S 9 R 162/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 9 R 162/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 115/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 163/21 B
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand
Der Kläger begehrt die öhere Altersrente für langjährig Versicherte nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VI unter Berücksichtigung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten.

Der 1953 geborene Kläger ist Vater des 1990 geborenen D. und der 1995 geborenen Zwillinge E. und F.
Auf seinen Antrag vom 14.03.2017 erhält er von der Beklagten mit Bescheid vom 23.05.2017 Altersrente für langjährig Versicherte seit 01.07.2017. 
Mit Schreiben vom 14.01.2019, eingegangen bei der Beklagten am 16.01.2019, meldete sich der Kläger bei der Beklagten und teilte mit, dass seine Ehefrau im Rahmen der Scheidung von ihm verlangt habe, der rentenrechtlichen Zuordnung von E. und F. auf ihr Rentenkonto zuzustimmen. Dies habe er abgelehnt, da er für die Kindererziehung seine Arbeitszeit deutlich reduziert habe und nun Einbußen bei der Rentenhöhe habe. Nach der Geburt von D. habe er seine Arbeitszeit ab 01.07.1991 halbiert, dann ab 01.01.2000 eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vereinbart. 
Mit Bescheid vom 25.01.2019 lehnte die Beklagte die Rücknahme der Bescheide vom 23.05.2017 und 09.01.2019 [sic] ab. Weder sei das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden (§ 44 SGB X). Der mit Schreiben vom 16.01.2019 [sic] dargelegte Sachverhalt sei nicht geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung zu treffen. Da er während der Zeit der Kindererziehung in abhängiger Beschäftigung gewesen sei, die Ehefrau hingegen ohne Beschäftigung, sei davon auszugehen, dass die Kinder überwiegend von der Mutter erzogen worden seien. Eine gemeinsame Erklärung über die Zuordnung der Erziehungszeiten sei nicht abgegeben worden. Aufgrund der überwiegenden Erziehung durch die Mutter seien die Zeiten rechtmäßig dieser zugeordnet worden.
Mit Schreiben vom 01.02.2019, eingegangen bei der Beklagten am 04.02.2019, legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe seine Arbeitszeit reduziert um die Kinder gleichberechtigt mit seiner Frau zu betreuen und ihr Gelegenheit zur Berufstätigkeit zu geben. Auch wenn die Tätigkeit seiner Ehefrau eventuell im Rahmen einer freiberuflichen Tätigkeit gelegen habe und nicht rentenversicherungspflichtig gewesen sei, hätten sie Beruf und Kindererziehung gleichberechtigt geteilt und gemeinsam erreicht. Wenn nun alle seine drei Kinder seiner Frau zugerechnet würden, sei dies unverhältnismäßig und diskriminiere ihn.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, dass der Bescheid vom 23.05.2017 nicht nach § 44 SGB X zurückgenommen werden könne, weil weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Erzögen Eltern das Kind gemeinsam und sei eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben worden, werde die Kindererziehungszeit nach § 56 Abs. 2 S. 8 SGB VI bei dem Elternteil angerechnet, der das Kind - nach objektiven Gesichtspunkten betrachtet - überwiegend erzogen habe. Seien die Erziehungsbeiträge nach objektiven Maßstäben in etwa gleichwertig, richte sich die Zuordnung nach § 56 Abs. 2 S. 9 und 10 SGB X. Liege eine überwiegende Erziehung durch ein Elternteil nicht vor, erfolge die Zuordnung zur Mutter. Der Kläger habe angegeben, dass er sich die Erziehung gleichberechtigt mit der Mutter geteilt habe. Eine überwiegende Erziehung sei somit nicht feststellbar und die Kindererziehungszeiten zu Recht der Mutter zuzuordnen. Die Meinung des Klägers, dass das angewendete Recht diskriminierend und somit verfassungswidrig sei, führe zu keiner anderen Bewertung. Die Beklagte sei an Recht und Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz [GG]). Die Prüfung, ob ein Gesetz verfassungsgemäß sei, erfolge nur durch das Bundesverfassungsgericht.

Am 22.05.2019 ist die Klage des Klägers beim Sozialgericht Kassel eingegangen.

Mit Beschluss vom 01.10.2019 hat das Gericht die Mutter der Kinder beigeladen.

Der Kläger wiederholt seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren. Ergänzend gibt er an, dass er zumindest bei den Zwillingen die Kinderbetreuung in gleichem Umfang übernommen habe. Er macht geltend, dass er meist für die Kinderbetreuung allein zuständig war, wenn ein Kind krank wurde. Der Kläger legt Unterlagen zu seinen Arbeitszeiten und Einkommen vor. 

Der Kläger beantragt (mit Schreiben seiner hinzugetretenen Bevollmächtigten vom 12.12.2019),

die Bescheide der Beklagten vom 23.05.2017, 09.01.2019, 25.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2019 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten für die Kinder E. C., geb. 1995, D. C., geb. 1990 und F. C., geb. 1995, dem Kläger zuzuordnen, hilfsweise wird beantragt, die Zuordnung der vorgenannten Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten von zwei Kindern oder einem Kind bei dem Kläger.


Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beklagte hält an ihren Entscheidungen fest. Sie teilt mit, auch Rentenversicherungsträger der beigeladenen Mutter der Kinder zu sein.

Die Beigeladene hält keinen Vortrag.

Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 08.11.2019 zu einer beabsichtigten Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid angehört mit einer Äußerungsfrist von einem Monat. Das Schreiben ist nach den vorliegenden Empfangsbekenntnissen den Bevollmächtigten des Klägers und der Beklagten am 18.11.2019 zugegangen, der Beigeladenen nach der vorliegenden Zustellungsurkunde am 19.11.2019. Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 12.12.2019 hat der Kläger mündliche Verhandlung gewünscht.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand dieser Entscheidung waren.

Entscheidungsgründe

Der Rechtsstreit konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid in Beschlussbesetzung - ohne ehrenamtliche Richter - entschieden werden, nachdem die Beteiligten zu einer solchen Entscheidung binnen angemessener Frist angehört worden sind. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, und der Sachverhalt ist geklärt. Der Gerichtsbescheid wirkt insoweit als Urteil (§ 105 Abs. 3 1.HS SGG).

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist - nach Auslegung gemäß § 123 SGG - zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Klage ist zulässig. Sie ist (in der Auslegung nach § 123 SGG) als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG auf Aufhebung des Bescheides vom 25.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2019 und Verpflichtung der Beklagten auf Änderung des Bescheides vom 23.05.2017 statthaft. Die Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor.

Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 25.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Änderung des Bescheides vom 23.05.2017 und Berücksichtigung von Kindererziehungs- bzw. Berücksichtigungszeiten.

Nach § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VI sind Kindererziehungszeiten Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Die Kindererziehungszeit beginnt stets nach Ablauf des Monats der Geburt. Die Kindererziehungszeit verlängert sich bei gleichzeitiger Erziehung mehrerer Kinder um die Monate der gemeinsamen (gleichzeitigen) Erziehung. Gemäß § 57 SGB VI ist die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen.

Für vor dem 1. Januar 1992 geborenen Kindern wurden zunächst nur die ersten 12 Kalendermonate nach der Geburt berücksichtigt. Durch das am 1. Juli 2014 in Kraft getretene RV-Leistungsverbesserungsgesetz wurde die Kindererziehungszeit von 12 auf 24 Kalendermonate verlängert. Durch das am 1. Januar 2019 in Kraft getretene RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz ergab sich eine weitere Verlängerung auf 30 Kalendermonate. 

Immer nur ein Elternteil kann für denselben Zeitraum wegen Kindererziehung versichert sein. Die Zuordnungsregeln in § 56 Abs. 2 SGB VI unterscheiden drei Arten der Erziehung (allein, gemeinsam, überwiegend) und knüpfen hieran unterschiedliche Rechtsfolgen. Grundsatz ist, dass die Kindererziehungszeit dem Elternteil zuzuordnen ist, der das Kind allein erzogen hat (Satz 1). Auch bei gemeinsamer Erziehung wird die Erziehungszeit nur einem Elternteil zugeordnet (Satz 2). Die Zuordnung erfolgt nach Satz 9 an denjenigen, der das Kind überwiegend erzogen hat, soweit sich nicht aus Satz 3 etwas anderes ergibt. Satz 3 räumt den Eltern die Möglichkeit ein, durch eine übereinstimmende Erklärung zu bestimmen, welchem Elternteil die Zeit zuzuordnen ist. Haben die Eltern eine solche Erklärung nicht abgegeben, bleibt es bei dem Grundsatz des Satzes 9, dass die Kindererziehungszeit dem Elternteil zuzuordnen ist, der das Kind (nachweislich) überwiegend erzogen hat. Nur für den Fall, dass sich nicht feststellen lässt, wie die Erziehungsanteile tatsächlich verteilt waren, greift die Auffangregel in Satz 8, wonach die Zuordnung zur Mutter erfolgt (Satz 9) (vgl. Kreikebohm, SGB VI, § 56 Rn. 10, mwN, zitiert nach beck-online). Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist (Satz 10).

Eine Erklärung im Sinne des Satzes 3 haben der Kläger und die Beigeladene nicht fristgemäß (§ 56 Abs. 2 S. 5 und 6 SGB VI: zukünftig bzw. maximal zwei Monate zurück in die Vergangenheit) abgegeben. Haben die bei der Erziehung zusammenwirkenden Eltern eine Erklärung nicht wirksam, insbesondere nicht rechtzeitig abgegeben, bleibt es bei dem Grundsatz des § 56 Abs. 2 S. 9 SGB VI, dass die Kindererziehungszeit demjenigen zuzuordnen ist, der dann das Kind – nach objektiven Gesichtspunkten betrachtet – überwiegend erzogen hat (vgl. BSG vom 16.12.1997 – 4 RA 60/97, zitiert nach juris). Für die zeitliche Bemessung des Erziehungsanteils kommen der Erwerbstätigkeit/Arbeitslosigkeit oder der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub (Elternzeit) Indizwirkung zu (vgl. Kreikebohm, aaO, Rn. 11).

Alleinige oder überwiegende Erziehung macht der Kläger selbst nicht geltend, sondern gibt selbst an, die drei Kinder gleichberechtigt und gemeinsam mit der Beigeladenen erzogen zu haben.

Soweit jedoch die gemeinsam erziehenden Eltern Personen verschiedenen Geschlechts sind, die in der derselben familienrechtlichen Beziehung zu den Kindern stehen, die Erziehungszeit nicht ganz oder teilweise durch übereinstimmende Erklärung einem Elternteil zugeordnet haben und eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vorliegt, ordnet Satz 9 die Erziehungszeit der Mutter zu. Dies hängt mit dem Bestreben zusammen, durch die KEZ auch einen Beitrag zur Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frauen zu leisten (BT-Drs. IV/3767, 7; 10/2677, 28). Darüber hinaus sprechen Gründe der Praktikabilität, insbesondere der Beweiserleichterung dafür, bei einer Zuordnung an nur einen Elternteil an die sozialtypische Rollenverteilung anzuknüpfen, nach der die Aufgabe der Erziehung in den ersten Lebensjahren immer noch weit überwiegend von der Mutter wahrgenommen wird (vgl. KassKomm, SGB VI, § 56 Rn. 41, zitiert nach beck-online).

Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Zuordnungsregel des Satzes 9 mit dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG bestehen seit (mindestens) den 1990er Jahren (siehe BSG vom 25.02.1992 – 4 RA 34/91; jurisPK, SGB VI, § 56 Rn. 37, beide zitiert nach juris), ohne dass sich dies zu durchgreifenden Zweifeln verdichtet hätten (vgl. Kreikebohm, aaO; BSG vom 17.04.2008 – B 13 R 131/07 R, zitiert nach juris), sondern eine Reduktion auf eine widerlegliche Vermutung vorzunehmen ist (vgl. BSG vom 16.11.1993 – 4 RA 39/92, zitiert nach juris). Aus jüngerer Zeit ist dann noch zu sehen, dass der Gesetzgeber in Satz 10 eine weitere Zuordnungsregel (für gleichgeschlechtliche Paare, vgl. BeckOK, SGB VI, § 56 Rn. 12, zitiert nach beck-online) geschaffen hat, ohne jedoch die vorangegangenen Sätze zu ersetzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache selbst.

Rechtskraft
Aus
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