L 6 SB 3368/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 SB 2995/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3368/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 23. September 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die höhere Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mehr als 40.

Sie ist 1981 geboren und wurde im Alter von drei Jahren aus der Familie der leiblichen Eltern genommen, die beide Alkoholiker waren. Seitdem lebte sie bei Adoptiveltern. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, wobei beide Schwangerschaften mit Komplikationen verliefen. Sie wohnt mit ihrem Ehemann und den Kindern im oberen Stockwerk im Haus der Adoptiveltern. Nach dem Realschulabschluss hat sie eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation absolviert, im Ausbildungsbetrieb zunächst weitergearbeitet und war seit 2006 Vertriebsassistentin für elektronische Bauteile. Seit Dezember 2011 ist sie nicht mehr berufstätig. Nach der Geburt des Sohnes und der Elternzeit hat sie keine Tätigkeit mehr aufgenommen.

Am 21. Februar 2014 beantragte sie bei dem Landratsamt B (LRA) erstmals die Feststellung des GdB und machte eine Sehstörung mit Dauerkopfschmerz geltend. Das LRA zog die Behandlungsunterlagen des Gbei, aus denen sich ein Visus rechts von 1,0 und links von 0,1 ergab.

S sah versorgungsärztlich einen GdB von 30 für eine Sehminderung und Netzhautabhebung links, den das LRA mit Bescheid vom 2. April 2014 feststellte.

Am 22. Februar 2016 beantragte sie die Neufeststellung des GdB und machte Depressionen, Schuppenflechte, Medikamenten- und Lebensmittelallergien sowie Dauerkopfschmerzen geltend. Zur Akte gelangte der Abschlussbericht des Zentrums für ambulante psychosomatische Rehabilitation (ZAPR) über die Rehabilitation vom 12. Januar bis 6. Februar 2015. Darin wurden eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine mittelgradige depressive Episode, teilremittiert, ein chronischer Spannungskopfschmerz, eine Visuseinschränkung links bei Reninopathia centralis und eine SD-Substitutionstherapie bei Hashimoto-Thyreoiditis beschrieben. Das Leistungsvermögen liege für die Tätigkeit als Vertriebsassistentin in überwiegender PC-Arbeit bei unter drei Stunden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über sechs Stunden täglich. Die sehr problematische zweite Schwangerschaft mit dem Erfordernis eines dauerhaften Liegens und dem Auftreten der linksseitigen Rhetinopathie hätten eine große Belastung dargestellt. Nach der Trennung von ihrem neugeborenen Sohn wegen Belegungsproblemen sei es zu einer deutlichen depressiven Verstimmung mit Schlafstörungen, Gedankenkreisen und Ängsten gekommen. Es sei eine psychotherapeutische Mitbehandlung erfolgt, im weiteren Verlauf hätten sich anhaltende Kopfschmerzen mit drückendem Charakter und zunehmender Intensität eingestellt. Eine Berufstätigkeit halte die Klägerin wegen der Sehstörungen nicht mehr für möglich. Am PC könne sie maximal eine halbe Stunde arbeiten, das Schreiben sei ebenfalls anstrengend. Die Stimmungslage sei freudlos-gedrückt, punktuell gereizt, bei herabgesetzter emotionaler Modulationsfähigkeit. Psychomotorisch sei sie ausdrucksarm, im Antrieb schwunglos bei ungestörtem formalem Denken gewesen. Inhaltlich habe eine Fixierung auf ihr ausgeprägtes Krankheitserleben bestanden. Durch positive Beziehungserfahrungen und ihre zunehmende Motivation für das multimodale Therapiekonzept sei es zu einer deutlichen Stimmungsaufhellung mit Remission der depressiven Symptomatik, einer Verbesserung ihrer Introspektionsfähigkeit und einem Rückgang ihres Vermeidungsverhaltens gekommen. Sie habe bei Entlassung deutlich entspannter und zuversichtlicher gewirkt, allerdings hätten noch ausgeprägte Somatisierungstendenzen bezogen auf die körperliche Erschöpfbarkeit und das Schmerzerleben bestanden. Eine zufriedenstellende psycho-physische Stabilisierung habe erreicht werden können.

Das LRA holte den Befundschein des F ein, der darlegte, dass die letzte mittelgradige depressive Episode im Februar 2015 bestanden habe. Die Psoriasis mit typischem Ausschlag an den Prädilektionsstellen stehe aktuell nicht im Vordergrund, ebenso wenig die Allergie auf verschiedene Medikamente- und Nahrungsmittel. Es bestehe eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, die sich aktuell vor allem durch chronische Spannungskopfschmerzen äußere, zusätzlich schmerzhaften Verspannungen im Schulter-/Nackenbereich und rechtsseitigen Lumboischialgien. Das Makulödem führe zu einer anhaltend verminderten Sehschärfe links, hierdurch sei sie in ihrem Alltag deutlich eingeschränkt. Ausstehend sei eine ophthalmologische Rehabilitationsmaßnahme mit spezialisierten Trainingsmaßnahmen. Ergänzend legte er das Sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 4. April 2014 zur Dauer der Arbeitsunfähigkeit vor. Die U-Schmerzklinik habe weitergehende Maßnahmen empfohlen, die nicht komplett durchgeführt worden seien. Bei entsprechendem klinischem Bild einer depressiven Erlebnisverarbeitung sei die antidepressive Behandlung nicht aufgenommen, ebenso keine Kernspintomographie (MRT) des Hirnschädels durchgeführt worden. Das Krankheitsbild erscheine nicht hinlänglich diagnostiziert, es bestünden deutliche Hinweise auf eine Depression. Unklar bleibe, welche Anteile am Erkrankungsbild somatischen oder psychischen Ursprungs seien. Eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS) bzw. ein relevantes immunologisches Geschehen sei ausgeschlossen. Die MRT vom 10. Juli 2017 (Befundbericht des S1) zeigte einen verminderten venösen Fluss bei im Übrigen normalem intrakraniellen Befund.

S sah versorgungsärztlich einen Teil-GdB von 30 für eine Depression, ein Kopfschmerzsyndrom und ein chronisches Schmerzsyndrom. Mit der Sehminderung ergäbe sich ein Gesamt-GdB von 40. Gestützt hierauf hob das LRA mit Bescheid vom 4. Mai 2016 den Bescheid vom 2. April 2014 auf und stellte einen GdB von 40 seit dem 22. Februar 2016 fest.

Bereits am 4. Mai 2016 beantragte sie erneut die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „Bl“ (Blind). Vorgelegt wurde der Arztbrief des S2krankenhauses F1 vom 30. April 2016, wonach am 27. April 2016 laproskopisch eine suprazervikale Hysterktomie mit Salpinggektomie beidseits durchgeführt worden sei. Der postoperative Verlauf inklusive Nierenultraschall sei unauffällig gewesen.

Das Verfahren wurde als Widerspruchsverfahren hinsichtlich der Höhe des GdB weitergeführt und die Befundscheine des G(Visus rechts 1,0, links 0,05) und der P (wegen geklagter Druckschmerzen im Unterleib sei eine Überweisung in das S2krankenhaus erfolgt, zu psychoreaktiven Störungen könne sie keine Stellung nehmen) eingeholt.

F2 legte versorgungsärztlich da, dass nach dem aktuellsten Augenarztbefund bei einem Visus von 1,0/0,05 ein Teil-GdB von 25 anzunehmen sei, sodass der Teil-GdB von 30 weiterhin korrekt bzw. weitreichend sei, nachdem Schwankungen bestünden. Eine begleitende Psychotherapie werde nicht durchgeführt, eine ambulante psychiatrische Anbindung bestehe nicht. Die Schuppenflechte weise den typischen Ausschlag an den Prädilektionsstellen auf, stehe aber nach Angaben des Hausarztes trotz höherer psychischer Belastung nicht im Vordergrund. Ein Teil-GdB von 30 erscheine vertretbar bis weitreichend. Auf Wunsch der Klägerin sei am April 2016 die Gebärmutter entfernt worden, ein Teil-GdB hierfür nicht anzunehmen.

Mit Bescheid vom 4. August 2017 lehnte das LRA die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“ und „Bl“ ab.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2017 zurück. Aus dem Augenarztbericht gehe hervor, dass die Sehminderung mit 1,0/0,05 angegeben worden sei und sich ein Teil-GdB von 30 als angemessen erweise. Mit einem weiterem Teil-GdB von 30 sei psychisch eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit festgestellt worden. Der geltend gemachte Verlust der Gebärmutter bedingte keinen GdB von wenigstens 10 und könne daher nicht berücksichtigt werden. Die vorgenommene Erhöhung des GdB auf 40 gebe das Ausmaß der tatsächlich eingetretenen Änderung des Gesundheitszustandes wieder, eine weitere Erhöhung lasse sich nicht begründen. Über die Merkzeichen sei mit gesondertem Bescheid entschieden worden.

Am 8. August 2017 hat die Kläger Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung die von der Deutsche Rentenversicherung (DRV) eingeholten Gutachten der H(ambulante Untersuchung vom 12. Februar 2016), der F3 (ambulante Untersuchung vom 15. Dezember 2016) und des M (ambulante Untersuchung vom 23. Dezember 2016) beigezogen hat.

H hat ausgeführt, dass die Klägerin im psychiatrischen Befund wach, in allen Qualitäten voll orientiert und psychomotorisch nicht verlangsamt gewesen sei. Subjektiv zeige sie sich durch die vorhandenen Beschwerden beeinträchtigt, affektiv sei sie allenfalls leicht depressiv bei vorhandener affektiver Schwingungsfähigkeit. Der Antrieb sei mäßig, sie zeige sich von ihrer Persönlichkeit her ängstlich, tendenziell skeptisch und vermeidend sowie zur Somatisierung neigend. Das formale und inhaltliche Denken sei regelrecht, die kognitive Leistungsfähigkeit normal. Die Klägerin habe nach der Geburt ihres Sohnes postnartal eine Depression entwickelt. Bis auf eine ambulante psychosomatische Rehabilitation sei eine fachärztliche Behandlung nicht erfolgt. Bei der Begutachtung stehe die depressive Symptomatik nicht mehr im Vordergrund. Auf neurologischem Gebiet lägen keine schwerwiegenden Befunde vor. Subjektiv bestehe ein Tinnitus, die Sehstörung sei aktenkundig. Die psychischen Beschwerden und das Schmerzsyndrom seien grundsätzlich behandelbar und könnten gebessert werden. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien vollschichtig möglich.

Die F3 hat ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden gesehen. Der gynäkologische Befund sei unauffällig. Zur Rezidivprophylaxe werde richtiges Heben ohne Bauchpresse empfohlen, Inkontinenz bestehe keine, lediglich ein Dranggefühl. Die geschilderten Beschwerden seien bis auf eine Druckempfindlichkeit bei der vaginalen Untersuchung nicht durch den Befund nachvollziehbar.

M hat am rechten Auge einen Visus von 0,9 und am linken Auge von 1/35 ohne Fernvisus bestimmt. Die Angaben hätten geschwankt, was nicht ganz nachvollziehbar sei. Mit Sicherheit sei ein zentraler Ausfall vorhanden, der sich aber im Goldmann-Gesichtsfeld nicht nachweisen lasse. Das rechte Auge sei vollkommen gesund, am linken Auge werde eine Sehschärfe von 1/35 angegeben, wobei ihm keine Vorbefunde zum Vergleich vorgelegt worden seien. Die Klägerin habe eloquent berichtet, dass sie sich aufgrund der glaubhaften schlechten Sehstärke links auch am rechten Auge erheblich eingeschränkt fühle. Die faktische Erblindung eines Auges sei bedauerlich, habe aber keinen Einfluss auf das gesunde Auge. Die angegebenen Beschwerden am rechten Auge seien nicht durch die Sehschwäche am linken Auge erklärbar. Es gebe sehr viele Menschen, die nur ein funktionell gutes Auge hätten und trotzdem voll arbeiteten, sowohl am PC als auch an einem sonstigen Arbeitsplatz. Nur das dreidimensionale Sehen sei eingeschränkt, deshalb sei Dreher an einer rotierenden Maschine oder Dachdecker für einen Einäugigen ein denkbar schlechter Beruf. Aufgrund der augenärztlichen Begutachtung sei eine Berentung nicht notwendig, denn die bei der Klägerin anfallenden Arbeiten am PC und Schreibarbeiten seien zweidimensional. Aufgrund der faktischen Erblindung des linken Auges sei die Reduzierung der Arbeitszeit von acht auf sechs Stunden zu empfehlen. Autofahren sei sechs Monate nach der Erblindung eines Auges erlaubt, zumal das Gesichtsfeld nach außen hin vollkommen in Ordnung sei.

G1 hat versorgungsärztlich dargelegt, dass die depressive Symptomatik als nicht im Vordergrund stehend beschrieben werde, sich keine schwerwiegenden Befunde auf neurologischem Fachgebiet gezeigt hätten und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren gesehen worden sei (Teil-GdB 30). Die Sehminderung links auf <0,1 bei gesundem rechten Auge sei mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten, die Psoriasis mit einem Teil-GdB von 10. Der Gesamt-GdB sei mit 40 einzuschätzen.

Sodann hat die Klägerin Befundberichte der L vorgelegt. Danach ergab die Röntgenuntersuchung der Brustwirbelsäule (BWS) vom 18. Februar 2020 eine linkskonvexe Skoliose und Wirbelkörperhöhenminderung bei leichtgradiger Osteochondrose am ehesten von BWK 9/10 und 10/11. Die Aufnahmen der HWS vom gleichen Tag zeigten ebenfalls keine Wirbelkörperhöhenminderung bei Unkovertabralarthrosen in den Segmenten HWK 5/6 und 6/7. An der LWS ergab sich ein altersentsprechender lumbosakraler Übergang bei rechtskonvexer Skoliose ohne Wirbelkörperhöhenminderung.

Letztlich hat das SG sachverständige Zeugenauskünfte des R, Klinik für Augenheilkunde, Uklinikum F1, und des H1 erhoben. R hat einen Visus links bei der letzten Untersuchung von 1/50 angegeben. Die Einschätzung des GdB sei nur im Rahmen eines wissenschaftlichen Gutachtens möglich.

H1 hat auf zweimalige Behandlungen am 3. Juli und 22. Oktober 2019 verwiesen. Die veranlasste Kernspintomographie (MRT) habe einen unauffälligen Befund ergeben, für das Kopfschmerzsyndrom scheine ein Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt. Die versorgungsärztliche Einschätzung für den Komplex Depression, Kopfschmerzsyndrom und chronisches Schmerzsyndrom weiche von seiner Einschätzung nicht ab. Ergänzend hat er seinen Befundbericht vom 5. Juli 2019 vorgelegt.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23. September 2020 abgewiesen. Die Behinderungen der Klägerin seien mit einem Gesamt-GdB von 40 hinreichend bewertet. Die Hauptleiden bestünden auf neurologisch-psychiatrischem und augenheilkundlichem Fachgebiet. Für die Depression, das Kopfschmerzsyndrom und das chronische Schmerzsyndrom sei ein Teil-GdB von 30 ausreichend und angemessen. Das Sehvermögen sei zuletzt links mit 1/50 bestimmt worden, sodass sich ein Teil-GdB von 25 bis 30 ergebe. Die Psoriasis betreffe nur die Prädilektionsstellen, sodass diese mit einem GdB von 10 zu bewerten sei. Der Teil-GdB von 30 für die Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sei für die Beeinträchtigungen auf augenheilkundlichem Fachgebiet um 10 zu erhöhen.

Am 23. Oktober 2020 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und geltend gemacht, dass die Depression und das Kopfschmerzsyndrom mit einem Teil-GdB von 40 zu bewerten seien.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 23. September 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 4. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2017 sowie unter weiterer Aufhebung des Bescheides vom 2. April 2014 einen Grad der Behinderung von wenigstens 50 seit dem 22. Februar 2016 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das neurologische Sachverständigengutachten des B1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 23. April 2021 erhoben. Diesem gegenüber hat die Klägerin angegeben, dass ihre familiäre Situation durch die Corona-Pandemie aktuell deutlich beeinträchtigt sei. Aufgrund ihrer eigenen Immunschwäche lasse sie die Kinder lediglich zum Klausuren schreiben in die Schule gehen. Sie stehe morgens gegen 8 Uhr auf, richte das Frühstück und wecke die Kinder. Nach dem Frühstück betreue sie ihren Sohn bei den Schulaufgaben, der eine leichte Lese- und Rechtschreibschwäche habe. Ihre Tochter erledige die Schulaufgaben selbstständig. Nach dem Mittagessen verrichte sie Hausarbeiten und beaufsichtige die Kinder. Zum Allgemeinbefund hat der Sachverständige ausgeführt, dass sich eine leichte Brustwirbelsäulen(BWS)-Kyphose bei einem Finger-Boden-Abstand (FBA) von 5 cm gezeigt habe. Im Bereich der Ellenbogen hätten minimale Hauteffloreszenzen der Psoriasis bestanden. Die großen und kleinen Gelenke seien gut beweglich gewesen, ohne Schwellung, Rötung oder trophische Störungen. Psychisch sei die Klägerin wach, örtlich, zeitlich, situativ und zur Person voll orientiert gewesen. Störungen von Gedächtnis und Konzentration hätten sich bei unauffälliger Stimmungslage nicht gezeigt. Die Durchhaltefähigkeit sei ausreichend gewesen, der formale Gedankengang geordnet und etwas auf das Schmerzerleben und die körperlich erlebten Defizite eingeschränkt. Der neurologische Befund sei vollständig regelrecht ohne Hinweis auf eine Nervenwurzel-/Nervenläsion oder eine Muskelerkrankung gewesen. Im Allgemeinbefund habe sich die deutliche Visusstörung des linken Auges, ein geringer Rundrücken und gering ausgeprägte Hauterscheinungen durch die Schuppenflechte an beiden Ellenbogen gezeigt. Im psychischen Befund sei eine Angst vermehrt in Höhen, bei Menschenmengen und vor Ansteckung berichtet worden. Der Befund sei passend zu einer (leichten) chronischen Schmerzstörung ohne Hinweise auf eine Depression oder eine ausgeprägte Angststörung. Die Fragebögen hätten keine Hinweise auf eine Depression gezeigt. Die Beschreibung der Symptome im Längsschnitt habe sich eher gebessert gegenüber dem Bericht der psychosomatischen Tagesklinik 2015 bezüglich der Beschreibung einer psychischen bzw. körperlichen Einschränkung, aktuell sei auch kein Tinnitus mehr berichtet worden. Zu diagnostizieren sei eine anhaltende chronische Schmerzstörung, die nicht eindeutig auf eine einzige Ursache zurückzuführen sei. Das Erleben von Schmerzen entziehe sich bislang einer Objektivierbarkeit. Der chronische Schmerz habe einen eigenständigen Krankheitswert. Eine einheitliche Klassifizierung zur Schweregrad-Einteilung der Erkrankung bestehe nicht, aufgrund der mäßigen Aktivitätseinschränkung im Alltag sei von einer leichten Verlaufsform auszugehen. Die Schmerzerkrankung in Verbindung mit den organischen Diagnosen führe zu einer etwas verminderten Erlebnisfähigkeit, einem leichten sozialen Rückzug, einer leichten Einschränkung des Gehens und des Sitzens, sodass der chronischen Schmerzstörung ein mäßiger Schweregrad zuzuordnen sei. Der GdB sei auf 30 einzuschätzen und umfasse die neu berichteten belastungsabhängigen Schmerzen beider Hüften, der BWS und des rechten Handgelenks, die alle ohne wesentliche Organbefunde seien. Der Gesamt-GdB von 40 rechtfertige sich, da seit 2/2016 neue Befunde mit funktioneller Relevanz nicht vorlägen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 23. September 2020, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheres GdB als 40 unter Abänderung des Bescheides vom 4. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 14. Juli 2017 sowie unter weiterer Aufhebung des Bescheides vom 2. April 2014 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 4. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann die Neufeststellung des GdB mit mehr als 40 nicht beanspruchen, wie zuletzt das auf ihren Antrag nach § 109 SGG erhobene Sachverständigengutachten des B1 deutlich bestätigt hat. Der Sachverständige konnte keinerlei Befundänderungen seit 2016 objektivieren und hat sich den versorgungsärztlichen Einschätzungen ausdrücklich angeschlossen.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigsten 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind im Berufungsverfahren nicht gegeben. Auch nach Überzeugung des Senats hat der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine wesentliche Änderung gegenüber dem maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 2. April 2014 nur insofern angenommen, dass sich eine Erhöhung auf einen Gesamt-GdB von 40 rechtfertigt. Eine darüber hinausgehende Feststellung kann die Klägerin nicht beanspruchen.

Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Soweit der Antrag sich auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 bezieht, richtet sich der Anspruch nach den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Vorgaben (vgl. §§ 69 SGB IX ff. a. F.), nach denen ebenso für die Bewertung des GdB die VersMedV und die VG die maßgebenden Beurteilungsgrundlagen waren.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Gesamt-GdB mit 40 zutreffend festgestellt ist.

Die vorwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin bestehen im Funktionssystem „Augen“, das mit einem Teil-GdB von 25 zu bewerten ist.

Bei der Klägerin besteht auf dem rechten Auge eine Normalsichtigkeit und auf dem linken Auge ein auf 1/50 herabgesunkenes Sehvermögen, wie zuletzt die sachverständige Zeugenauskunft des R ergeben und damit die Vorbefunde bestätigt hat. Das Sehvermögen von links 1/50 und rechts 1,0 ist nach der Tabelle VG, Teil B, Nr. 4.3 mit einem Teil-GdB von 25 zu bewerten. Soweit die Klägerin wiederholt darauf verweist, dass durch die Beeinträchtigung des linken Auges eine Überlastung des rechten Auges eintrete, ist dies in medizinischer Hinsicht wiederlegt. M, dessen Gutachten der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), hat überzeugend herausgearbeitet, dass der faktische Ausfall eines Auges keine Auswirkungen auf das andere Auge hat. Ebenso schlüssig hat er dargelegt, dass allein Tätigkeiten, die dreidimensionales Sehen erfordern, wie solche an drehenden Maschinen oder auf Dächern, nicht mehr verrichtet werden können. Dies gilt indessen nicht für Tätigkeiten, bei denen das zweidimensionale Sehen ausreicht, wie dies bei Tätigkeiten am PC oder auch dem Schreiben der Fall ist.

Daneben ist das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ mit einem Teil-GdB von maximal 30 zu bewerten.

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 bedingen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Bei der Klägerin war es nach der Geburt des zweiten Kindes zu einer deutlichen depressiven Verstimmung gekommen, wie der Senat dem Entlassungsbericht des ZAPR über die Rehabilitation vom 12. Januar bis 6. Februar 2015 entnimmt, den er im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Allerdings ergibt sich aus diesem weiter, dass eine zufriedenstellende psychophysische Stabilisierung erreicht werden konnte und nur noch ausgeprägte Somatisierungstendenzen bestanden haben. Korrespondierend hierzu hat der F in seinem Befundschein eine letzte mittelgradige depressive Episode im Februar 2015 beschrieben und auf eine chronische Schmerzstörung verwiesen. Die H2 hat die Klägerin bei ihrer Untersuchung im Februar 2016 als allenfalls leicht depressiv bei vorhandener affektiver Schwingungsfähigkeit beschrieben, sodass abgesehen von der ambulanten Rehabilitation keine fachärztliche Behandlung erforderlich war. Die depressive Symptomatik hat sie als nicht mehr im Vordergrund stehend angesehen und der Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bescheinigt, was deren Leistungsfähigkeit unterstreicht und gegen relevante Teilhabeeinschränkungen spricht.

Eine relevante Befundänderung seit 2016 hat der Sachverständige B1 für den Senat überzeugend verneint, da dieser ebenfalls keinen relevanten psychischen Befund erheben konnte und nur eine leichte Depression diagnostiziert hat. Passend zu seiner Diagnosestellung beschreibt er einen regelmäßigen und unauffälligen Tagesablauf der Klägerin. Sie versorgt den Haushalt und die Kinder, erledigt mit diesen die Hausaufgaben und bereitet die Mahlzeiten zu. Eine chronische Angststörung wird von B1 verneint und die angenommene chronische Schmerzstörung unklarer Ursache als leicht eingestuft, nachdem nur eine mäßige Aktivitätseinschränkung vorhanden ist. Dabei berücksichtigt er die von der Klägerin beschriebenen Schmerzen beider Hüften, der BWS und des rechten Handgelenks, wobei er ausdrücklich darauf verweist, dass diese Beschwerden ohne einen pathologischen Organbefund sind. Dementsprechend haben die Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule (HWS, BWS und LWS) der L, die die Klägerin im SG-Verfahren vorgelegt hat, jeweils keine wegweisenden Befunde ergeben, sondern nur leichte degenerative Veränderungen beschrieben. Wirbelkörperhöherminderungen sind ausdrücklich ausgeschlossen worden. Daraus folgt gleichzeitig, dass ein weitere Teil-GdB im Funktionssystem „Rumpf“ (vgl. insbesondere VG, Teil B, Nr. 18.1) nicht gegeben ist, sondern die geklagten Beschwerden, wie B1 dargelegt hat, im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu bewerten sind.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich aus der sachverständigen Zeugenauskunft des H1 nichts anderes. Dieser hat ebenfalls keinen pathologischen Befund erhoben, sondern in seinem – beigelegten – Befundbericht den neurologischen Befund als ohne richtungsweisende Auffälligkeiten und das EEG als normal beschrieben. Ein fassbares Korrelat für die Beschwerden wird verneint und ausgeführt, dass die Anamnese nicht typisch für eine Migräne oder einen Clusterkopfschmerz ist. Zur Abklärung eines möglichen Zervikalsyndroms wurde eine MRT veranlasst, die ebenfalls keinen pathologischen Befund ergab. Auch wenn es auf die GdB-Einschätzung des sachverständigen Zeugen nicht entscheidungserheblich ankommt, da es sich nicht um eine medizinische Frage handelt, hat dieser lediglich für das Kopfschmerzsyndrom einen GdB von 20 empfohlen und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seine Einschätzung der versorgungsärztlichen Einschätzung für den „Komplex“ mit 30 nicht entgegensteht. Eine zusätzliche Berücksichtigung des Kopfschmerzsyndroms kommt auch nach seinen Darlegungen somit nicht in Betracht.

Soweit in der Akte immer wieder ein Tinnitus geklagt worden ist, wurde ein solcher gegenüber dem Sachverständigen B1 nicht mehr beschrieben. Dementsprechend sind keine nennenswerten psychischen Begleiterscheinungen objektiviert, die eine entsprechende Bewertung des Tinnitus rechtfertigten könnten (vgl. VG, Teil B, Nr. 5.3).

Im Funktionssystem „Haut“ ist kein höherer Teil-GdB als 10 zu berücksichtigen, wie ihn F2 versorgungsärztlich nachvollziehbar eingeschätzt hat. Die bei der Klägerin aufgrund der Psoriasis bestehenden Hauterscheinungen sind auf die Prädilektionsstellen beschränkt, die der Senat dem Befundschein des F entnimmt und was durch den Sachverständigen B1 bestätigt worden ist. Dieser hat nämlich dargelegt, dass nur gering ausgeprägte Hauterscheinungen durch die Schuppenflechte an beiden Ellenbogen bestanden. Die großen und kleinen Gelenke hat er als gut beweglich befundet. Schwellungen, Rötungen oder trophische Störungen hat er ausdrücklich verneint, sodass Folgeschäden an den Gelenken im Sinne einer Gelenk- oder Wirbelsäulenbeteiligung ebenfalls ausgeschlossen sind (vgl. VG, Teil B, Nr. 17.7).

Letztlich ist kein Teil-GdB im Funktionssystem „weibliche Geschlechtsorgane“ zu berücksichtigen (vgl. VG, Teil B, Nr.14.2), nachdem F2 versorgungsärztlich überzeugend ausgeführt hat, dass die Gebärmutterentfernung auf eigenen Wunsch der Klägerin erfolgte und die F3 in ihrem urkundsbeweislich zu verwertenden Gutachten einen unauffälligen gynäkologischen Befund beschrieben und die geklagten Beschwerden als nicht nachvollziehbar klassifiziert hat.

Aus den Teil-GdB von 25 im Funktionssystem „Augen“, einem Teil-GdB von maximal 30 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ und 10 im Funktionssystem „Haut“ lässt sich ein höhere Gesamt-GdB als 40, wie ihn der Beklagte bereits festgestellt und wie ihn B1 ausdrücklich bestätigt hat, nicht begründen. Selbst wenn im Funktionssystem „weibliche Geschlechtsorgane“ aufgrund des Lebensalters der Klägerin von einem Teil-GdB von 20 ausgegangen wird, ergibt sich aufgrund des unauffälligen gynäkologischen Befundes keine andere Beurteilung, da es nach den VG, Teil A, Nr. 3 d ee auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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