Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16.12.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin macht einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung geltend.
Die 1969 in der Türkei geborene Klägerin ist seit 2009 deutsche Staatsangehörige. Ihr Zuzug nach Deutschland erfolgte im August 1990. Sie hat keine Versicherungszeiten im Ausland, auch entrichtete sie keine Beiträge zu einem ausländischen Rentenversicherungsträger. Zuletzt war sie 2012 beim AG G als Reinigungskraft an 5 Tagen in der Woche jeweils 4 Stunden versicherungspflichtig beschäftigt.
Im Oktober 2011 wurde die Klägerin wegen eines Leistenbruchs beidseits operiert. Im Jahr 2012 erfolgte eine Netzimplantation links bei Verdacht auf eine Rezidivhernie. Im Januar 2014 nahm die Klägerin eine Behandlung in einer Anästhesiepraxis auf. Dort wurde ein chronisches neuropathisches Schmerzsyndrom nach Leistenhernie-OP bds 2011 mit atypischer Schnittführung und hochgradigem Verdacht auf iatrogene (dh durch ärztliche Maßnahmen verursachte) Schädigung des nervus ilioinguinalis bzw des nervus genitofemoralis diagnostiziert und eine Schmerztherapie nach dem WHO-Stufenschema Stufe III begonnen (Arztbrief A vom 27.05.2014).
Am 10.10.2016 beantragte die Klägerin beim beklagten Rentenversicherungsträger die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zur Begründung ihres Rentenantrages verwies sie auf die Berichte ihrer behandelnden Ärzte und gab an, sie halte sich seit November 2011 für erwerbsgemindert. Die Beklagte ließ die Klägerin von der L untersuchen und begutachten. In ihrem Gutachten vom 30.03.2017 stellte die Gutachterin folgende Diagnosen:
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
- Rezidivierende mittelgradige depressive Episoden
- Nervenschmerz im Leistenbereich bei Zustand nach Leistenbruchoperation 2011 und Rezidiv-Operation 2012 mit Verdacht auf iatrogene Schädigung.
Die Gutachterin vertrat die Auffassung, dass die Klägerin als Reinigungskraft nur noch unter drei Stunden, jedoch für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts über sechs Stunden leistungsfähig sei. Mit Bescheid vom 02.05.2017 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Die Klägerin legte am 29.05.2017 Widerspruch ein. Sie sei von einem Arzt im Klinikum B bei einer einfachen Operation verpfuscht worden. Seitdem leide sie an unerträglichen Schmerzen. Außerdem werde sie zwei- bis dreimal im Monat bewusstlos, ohne dass sie dies vorher spüre. Vom 14.09. bis zum 22.09.2017 befand sich die Klägerin wegen plötzlich aufgetretener Beinschwäche und Sensibilitätsstörungen in stationärer Behandlung im Klinikum C in G. Die kardiovaskuläre Abklärung mittels Dopplersonographie und 24-stündiger Blutdruckmessung ergab keinen krankhaften Befund. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) der Halswirbelsäule (HWS) ergab mäßige degenerative Veränderungen ohne Hinweis auf einen Bandscheibenvorfall, eine Spinalkanalstenose (Verengung des Wirbelsäulenkanals) oder eine Myelopathie (Schädigung des Rückenmarks). Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 08.06.2018 als unbegründet zurück.
Am 03.07.2018 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Das SG hat zunächst ein Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholt. W, hat in seinem Gutachten vom 16.09.2019 folgende Diagnosen gestellt:
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD F45.41) mit pseudoradikulärem Lumbal- und Zervikalsyndrom sowie Leistenschmerzen beidseits (ICD M54.16; M54.2; R10.3)
- Dysthymie (ICD F34.1)
- Rezidivierende Synkopen unklarer Genese (ICD R55)
Aufgrund der Dysthymie und der psychischen Überlagerung der Schmerzsymptomatik sei die psychische Belastbarkeit der Klägerin sicher herabgesetzt. Tätigkeiten unter Zeitdruck wie Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Tätigkeiten im Schichtbetrieb könnten nicht mehr ausgeübt werden, auch keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr oder mit besonderer Verantwortung. Allein unter Berücksichtigung des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets sei für ihn jedoch kein Grund erkennbar, warum die Klägerin nicht in der Lage sein sollte, die noch möglichen Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten.
Anschließend hat das SG die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt und danach P, mit einer Begutachtung beauftragt. Nach einer Darstellung und Erörterung des bisherigen Sachstandes führte dieser in seinem Gutachten vom 22.04.2020 aus, zusammenfassend finde sich eine depressive Störung mit gegenwärtig schwerer Episode, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine Panikstörung mit Angststörung, ein cervicobrachiales Syndrom, ein lumbales Syndrom, ein Carpaltunnel-Syndrom sowie ein wechselndes Kopfschmerzsyndrom. Tätigkeiten könnten nur noch unter drei Stunden ausgeübt werden. Zu diesem Gutachten hat W nach Aufforderung des SG die ergänzende Stellungnahme vom 29.06.2020 abgegeben. Aus seiner Sicht ändere sich an der von ihm auf seinem Fachgebiet vorgenommenen Einschätzung durch das Gutachten des P nichts. Bei der Klägerin bestehe in keinem Fall eine schwere depressive Episode. Auch eine Panikstörung könne von ihm nicht nachvollzogen werden.
Nachdem ein erster für den 31.07.2020 vorgesehener Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag der Klägerin (Aufenthalt in der Türkei vom 25.07. bis 28.08.2020) verlegt worden ist, hat das SG mit Urteil vom 16.12.2020 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, vorliegend bestünden Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem und orthopädischem Fachgebiet. Zwar halte der Sachverständige P die Klägerin für erwerbsgemindert. Er habe dies jedoch nicht nachvollziehbar begründet. Zwar habe er aufgrund der von ihm erhobenen Bewegungseinschränkungen und Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, der oberen und unteren Extremitäten nachvollziehbar qualitative Einschränkungen formuliert (Bl 98 SG-Akte). Jedoch habe P nicht dargelegt, warum bei Beachtung dieser Einschränkungen den funktionellen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht angemessen Rechnung getragen werde. Der Sachverständige W, der im Übrigen die Extremitäten und die Kopfbeweglichkeit als nicht eingeschränkt beschrieben habe, habe dagegen nachvollziehbar erläutert, dass die Klägerin einer überwiegend sitzenden Tätigkeit nachgehen könne. W habe auch zutreffend darauf hingewiesen, dass P fachfremd eine schwere depressive Episode und eine Panikstörung mit Vermeidungsverhalten diagnostiziert habe. Diese Diagnosen seien jedoch nicht nachvollziehbar. Der Sachverständige W habe aus den von ihm erhobenen Befunden und den sich daraus ergebenden funktionellen Beeinträchtigungen ausschließlich auf qualitative Einschränkungen geschlossen. Dieser Einschätzung schließe sich die Kammer an. Die Klägerin könne daher zumindest noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung der von W genannten qualitativen Einschränkungen (keine Tätigkeiten unter Zeitdruck wie Akkord- oder Fließbandarbeiten oder Arbeiten im Schichtbetrieb, keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr oder besonderer Verantwortung, in gebückter Körperhaltung, in Kälte, Nässe, Zugluft oder mit häufigen Überkopfarbeiten, keine Tätigkeiten auf Treppen, Leitern, Gerüsten oder an laufenden, unzureichend gesicherten Maschinen) sechs Stunden täglich ausüben. Sie sei daher nicht erwerbsgemindert. Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit sei in einem solchen Fall regelmäßig nicht erforderlich.
Gegen dieses Urteil, das den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18.02.2021 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 11.03.2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, bei einer im Jahr 2011 durchgeführten Operation eines Leistenbruchs und einer Rezidivoperation im Jahr 2012 sei ein Nervenstrang beschädigt worden, was unerträgliche Schmerzen zur Folge gehabt habe. Zudem bestünden infolge der Schmerzen sehr ausgeprägte Schlafstörungen. Sie unterziehe sich seit Mai 2014 einer ständigen Schmerztherapie und leide an einem Taubheitsgefühl sowie Schwellungen am linken Bein. Außerdem leide sie an einem chronischen HWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen und einem Bandscheibenprolaps sowie an rezidivierenden lumbalen Schmerzen. Bei ihr träten zudem Ohnmachtsanfälle auf, die mehrfach zu Sturzverletzungen geführt hätten. Außerdem sei ihr eine Hyperthyreose bei Hashimoto-Thyreoiditis attestiert worden. Sie leide auch an einer Depression. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes fühle sie sich hilflos und habe Schuldgefühle, da sie auf eine Betreuung von Familienangehörigen angewiesen sei. Sie sei nicht in der Lage, eine Einkaufstasche oder einen Wäschekorb zu heben. Sie lebe in einem Reihenhaus, dessen Zugang 37 Stufen aufweise. Dabei halte sie sich nur im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss auf, in dem sich das Schlafzimmer befinde. Aufgrund der Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei im Rahmen der Schmerztherapie eine Behandlung mit cannabishaltigen Heilmitteln erforderlich. Ihr Gesundheitszustand habe sich in den letzten Wochen stark verschlechtert. Der behandelnde Schmerztherapeut A habe ihre Aufnahme in eine Akut-Schmerzklinik in S eingeleitet; sie werde ab dem 15.03.2021 stationär in die R-Klinik S aufgenommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16.12.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.06.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung ab 01.10.2016 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16.12.2020 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
Der Senatsvorsitzende hat die Beteiligten mit Schreiben vom 27.05.2021 darauf hingewiesen, dass der Senat nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen kann, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind darauf aufmerksam gemacht worden, dass diese Verfahrensweise aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt sei. Sie haben Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis 09.07.2021 Stellung zu nehmen. Die Anhörungsmitteilung ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mittels elektronischen Empfangsbekenntnisses am 27.05.2021 zugestellt worden.
Mit Schriftsatz vom 09.07.2021 hat die Klägerin den Senat gebeten, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Es werde beantragt, zu der Verhandlung einen Dolmetscher für die türkische Sprache zu laden. Ungeachtet des Umstandes, dass sie zwar deutsche Staatsbürgerin sei, habe sie jedoch nur beschränkte deutsche Sprachkenntnisse, sodass bei der Verständigung Probleme bestünden. Ihr Gesundheitszustand habe sich seit der Begutachtung durch den Sachverständigen W und der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 16.12.2020 erheblich verschlechtert. Sie sei vom 15.03.2021 bis zum 31.03.2021 aufgrund einer Indikation zur multimodalen Schmerztherapie in den R-Kliniken gGmbH stationär behandelt worden. Bei ihr sei ein chronifiziertes Stadium nach Gerbershagen I bis III: mit Faktor III aufgrund der nachfolgenden Diagnosen festgestellt worden:
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
- Ganzkörperschmerz im Sinne eines wide-spread-pain
- Neuropathische Schmerzen des Nervus ilioinguinalis/genitofemoralis beidseitig
- Chronische Lumbalgien.
Als nichtschmerzbezogene Diagnosen seien festgestellt worden:
- Hypothyreose
- Benigne essentielle Hypertonie
Als psychologische Diagnosen:
- Mittelgradige depressive Episode
- Generalisierte Angststörung
- Sonstige somatoforme Störung (Bruxismus)
- Schmerzmittelfehlgebrauch
- Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen und histrionischen Anteilen
- Sonstige dissoziative Störungen.
Aufgrund der vorstehenden Diagnostik sei sie nach Erstellung eines individuellen, multimodalen Behandlungskonzeptes schmerztherapeutisch und schmerzpsychologisch behandelt worden. Sie habe einige Tage vor ihrer Entlassung einen weiteren Ohnmachtsanfall erlitten, wobei das anschließende Auslesen des Event-Recorders keinen Anhalt für eine kardiale Ursache gezeigt habe. Als Ursache für die wiederholt auftretenden Synkopen sei ein dissoziatives Ereignis diskutiert worden, was in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Abteilung zu klären wäre. Sie habe nur wenig schmerzreduziert entlassen werden können. Ihr sei ua zur Klärung der dissoziativen Störung eine psychiatrische Abklärung bei synkopalen Ereignissen ohne kardiologisches oder neurologisches Korrelat dringend empfohlen worden sowie eine möglichst muttersprachliche ambulante Psychotherapie. Sie sei außerdem am 08.04.2021 von Herrn W1, untersucht worden, der sie aufgrund der von der R-Klinik gGmbH diagnostizierten erheblichen psychischen Komponente der Beschwerden und dem Verdacht einer dissoziativen Störung in fachärztliche Behandlung für Neurologie/Psychiatrie überwiesen habe. Bei der Vorbesprechung im C sei mit der Klägerin abgeklärt worden, dass ein stationärer Aufenthalt zur Durchführung einer Therapie erforderlich sei. Aufgrund eines Kapazitätsengpasses könne sie jedoch zunächst nur ambulant behandelt werden, bis dies möglich sei. Sie habe nach Entlassung aus den R-Kliniken gGmbH zwischen Ende April 2021 und dem 25.06.2021 vier Ohnmachtsanfälle im häuslichen Bereich erlitten, und zwar Ende April, Mitte Mai, Anfang Juni sowie letztmals am 25.06.2021, die sich im Badezimmer, in der Küche, im Wohnzimmer sowie auf der Terrasse zugetragen hätten und von ihrem Ehemann und ihrer Tochter beobachtet worden seien. Aufgrund des implantierten Event-Recorders seien bei ihr erstmals kardiologische Ursachen der auftretenden Synkopen aufgezeichnet worden, wie eine Überprüfung durch die S1klinik G ergeben habe. Aufgrund dieses Umstandes werde sie ab dem 16.09.2021 im Uklinikum U1, Zentrum für Innere Medizin, stationär behandelt werden. Sie beantrage daher eine Begutachtung auf internistischem Fachgebiet im Hinblick auf die Synkopen.
Als Beleg für ihr Vorbringen hat die Klägerin den Entlassbrief der R-Kliniken vom 13.04.2021, den Arztbrief des W1 vom 19.04.2021 und den Brief des Uklinikums U1 vom 30.06.2021 vorgelegt. Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 20.07.2021 hat die Klägerin ferner den Arztbericht der CardioPraxis S1 vom 23.06.2021 bezüglich der Herzerkrankung übersandt und ausgeführt, nach diesem Arztbrief seien bei ihr Tachykardien mit wechselnder Morphologie des Kammerkomplexes festgestellt worden.
Mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 28.07.2021 ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass nach dem von der Beklagten übersandten Versicherungsverlauf vom 23.07.2021 die letzten Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen im Juli 2016 zurückgelegt worden seien. Sollte sich der Gesundheitszustand der Klägerin im März 2021 tatsächlich verschlechtert haben, wären die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen im März 2021 eingetretenen Versicherungsfall nach dem derzeit bekannten Sachverhalt wohl nicht erfüllt. In den letzten fünf Jahren, also in der Zeit von März 2016 bis Februar 2021, lägen lediglich 5 Monate statt der vom Gesetz geforderten 36 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor. Angesichts dieses Sachverhalts bedürfe es auch keiner weiteren Sachaufklärung mehr. Die Klägerin ist gebeten worden mitzuteilen, ob sie in der Zeit ab August 2016 eine Beschäftigung ausgeübt oder Sozialleistungen erhalten habe.
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 15.09.2021 hat die Klägerin vortragen lassen, sie habe ab August 2016 keine Beschäftigung ausgeübt oder Sozialleistungen erhalten. Sie werde derzeit im Uklinikum U1 kardiologisch untersucht. Es sei nicht völlig auszuschließen, dass sie bereits im Juli 2018 und damit innerhalb der 3-Jahres-Frist des § 43 Abs 2 Nr 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) aufgrund der bisher nicht berücksichtigten Herzerkrankung dauerhaft so erkrankt sei, dass die Voraussetzungen für eine volle oder teilweise Erwerbsunfähigkeit bereits im Juli 2018 erfüllt gewesen seien. Sie bitte daher, das Ergebnis der Untersuchung abzuwarten, bevor über eine Rücknahme der Berufung entschieden werde.
Mit einem weiteren Schriftsatz vom 28.10.2021 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dann ausgeführt, nach erneuter Rücksprache mit der Klägerin werde mitgeteilt, dass aufgrund der gegebenen Sachlage keine Einwände gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestünden. Die Beklagte hat sich mit Schreiben vom 11.11.2021 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung. Die Beteiligten habe sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1, 151 Abs 1 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 02.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.06.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente.
Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).
Nach dem Ergebnis der vom SG durchgeführten Beweisaufnahme sowie unter Berücksichtigung der im Verwaltungsverfahren durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin durchgehend bis mindestens März 2021 noch leichte körperliche Tätigkeiten unter Beachtung gewisser Einschränkungen sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche verrichten konnte. Nicht mehr zumutbar waren der Klägerin Tätigkeiten unter Zeitdruck (Akkord- und Fließbandarbeiten) oder Arbeiten im Schichtbetrieb, Tätigkeiten mit Publikumsverkehr oder mit besonderer Verantwortung, in gebückter Körperhaltung, in Kälte, Nässe, Zugluft oder mit häufigen Überkopfarbeiten, Tätigkeiten auf Treppen, Leitern, Gerüsten oder an laufenden Maschinen. Ob die Klägerin auch in der Zeit ab März 2021 in diesem Umfang erwerbsfähig war, bedarf keiner Entscheidung, da für einen im März 2021 eingetretenen Leistungsfall der Erwerbsminderung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht mehr erfüllt sind.
Im Vordergrund steht bei der Klägerin eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD F45.41), mit pseudoradikulärem Lumbal- und Zervikalsyndrom sowie mit Leistenschmerzen beidseits (ICD M54.16; M54.2; R10.3). Dies ergibt sich aus dem Gutachten des W. Dessen Gutachten beruht auf einer erkennbar mit großer Sachkenntnis durchgeführten sorgfältigen Untersuchung der Klägerin, weshalb sich der Senat seiner Beurteilung in vollem Umfang anschließt. W konnte keine Gesundheitsstörungen auf neurologischem Fachgebiet erkennen. Bei der körperlich-neurologischen Untersuchung ergaben sich keine relevanten Auffälligkeiten. Im EEG (Elektroenzephalografie; eine Untersuchungsmethode, bei der die elektrische Aktivität der Hirnrinde über Elektroden gemessen wird) zeigten sich keine Auffälligkeiten. Die Neurografie des Nervus Suralis (rein sensibler Nerv des Unterschenkels) ergab keinen Hinweis für eine Polyneuropathie. Im Tibialis-SEP (Untersuchungsmethode mittels einer Nervenstimulation) zeigte sich keine Leitungsstörung in den Beinen. Der Sachverständige konnte insbesondere keine Schädigung des Nervus ilioinguinalis und des Nervus genitofemoralis feststellen. Es fehlten sensible Defizite, die einer Schädigung dieser Nerven entsprechen. Auch entsprachen die geschilderten Schmerzen im Bereich der Leiste nicht den Ausbreitungsgebieten dieser Nerven. Der von der Klägerin und auch einigen Ärzten geäußerte Verdacht auf eine Schädigung dieser Nerven durch die in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführten Leistenbruchoperationen hat sich damit nicht bestätigt.
In psychischer Hinsicht stellte auch W bei der Klägerin eine Schmerzsymptomatik fest, darüber hinaus konnte er eine milde depressive Verstimmung im Sinne einer Dysthymie diagnostizieren. Dadurch sah er die psychische Belastbarkeit der Klägerin herabgesetzt. Tätigkeiten unter Zeitdruck (Akkord, Fließband) im Schichtbetrieb und Tätigkeiten mit Publikumsverkehr hielt er deshalb nicht mehr für zumutbar. Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an.
Die im Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 09.07.2021 benannten Diagnosen auf nervenärztlichem Fachgebiet waren schon zum Zeitpunkt der Untersuchung der Klägerin durch den gerichtlichen Sachverständigen bekannt und wurden von diesem ausführlich gewürdigt. Dies gilt insbesondere für die Schmerzsymptomatik. Während von den R-Kliniken im Arztbrief vom 13.04.2021 vornehmlich die von der Klägerin in Fragebogen gemachten Angaben ausgewertet wurden, hat W anhand einer körperlichen Untersuchung und mit Hilfe technischer Untersuchungsmethoden den neurologischen Status sorgfältig abgeklärt und überzeugend dargelegt, weshalb zB eine Nervenschädigung im Bereich der Leiste nicht vorliegt. Er hat auch den Gesundheitszustand der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eingehend gewürdigt. Die jetzt vorgebrachten Argumente und Arztberichte vermögen den Senat nicht davon zu überzeugen, dass noch weitere Gutachten zur Klärung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin notwendig sind. Im Gegenteil bestätigt der Entlassungsbericht der R-Kliniken sogar, dass die Klägerin körperlich aktiver sein sollte. Wörtlich heißt es zB „Wir haben der Patientin dringend empfohlen, den nun begonnenen Weg mit Kräftigung und Stabilisierung der Rumpfmuskulatur, allgemeiner Aktivierung und Ausnutzen der eigenen Ressourcen und Fähigkeiten weiterzugehen und sich von passiven und annehmenden Handlungsweisen soweit wie möglich zu distanzieren“ (Bl 62 der LSG-Akte).
Dagegen ist die von P, der auf orthopädischem bzw chirurgischem Fachgebiet tätig ist, fachfremd gestellte Diagnose einer depressiven Störung mit gegenwärtig schwerer Episode nicht ansatzweise nachvollziehbar. Soweit es sich seinem Gutachten entnehmen lässt, schließt er dies aus den Angaben der Klägerin, sie könne das Haus ohne eine Begleitperson (etwa den Ehemann oder die Tochter) nicht verlassen und deshalb zB öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. Er übernimmt damit unkritisch die Angaben der Klägerin, ohne diese Angaben daraufhin zu überprüfen, ob sie auch mit dem sonst bekannten Sachverhalt übereinstimmen. Immerhin kann die Klägerin trotz ihrer Beschwerden längere Flugreisen unternehmen (Urlaub in Dubai, Bl 38 der SG-Akte, und in der Türkei, Bl 141 der SG-Akte). Auch eine Panikstörung mit Angststörung liegt nicht vor, wie W in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.06.2020 klargestellt hat.
Auf orthopädisch/chirurgischem Fachgebiet liegen keine die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Gesundheitsstörungen vor. Auch insoweit vermag der Senat dem Gutachten des P nicht zu folgen. Eine discogene spinale Enge C5/6 und C6/7 ist nicht belegt. Während ihres stationären Aufenthaltes im Klinikum C in G wurde die Klägerin auch kernspintomografisch untersucht. Durch eine MRT der HWS und LWS konnten dort eine Spinalkanalstenose und eine Myelopathie ausgeschlossen werden. Neuere Befund, die etwas anderes belegen, liegen nicht vor. Eine Computertomografie des Beckens im Dezember 2012 war unauffällig (Bl 129 der SG-Akte).
Auf internistischem Fachgebiet lagen jedenfalls bis einschließlich März 2021 ebenfalls keine Gesundheitsstörungen vor, die zu einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit führten. In einer Ende 2017 durchgeführten Langzeit-EKG-Untersuchung fanden sich keine behandlungsbedürftigen Herzrhythmusstörungen (Arztbrief S2 vom 29.01.2018). Auch die Implantation eines Loop-Rekorders (Methode zur Überwachung des Herzrhythmus) ergab keine Störungen der Herzfunktion (Arztbriefe S2 vom 02.08.2018 und 14.03.2019). Im Hinblick auf diese und die weiteren im Wesentlichen unauffälligen kardiologischen Untersuchungsbefunde sah S2 in seiner sachverständigen Zeugenaussage keine Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens. Im Arztbrief der R Klinik vom 13.04.2021, in dem ua über das Ergebnis eines EKG berichtet wird, heißt es: Event-Recorder-Auslesung am 29.03.21 nach fraglichem synkopalen Ereignis am 28.03.21 (unbeobachtet): im genannten Zeitraum (28.03 2021) wurde keine Episode aufgezeichnet (Zurückliegend lx Schmalkomplextachykardie-Episode über 28 Sek. <16 Schläge> mit einer Herzfrequenz von 176/ min am 25.02 2021 um 23 12 Uhr). Empfehlung: ambulante Kontrolle nach einer Episode bzw in 3 Monaten.
Ob sich der Gesundheitszustand der Klägerin seit März 2021 deutlich verschlechtert hat mit der Folge, dass die Klägerin seitdem erwerbsgemindert ist, kann der Senat offenlassen. Für einen im März 2021 eingetretenen Leistungsfall liegen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr vor. Im dann maßgeblichen Fünf-Jahres-Zeitraum, also in der Zeit von März 2016 bis Februar 2021, sind lediglich 5 Monate statt der vom Gesetz geforderten 36 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt. Dies ergibt sich aus dem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf, dessen Richtigkeit insoweit von der Klägerin nicht in Frage gestellt wird. Sie hat auf Nachfrage des Senats bestätigt, ab August 2016 keine Beschäftigung ausgeübt und keine Sozialleistungen erhalten zu haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.