belegt. Die Klägerin steht danach morgens zur gleichen Uhrzeit auf, trinkt Kaffee, informiert sich über die aktuellen Nachrichten, verrichtet ihre Morgenhygiene, designet, bastelt, führt Tätigkeiten im Haushalt aus, nimmt ein spätes Frühstück ein und übt danach eine selbständige Tätigkeit aus (Verkauf von selbst hergestellten Blumenarrangements aus Trockenblumen über das Internet). Sie kocht gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten das gemeinsame Abendessen, lässt mit diesem den Abend ausklingen und geht gegen 23 Uhr zu Bett. Dieser geschilderte Tagesablauf zeigt, auch wenn es – wie die Klägerin im Weiteren dargelegt hat – schlechte Tag gibt, an denen sie zu nichts in der Lage ist, insgesamt eine hinreichende Strukturierung und damit auch die Fähigkeit der Klägerin zu einer solchen Strukturierung, was gegen das Vorliegen einer schweren Störung im Sinne der VG, Teil B, Nr. 3.7 spricht. Daneben übt die Klägerin Hobbys wie Zeichnen oder Basteln aus.

Sie kann langjährige Beziehungen aufrechterhalten, was den von ihr beklagten sozialen Rückzug jedenfalls nicht in diesem Ausmaß belegt. So lebt sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten in einer festen Beziehung in einer gemeinsamen Wohnung, was der Senat zusätzlich als gewichtigen Gesichtspunkt gegen das Vorliegen einer schweren Störung wertet. Neben der Beziehung zu ihrem Lebensgefährten unterhält die Klägerin regelmäßigen Kontakt zu ihrem Vater, der sie finanziell unterstützt, was sie zuletzt gegenüber dem Sachverständigen eingeräumt hat. Darüber hinaus pflegt sie zwar keine sozialen Kontakte und ist aufgrund des schädigenden Ereignisses überwiegend nicht in der Lage, alleine das Haus zu verlassen; möglich war ihr aber, den kurzen Weg (circa 300 Meter) zur therapeutischen Behandlung bei der S2 in der Vergangenheit alleine zu bewältigen.

Der berichtete Urlaub auf M im Jahr 2019 ist ebenfalls zwangsläufig mit sozialen Kontakten, einem Verlassen der häuslichen Umgebung sowie einer Umstellung auf unbekannte Begebenheiten verbunden, was ihr alles möglich war.

Für den Senat überzeugend hat V in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme im Weiteren dargelegt, dass nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 6./7. November 2008 in der Regel eine PTBS mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten ist und nur in Ausnahmefällen ein höherer Wert vorliegt (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 23. Juni 2016 – L 6 VH 4633/14 –, juris, Rz. 96). Ein – wie von der Klägerin geltend gemachter – GdS von 80 wird erst erreicht bei schwersten psychiatrischen Störungsbildern, wie z. B. wahnhaften Depressionen, einem depressiven Stupor oder einer chronifizierten paranoiden bzw. katatonen Schizophrenie, da Betroffene, die an diesen Störungen leiden, in der Regel einer längerfristigen stationären Behandlung bis hin zur Überwachung und Unterstützung von verschiedenen überlebenswichtigen Körperfunktionen, der Köperhygiene sowie die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bedürfen.

Dieser Schweregrad liegt bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats keinesfalls vor, denn, selbst wenn es sie viel Willensanstrengung gekostet hat, war sie in der gutachterlichen Untersuchungssituation bei V in der Lage, relativ frei und unbeschwert mit ihrem Gegenüber zu kommunizieren. Sie kann ihren Alltag außerhalb von Triggersituationen gestalten. In der gutachterlichen Untersuchung bei V hat sie mit Ausnahme von gelegentlichen Dissoziationen keine wesentlichen Einschränkungen gezeigt. Sie hat ihre Lebenswelt so organisiert, dass sie ihren Alltag meistern kann, selbst wenn sie zum Verlassen des Hauses überwiegend auf fremde Hilfe angewiesen ist.

Die neben der PTBS vorliegende Anorexia nervosa führt zu keinen funktionellen Einschränkungen, wegen denen der GdS höher zu bewerten ist. Hierfür ergeben sich aus den Sachverständigengutachten des V und des B1 wie auch aus der sachverständigen Zeugenaussage der S2 keine Anhaltpunkte. Einen durch die Anorexia nervosa bedingten erneuten Gewichtsverlust hat keiner der Sachverständigen beschrieben. Die Klägerin hat gegenüber B1 angegeben, nicht unter Zwangsphänomenen zu leiden und dass die Erkrankung derzeit schwächer als früher ausgeprägt ist.

Zuletzt spricht gegen eine Bewertung der Schädigungsfolgen mit einem höheren GdS als 40 auch, dass sich die Klägerin seit dem Wegzug der S2 nach L nicht mehr in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung befindet und sich – wie sie in der erstinstanzlichen Verhandlung ausgeführt hat – seitdem nicht um einen neuen Therapieplatz bemüht hat. Wie bereits ausgeführt, äußert sich die Stärke des empfundenen Leidensdrucks aber ­nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztliche Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden bereits über eine leichtere psychische Störung (GdS 0 bis 20) hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdS-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Ergänzend weist der Senat darauf hin – auch wenn es die Klägerin im Berufungsverfahren nicht mehr ausdrücklich weiterverfolgt hat –, dass der GdS nicht nach § 30 Abs. 2 BVG wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit zu erhöhen ist. Denn nach § 29 BVG stehen einer Höherbewertung des GdS erfolgsversprechende und zumutbare Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben entgegen. Dies ergibt sich für den Senat aus den Sachverständigengutachten des V und des B1 wie der vom Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerteten sozialmedizinischen gutachterlichen Stellungnahme des B3 für die Bundesagentur für Arbeit. Dieser hat ausgeführt, dass die therapeutischen Maßnahmen keineswegs ausgeschöpft seien. V hat als positiv für die weitere Entwicklung der Klägerin ihre guten kognitiven Ressourcen und ihre Offenheit für therapeutische Maßnahmen betont. Ebenso hat zuletzt B1 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben für zumutbar und erfolgsversprechend gehalten.

Die von der Klägerin im Weiteren im Berufungsverfahren verfolgte isolierte Feststellung ihrer Pflegebedürftigkeit ist aus den bereits genannten Gründen (vgl. oben), wegen denen auch die isolierte Feststellung des GdS unzulässig ist, unzulässig.

Zuletzt ist die Berufung auch insoweit unbegründet, wie die Klägerin die Gewährung einer Pflegezulage nach § 35 BVG begehrt, weil die Klage insofern unzulässig ist. Denn weder das LRA noch der Beklagte haben vor Klageerhebung über die Gewährung einer Pflegezulage entschieden. Der Bescheid vom 10. Februar 2017 verhält sich weder in seinem Tenor noch in seiner Begründung zur Pflegezulage. Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch hat die Klägerin zwar auch die Gewährung einer Pflegezulage geltend gemacht, der Beklagte hat hierüber aber nicht durch den Widerspruchsbescheid vom 13. September 2017 entschieden. Der insofern allein maßgebliche Tenor des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2017 beschränkt sich auf die Zurückweisung des Widerspruchs und damit nur auf Streitgegenstände, über die bereits das LRA durch Bescheid vom 10. Februar 2017 entschieden hat. Zur Pflegezulage wird lediglich in der Begründung des Widerspruchsbescheides ausgeführt, was aber nicht einer Entscheidung über die Gewährung einer Pflegezulage gleichkommt. Damit liegen die Sachentscheidungsvoraussetzungen für die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) nicht vor. Die Klägerin ist insoweit nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Es reicht zwar aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und Rechtsschutzsuchende im Wege der Anfechtungsklage die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstreben, von der sie behaupten, sie sei nicht rechtmäßig (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 – B 9/9a SGB 2/06 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 5, Rz. 18). An der Klagebefugnis fehlt es aber demgegenüber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 19/01 R –, BSGE 90, 127 <130>), weil hinsichtlich des Klagebegehrens keine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 21. September 2010 – B 2 U 25/09 R –, juris, Rz. 12). Die Unzulässigkeit der Anfechtungsklage zieht die Unzulässigkeit der mit ihr insoweit kombinierten Leistungsklage nach sich (vgl. zur kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage Urteile des Senats vom 3. August 2017 – L 6 VS 1447/16 –, juris, Rz. 53 und vom 29. August 2019 – L 6 U 2977/18 –, juris, Rz. 33). 

Aber selbst bei unterstellter Zulässigkeit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage auf die Gewährung einer Pflegezulage wäre die Klage unbegründet.

Die Gewährung der Pflegezulage richtet sich nach § 35 Abs. 1 BVG. Nach dessen Satz 1 wird Beschädigten, die hilflos sind, weil sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen (Satz 2), eine Pflegezulage von monatlich derzeit 342 Euro (Stufe I) gezahlt. Die Voraussetzungen der Hilflosigkeit sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form der Überwachung oder Anleitung zu den in § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Der geforderte Hilfebedarf liegt nach der Rechtsprechung des BSG in jedem Falle dann vor, wenn sein Umfang mindestens zwei Stunden täglich erreicht (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 V 3/01 R –, juris, Rz. 23). Die Schwelle zur nächsten Stufe der Pflegezulage überschreitet ein hilfloser Beschädigter nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG, wenn seine Gesundheitsstörungen so schwer sind, dass sie dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege erfordern. Die Pflegezulage ist dann je nach Lage des Falles oder Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf 584, 832, 1.068, 1.386 oder 1.706 Euro (Stufen II, III, IV, V und VI) zu erhöhen. Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III (Satz 6). Hirnbeschädigte mit einem GdS von 100 erhalten eine Pflegezulage mindestens der Stufe I (Satz 7). Wird fremde Hilfe im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG, wird die Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 Satz 1 BVG um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt (§ 35 Abs. 2 Satz 2 BVG). In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten (§ 35 Abs. 2 Satz 3 BVG).

In den VG, Teil C, Nr. 13 werden die Voraussetzungen für die Pflegezulage und die Pflegezulagestufen geregelt. Nach den VG, Teil C, Nr. 13, a) wird Pflegezulage bewilligt, solange Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos sind, dass sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die Hilflosigkeit muss durch die Folgen der Schädigung verursacht sein. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie ausschließlich oder überwiegend auf eine Schädigungsfolge zurückzuführen ist. Es genügt, dass für den Eintritt der Hilflosigkeit – oder auch für eine Erhöhung des Pflegebedürfnisses – die Schädigungsfolge eine annähernd gleichwertige Bedeutung gegenüber anderen Gesundheitsstörungen hat (VG, Teil C, Nr. 13, b). Die Pflegezulage wird in sechs Stufen bewilligt. Für dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Hilfe sind die Stufen II bis VI vorgesehen (VG, Teil C, Nr. 13, c). Ein dauerndes außergewöhnliches Pflegebedürfnis liegt vor, wenn der Aufwand an Pflege etwa im gleichen Umfang wie bei dauerndem Krankenlager einer beschädigten Person notwendig ist. Dauerndes Krankenlager setzt nicht voraus, dass man das Bett überhaupt nicht verlassen kann (VG, Teil V, Nr. 13, d). Bei Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen – ausgenommen Doppel-Unterschenkelamputierten – ist im allgemeinen eine Pflegezulage nach Stufe I angemessen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um paarige oder nichtpaarige Gliedverluste (Oberarm, Unterarm, ganze Hand, Oberschenkel, Unterschenkel, ganzer Fuß) handelt. Sofern nicht besondere Umstände eine höhere Einstufung rechtfertigen sind folgende Stufen der Pflegezulage angemessen: Bei Verlust beider Beine im Oberschenkel Stufe II, bei Verlust beider Hände oder Unterarme Stufe III, bei Verlust beider Arme im Oberarm oder dreier Gliedmaßen Stufe IV. Die Pflegezulage nach Stufe V kommt nach den VG, Teil C, Nr. 13, f) in Betracht, wenn ein außergewöhnlicher Leidenszustand vorliegt und die Pflege besonders hohe Aufwendungen erfordert. Dies trifft immer zu bei Querschnittgelähmten mit Blasen- und Mastdarmlähmung, Hirnbeschädigten mit schweren psychischen und physischen Störungen, Ohnhändern mit Verlust beider Beine im Oberschenkel, blinden Doppel-Oberschenkelamputierten und Blinden mit völligem Verlust einer oberen und einer unteren Gliedmaße.

Orientiert an diesen Vorgaben erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage zur Überzeugung des Senats nicht. Dies entnimmt der Senat dem auch insofern schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachten des B1. Die Klägerin braucht demnach für ihre persönliche Existenz, der Befriedigung der basalen Bedürfnisse, keine unmittelbare Hilfe. Dies ergibt sich für den Senat aus dem von der Klägerin gegenüber B1 geschilderten Tagesablauf, wonach sie insbesondere zur selbständigen Köperpflege, zum selbständigen Ankleiden und zur selbständigen Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme in der Lage ist, im Gegenteil als auffallend modisch gekleidet und geschminkt beschrieben wird. Der Klägerin mag es infolge der Schädigung zwar überwiegend nicht möglich sein, ohne eine Begleitperson alleine einkaufen zu gehen. Zu den von § 35 Abs. 1 BVG erfassten Hilfebedarfen zählen jedoch nicht die dadurch allenfalls beeinträchtigten hauswirtschaftlichen Verrichtungen (vgl. BSG, Urteile vom 10. Dezember 2002 – B 9 V 3/01 R –, juris, Rz. 15 und vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 1/02 R – juris, Rz.12). Soweit die Klägerin Motivation für eine dauerhafte geistige Beschäftigung benötigt, wie B1 im Weiteren ausgeführt hat, erreicht dieser Unterstützungsbedarf nach dem von der Klägerin beschriebenen Tagesablauf, auch wenn es, wie sie in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung dargelegt hat, schlechte Tage gibt, an denen sie zu nichts in der Lage ist, zur Überzeugung des Senats nicht einem zeitlichen Umfang von mindestens zwei Stunden täglich. B1 hat den Hilfebedarf insgesamt lediglich mit ein bis zwei Stunden täglich geschätzt und ist damit nicht von einer Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 35 BVG ausgegangen. Relativierend hinsichtlich des von B1 angeführten Unterstützungsbedarfs ist nach Ansicht des Senats im Weiteren zur berücksichtigen, dass die Klägerin angegeben hat, die Nachrichten zu verfolgen, sich mit ihrem Handy zu beschäftigen, zu Zeichnen, Fernzusehen und eine selbständige Tätigkeit (Binden von Trockenblumen und Verkauf über das Internet) auszuüben, und damit durchaus auch selbst über die notwendigen Kompetenzen für eine geistige Beschäftigung verfügt, demnach nicht ständig auf eine entsprechende Motivation angewiesen ist.           

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Freiburg vom 12. November 2020 war demnach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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