L 6 SB 2314/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SB 266/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2314/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Juli 2020 insoweit aufgehoben, als das SG die Klage im Übrigen abgewiesen hat.

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Juli 2020 wird zurückgewiesen. 

Der Beklagte erstattet der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.

 

 

Tatbestand

Die sowohl von der Klägerin als auch vom Beklagten erhobene Berufung richtet sich gegen die erstinstanzliche Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 31. Januar 2018 und die Abweisung der Klage im Übrigen.

Die Klägerin ist 1957 geboren. Sie hat die Schulausbildung mit der mittleren Reife abgeschlossen, eine Berufsausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolviert sowie berufliche Zusatzqualifikationen in den Bereichen Sekretariat und Buchhaltung erlangt. Sie war bei wechselnden Arbeitgebern als Verkäuferin, Kontoristin, Sekretärin, Buchhaltungskraft, Büroangestellte und Sachbearbeiterin beschäftigt. Neben ihren abhängigen Beschäftigungen hat sie eine Ausbildung zu Modistin gemacht. Derzeit arbeitet sie in Teilzeit (täglich vier Stunden) in der Buchhaltung eines landwirtschaftlichen Trainingszentrums, teilweise ist sie dort auch im betriebseigenen „Obsthof“ im Verkauf tätig. Daneben übt sie eine selbständige Tätigkeit als Hutmacherin aus. Die Klägerin ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder. Sie lebt mit ihrem Ehemann in einem 120 qm großen Eigenheim. Den Haushalt führt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann. In ihrer Freizeit sieht sie fern, macht Gartenarbeit, liest, malt, zeichnet, macht Gymnastik und hört Musik (vgl. ärztlicher Entlassungsbericht der B B1-Klinik, Sachverständigengutachten B2 und S).   

Erstmals beantragte die Klägerin am 22. Oktober 2003 beim zum damaligen Zeitpunkt zuständigen Versorgungsamt K1 die Feststellung des GdB und gab als hierbei zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen Drehschwindelanfälle aufgrund eines Morbus Menière und einen Tinitus an.

Der H berichtete von der erstmaligen Untersuchung der Klägerin im September 2001 nach dem Auftreten von Schwindelanfällen. Zusätzlich habe diese über einen Pfeifton in beiden Ohren und eine Hörminderung geklagt. Bei einem endoskopisch unauffälligen HNO-Befund habe sich tonschwellenaudiometrisch eine geringgradig ausgeprägte Hochtonstörung des linken Ohres und eine gering bis mittelgradig ausgeprägte pancochleäre Schallempfindungsschwerhörigkeit auf der Gegenseite gezeigt. Eine Menière`sche Erkrankung sei bekannt gewesen. Eine Kontrolluntersuchung im Oktober 2001 habe eine Besserung des Hörbefundes rechts ergeben, wobei sich unverändert eine für den Morbus Menière typische Tieftonhörsenke habe darstellen lassen. Erneut habe sich die Klägerin im Juli 2003 vorgestellt, nachdem in England eine heftige Menière-Attacke mit Drehschwindel, Hörminderung und Ohrengeräuschen aufgetreten sei. Tonschwellenaudiometrisch habe sich linksseitig ein normales Gehör und rechts eine mittel- bis hochgradig ausgeprägte pancochleäre Schallempfindungsschwerhörigkeit entsprechend einem prozentualen Hörverlust von über 70 %, sprachaudiometrisch sogar von 90 %, gezeigt. Die letzte Vorstellung der Klägerin sei im Oktober 2003 wegen eines erneuten Menière-Anfalls erfolgt; durch eine Infusionsbehandlung habe eine weitgehende Beschwerdefreiheit erzielt werden können. Ergänzend legte H das Ton- und Sprachaudiogramm von Juli 2003 vor.

Versorgungsärztlich bewertete C eine Schwerhörigkeit rechts, Ohrgeräusche (Tinnitus), Schwindel und eine Menière-Krankheit mit einem Einzel-GdB von 40, der dem Gesamt-GdB entsprach. Aufgrund der zuletzt aufgetretenen Menière-Anfälle könne ein Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen werden, ein höherer Gesamt-GdB ergebe sich nicht, da die Hörstörung allein mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sei.

Das Versorgungsamt K1 stellte daraufhin durch Bescheid vom 20. November 2003 einen GdB von 40 und die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b Einkommenssteuergesetz (EStG) ab dem 22. Oktober 2003 fest.    

Am 26. Juni 2006 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt K1 die Erhöhung des GdB wegen einer Verschlimmerung des Morbus Menière. Sie leide unter Drop Attacks, das Hörvermögen des rechten Ohres habe sich drastisch reduziert und Schwindelanfälle träten circa zweimal monatlich auf. Zusätzlich beantragte sie die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausleichs „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen.

Der S1 berichtete von einer linksseitigen geringgradigen Hochtonschwerhörigkeit mit bis 50 dB und einer rechtsseitigen mittelgradigen pancochleären Schwerhörigkeit mit bis 60 dB. Der Hörverlust für Töne liege rechts bei 77 % und links bei 12 %. Immer häufiger, manchmal täglich, träten sekunden- bis minutenlange starke Schwindelanfälle mit zeitweisen Stürzen auf, Fahrrad- oder Autofahren sei ihr deshalb schon seit längerem nicht mehr möglich. Bei Schwindelanfällen sei auch Gehen ausgeschlossen, die Gehstrecke ohne Schwindelzustände sei verschieden. Ein Morbus Menière mit Untererregbarkeit des rechten Vestibularorgans sei bereits vor Jahren diagnostiziert worden, ob dieser die Ursache für die jetzigen Schwindelbeschwerden sei, könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, sei aber wahrscheinlich. Ergänzend legte S1 das Tonaudiogramm von Mai 2006 und den Bericht des S2, HNO-Klinik am Dkrankenhaus K, über die Vorstellung der Klägerin im November 2004 vor, aus dem sich die Diagnose V. a. Morbus Menière ergab.

C bewertete versorgungsärztlich die Funktionsbehinderungen wie zuvor. Eine Änderung des Ausmaßes der Hörminderung und des Morbus Menière ergebe sich nicht. 

Das zwischenzeitliche zuständige Landratsamt K1 (LRA) lehnte den Neufeststellungsantrag durch Bescheid vom 18. Juli 2006 ab, weil die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des GdB nicht vorgelegen hätten.

Mit dem deswegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands seit über zehn Jahren geltend. Die Schwindelanfälle beeinträchtigen ihr Privatleben massiv; wenn sie gewisse Vorgaben (häufige Ruhepausen, keine übermäßige Geräuschkulisse, wenige Telefonate, eingeschränkte PC-Arbeit, kein übermäßig helles Licht, langsame Arbeitsgeschwindigkeit, anderer Lebens- und Arbeitsrhythmus) nicht einhalte, leide sie fast jede Woche unter einem Anfall. Seit circa zwei Jahren träten zusätzlich sogenannte „Drop Attacks“, unberechenbar auftretende und starke Schwindelanfälle, auf. Gegen die Schwerhörigkeit helfe kein Hörgerät; die Töne, die sie noch wahrnehmen können, hätten sich teilweise völlig verändert.

Der B3 hielt die Bewertung mit einem GdB von 40 für zutreffend. Zusätzlich zu den Schwindel-Anfällen bei Morbus Menière seien untypische, vor allem durch Stress und Belastung ausgelöste Schwindelanfälle attestiert, die jedoch nicht den Morbus Menière-Anfällen gleichgesetzt werden könnten.

Gestützt hierauf wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2006 zurück.

Am 25. April 2017 stellte die Klägerin einen weiteren Verschlimmerungsantrag, den sie mit einer Bewegungsbeeinträchtigung durch die Degeneration der Wirbelsäule (WS) und verengten Nervenkanäle begründete. Ergänzend legte sie den Bericht über die Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule (LWS) vom 16. April 2016 vor, aus dem sich eine linkskonvexe torsionsskoliotische Fehlhaltung lumbal, im Segment Lendenwirbelkörper (LWK)4/5 eine Osteochondrose Typ Modic 2 sowie ein zentral betonter nach links mediolateral ausladender Bandscheibenvorfall ergab, der in Kombination mit einer hypertrophen Spondylarthrose zu einer mittelgradigen Einengung des Spinalkanals führe. Im Weiteren ergab sich aus dem MRT im Segment LWK1 bis LWK4 eine breitbasige Bandscheibenprotrusion sowie eine rechtsführende hypertrophe Spondylarthrose mit konsekutiver relativer Einengung des Spinalkanals und im Segment LWK5/SWK 1 eine erosive Osteochondrose, welche sich linksseitig nach sakral mit breitbasiger Bandscheibenprotrusion mit konsekutiver Teileinengung der Neuroformina L5 erstrecke.

Dem Bericht der St. VKliniken K, Orthopädische Klinik, über die Vorstellung der Klägerin am 1. März 2016 ließen sich als Diagnosen eine Skoliose, ein Morbus Menière, eine arterielle Hypertonie und eine Adipositas entnehmen. Die Klägerin habe über Schmerzen im Bereich der gesamten WS geklagt, die seit zwei Wochen zunehmend seien; im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) vor allem nachts, im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) vor allem bei Belastung. Zudem bestünden Kreuzschmerzen beidseits, rechts mehr als links. Es hätten reizlose Haut- und Weichteilverhältnisse im Bereich des Rückens vorgelegen, kein Klopfschmerz, keine wesentliche Druckdolenz, der Finger-Boden-Abstand (FBA) habe 0 cm betragen. Gezeigt habe sich eine bekannte Skoliose mit Rippenbuckel rechts, ohne Beinlängendifferenz oder neurologische Ausfälle. Die Beweglichkeit der Kniegelenke sei frei bei beidseits stabilem Kapselbandapparat gewesen.

Der S7 berichtete von einer erosiven Osteochondrose L5/S1, einer mehrsegmentalen Protrusion mit Osteochondrose/Spondylarthrose L1 bis 4, einem Nucleusprolaps L4/5 mit Foramen- und Recessusstenose bei Torsionsskoliose der LWS, einer deutlichen Osteochondrose C4/5, einem fixierten Rundrücken 5° Cobb bei Keilwirbelbildung nach juveniler Aufbaustörung Th10 bis 12 sowie einer medialen Gonarthrose mit drittgradigem Knorpelschaden bei Z. n. IM-Teilresektion und älterer Zerrung des vorderen Kreuzbandes. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule (HWS) sei mäßig eingeschränkt gewesen, es habe ein Druckschmerz über den Dornfortsätzen L4 bis S1 bestanden, der Lasège und der Bragard seien negativ gewesen, periphere neurologische Ausfälle hätten nicht vorgelegen. Der Patella- und der Achillessehnenreflex seien links etwas schwächer als rechts gewesen. Die Rotationseinschränkung der Hüftgelenke habe bei der Außen-/Innenrotation rechts 30-0-25°, links 30-0-20° betragen.

Zur Vorlage kam im Weiteren der ärztliche Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 9. August bis zum 13. September 2016 in der B B1-Klinik, der als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode auf dem Boden frühkindlicher Traumata, eine essentielle Hypertonie, nicht näher bezeichnet: ohne Angabe einer hypertensiven Krise, einen Tinnitus aurium rechts, eine Hörminderung beidseits, rechts mehr als links (Hörgeräteversorgung), eine Menière-Krankheit (ED 2004 bei Z. n. mehreren Hörstürzen), eine degenerative Wirbelsäulenerkrankung mit Bandscheibenprotrusionen im HWS- und LWS-Bereich, eine Gonarthrose beidseits bei Z. n. Meniscus-OP beidseits (2008/2009), eine Adipositas Grad I und einen Diabetes mellitus Typ 2 (ED 8/2006), diätisch geführt, aufführte. Die Klägerin habe berichtet, unter psychischen Beschwerden zu leiden, die erstmals vor mehr als zwei Jahren aufgetreten seien und ihre Ursache im Druck ihres Arbeitgebers sowie ihrer eigenen Geschichte hätten. Sie leide unter depressiven Symptomen und Angstsymptomen, ihr Befinden sei zuletzt wegen einer konfliktbehafteten und spannungsreichen Arbeitssituation deutlich schlechter geworden. Ihre Mutter sei unberechenbar und in einer Daueraggression gewesen, ihr Vater überfordert und nie da. Das Verhältnis der Eltern sei durch Dauerfrustation, Streit und Geschrei geprägt gewesen, ebenso das Klima im Elternhaus. Ihre Kindheit sei sehr problematisch und gewalttätig gewesen. Wegen der Menière-Erkrankung dürfe sie kein Auto mehr fahren, sie leide unter wiederkehrenden Schwindelattacken sowie einer Hörminderung und einem Tinnitus rechts. Seit ihrem 14. Lebensjahr sei eine Skoliose bekannt, daneben bestehe eine Arthrose des Kniegelenks. Unauffällig seien der Schulter- und Beckenstand, das Gangbild, die Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenke, die Hände und Finger, die Hüft- und Sprunggelenke sowie die Füße gewesen. Es habe eine skoliotische Fehlhaltung, rechtskonvex im Thorakalbereich, linkskonvex im Lumbalbereich, vorgelegen. Im Schulter-Nacken-Bereich hätten Myogelosen und in den Kniegelenken beidseits eine Krepitation bei einem Z. n. Meniskus-OP beidseits bestanden. Die neurologische Untersuchung habe keine Auffälligkeiten ergeben, im psychischen Befund sei die Klägerin wach, zu allen Qualitäten orientiert, bei leicht geminderter Konzentration gewesen. Sie habe an Grübeln, leichter Antriebsarmut bei Ängstlichkeit, innerer Unruhe, Depressivität, Insuffizienzgefühlen, leichten Schuldgefühlen, Affektlabilität, Störung der Vitalgefühle sowie einer mittelschweren Störung der Selbstwertregulation, Selbstbehauptung und Abgrenzung gelitten.

Zuletzt berichtete der M, Neurologische Gemeinschaftspraxis K, über die einmalige Vorstellung der Klägerin am 12. Dezember 2016, bei der als Diagnosen eine mittelgradige Spinalkanalstenose LWK4/5, ein V. a. Morbus Menière, Drop Attacks, DD: spinal, Tumarkin-Attacken und ein Faszikulationssyndrom erhoben worden seien. Anamnestisch habe die Klägerin von einem Einschlafen okzipital beidseits, vor allem nachts, von einem zeitlich davon unabhängig auftretenden Schwindel, zwei- bis dreimal jährlichen Drop Attacks, von einer Spinalkanalenge der LWS, von nervösen Zuckungen am ganzen Körper (einmal sei ihr rechter Mundwinkel hochgezogen gewesen) und von Faszikulationen an allen Extremitäten berichtet. Sie habe keine Kraft, sei acht Jahre lang gemobbt worden, ihre Gehstrecke sei nicht begrenzt und sie verwende eine nächtliche Beißschiene. Der neurologische Befund habe einen regelrechten Neurostatus, auch von Seiten der Hirnnerven ergeben; es hätten keine Ausfälle der Motorik, der Sensibilität und der Koordination vorgelegen.

Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des S3 seien die Schwerhörigkeit rechts, die Ohrgeräusche (Tinnitus), der Schwindel und die Menière-Krankheit mit einem Einzel-GdB von 40 und die Funktionsbehinderung der WS mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten gewesen. Der Gesamt-GdB habe weiterhin 40 betragen, eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten gewesen.

Mit Bescheid vom 5. September 2017 lehnte das LRA den Neufeststellungsantrag vom 25. April 2017 ab, denn die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des GdB lägen nicht vor.

Am 31. Januar 2018 stellte die Klägerin – vorliegend streitgegenständlich – einen erneuten Neufeststellungsantrag. Die sich verschlimmerten Funktionsbehinderungen seien gewesen eine Taubheit des rechten Ohres, der Tinnitus rechts und das Hörvermögen links.

Die HNO-Ärztin S4berichtete von einer letztmaligen Vorstellung der Klägerin am 17. Januar 2018. Sie leide seit Jahren unter einer Hörminderung und Ohrgeräuschen, in der Vorgeschichte sei rechts ein Morbus Menière festgestellt worden, in den letzten Monaten sei es zu einer deutlichen Hörverschlechterung gekommen. Auf beiden Seiten seien die Gehörgänge reizlos sowie die Trommelfälle intakt und wenig vernarbt gewesen. Das Tonaudiogramm habe links eine leichtgradige hochtonbetonte Schallempfindungsschwerhörigkeit ergeben, rechts hätten pantonal bei circa 50 dB die Reintöne abgeleitet werden können. Im Sprachaudiogramm habe links die Einsilbenverständlichkeit bei 65 dB lediglich 30 % betragen, rechts seien bis 95 dB keine Zahlwörter oder Einsilber verständlich gewesen. Dies habe dem Bild einer funktionellen Ertaubung entsprochen. Eine Vestibulardiagnostik sei bislang nicht durchgeführt worden. Bezüglich der Schwere des Tinnitus habe die Klägerin im Fragebogen nach Goebel und Hiller 33 von möglichen 84 Punkten erreicht, damit gelte der Tinnitus als kompensiert. Aus ärztlicher Sicht sei zu betonen, dass aufgrund der funktionellen Ertaubung rechts und der Ohrgeräusche die Verständlichkeit erheblich reduziert sei, die Klägerin sei deshalb in ihrem psychischen und sozialen Leben deutlich eingeschränkt. Ergänzend legte S4 die ohrenärztliche Verordnung einer Hörhilfe vom 17. Januar 2018 und den Tinnitus-Fragebogen nach Goebel und Hiller vor.

Versorgungsärztlich führte P aus, eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten, der GdB sei unverändert. Bewertet wurde eine Taubheit rechts, eine Schwerhörigkeit links, Ohrgeräusche (Tinnitus), ein Schwindel und eine Menière-Krankheit mit einem Einzel-GdB von 40 und eine Funktionsbehinderung der WS mit einem Einzel-GdB von 10. Hieraus wurde weiterhin ein Gesamt-GdB von 40 gebildet.

Mit Bescheid vom 18. April 2018 lehnte deshalb das LRA den Neufeststellungsantrag ab, weil die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des GdB nicht vorgelegen hätten.

Mit ihrem deswegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass nach den Angaben der S4 der Hörverlust mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet werden müsse. Diese habe ausgeführt, dass sie in ihrem psychischen und sozialen Leben deutlich eingeschränkt sei. Sie können an keinen großen Veranstaltungen im öffentlichen Raum mehr teilnehmen, sei bei ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt, könne die Kombination von Zahlen und Buchstaben nicht mehr verstehen und müsse sich selbst bei privaten Veranstaltungen nach maximal einer Stunde zurückziehen, da sie nur noch einen „Lautbrei“ verstehe und der Tinnitus extrem stark sei. Bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel werde ihr wegen der starken Geräuschkulisse häufig schwindelig. Auch leide sie unter Schwindel, der als Drop Attacks oder als regulärer Schwindel auftrete. Die Drop Attacks – es verziehe ihr hierbei das Bild vor Augen wie wenn es ihr schwarz vor Augen werde – seien wie ein Menière-Anfall, es bestehe hierdurch eine erhöhte Sturzgefahr. Deshalb fahre sie weder Auto noch Fahrrad. Wegen eines Tumors und eines Aneurysmas im Gehirn könne auch kein Cochlearimplantat eingesetzt werden, um die Schwerhörigkeit zu verringern.

Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen Bericht der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F vor. Hieraus ergab sich unter der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, ICD-10 F43.1) eine psychotherapeutische Behandlung der Klägerin seit März 2017. Deren psychischen Beeinträchtigungen hätten sich aufgrund massiver Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend manifestiert. Es bestünden vor allem Selbstwertprobleme, Konzentrationsstörungen und Versagensängste. Die Klägerin stehe unter großer Anspannung, die sich nur schwer lösen lasse, und sei emotional sowie vegetativ übererregt; die Alltagsbewältigung sei erschwert und koste übermäßig viel Kraft. Aufgrund therapeutischer Interventionen habe eine Stabilisierung und eine gewisse Selbstregulationsfähigkeit eintreten können; die Klägerin lasse sich sehr gut auf die Psychotherapie ein. Der durch Hörstürze verursachte Hörverlust erschwere die psychische Stabilisierung, so dass Einbrüche zu erwarten seien, wodurch die Symptome kurzfristig wieder verstärkt auftreten könnten.

G bewerte versorgungsärztlich nunmehr eine Schwerhörigkeit beidseitig, Ohrgeräusche rechtsseitig (Tinnitus) mit einem Einzel-GdB von 30, degenerative Veränderungen der WS, Wirbelsäulenverformungen, Bandscheibenschaden mit einem Einzel-GdB von 20, einen Schwindel mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 und eine seelische Störung mit einem Einzel-GdB von 10. Der Gesamt-GdB betrage 40. Die seelische Störung sei ursprünglich nicht geltend gemacht worden, es liege lediglich der Bericht einer Heilpraktikerin vor, die keine Dipl.-Psych. sei, weshalb ein höherer Einzel-GdB nicht vergeben werden könne. Rechts könne eine Taubheit bei einem Hörverlust im Tonaudiogramm von 56 % nicht tenoriert werden, das Sprachaudiogramm spreche für eine funktionelle Hörstörung. Das Sprachaudiogramm links sei nur eingeschränkt verwertbar, da das 50 %-ige Zahlenverstehen nicht in die mittlere vertikale Achse eingetragen worden sei. Die Hörstörung sei demnach, gemittelt aus dem Ton- und Sprachaudiogramm, mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, der kompensierte Tinnitus erhöhe den GdB nicht. Ein Morbus Menière und ein Schwindel thematisiere die behandelnde HNO-Ärztin nicht, eine Vestibulardiagnostik sei nicht durchgeführt worden. Laut dem behandelnden Neurologen sei der Morbus Menière schon im Jahr 2016 nicht mehr aktuell aufgetreten, im Jahr 2006 sei ein atypischer Menière-Schwindel beschrieben worden, im Jahr 2004 der Verdacht auf ein Morbus Menière geäußert worden, der Tenor sei daher entfernt worden. Der von der Klägerin stattdessen beschriebene Schwindel trete nur kurz bzw. nur bei bestimmten Gelegenheiten auf. Ein Cobb-Winkel für die Torsionsskoliose finde sich nicht, lediglich für die Kyphose, dennoch könne der Einzel-GdB für die Erkrankungen der WS ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB angehoben werden.

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2018 zurück. Über den GdB sei letztmals durch Bescheid vom 20. November 2003 entschieden worden. In den Verhältnissen, die diesem Bescheid zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Der Beklagte stützte sich insofern auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des G.

Mit der am 17. Januar 2019 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eine GdB von mindestens 50 verfolgt.  

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt und bei S ein neurologisch-psychiatrisches Hauptgutachten sowie bei B2 ein HNO-fachärztliches Nebengutachten erhoben.

S4hat von der einmaligen Vorstellung der Klägerin am 1. April 2019 seit dem 31. Januar 2018 berichtet. Sie habe unter einer Taubheit des rechten Ohres bei einer leicht- bis mittelgradigen Schwerhörigkeit des linken Ohres gelitten. Zudem habe die Klägerin Ohrengeräusche, immer wieder auftretende Schwindelgefühle und Gefühle der Ohnmacht beklagt. Die HNO-ärztliche Untersuchung habe wenig vernarbte Trommelfelle bei belüfteten Paukenhöhlen gezeigt. Beim Fragebogen nach Goebel und Hiller habe die Klägerin 33 von 84 Punkten am 17. Januar 2018 erreicht, was einem kompensierten Tinnitus entspreche, der Wert hätte jedoch im Jahr 2016 mit 7 Punkten deutlich niedriger gelegen. Die Ohrgeräusche hätten zugenommen und das Sprachverständnis habe sich verschlechtert. Die Gesundheitsstörungen im HNO-Fachgebiet seien als mittelschwer einzuordnen und mit einem GdB von 40 zu bewerten. Die Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes in Bezug auf die Interpretation der Hörtest könne geteilt werden; der fassbare audiologische Befund beschreibe die geäußerten Beschwerden aber nur unzureichend, eine psychiatrische Diagnose erscheine wahrscheinlich.

S5, Hausärztliche Praxis G1, hat acht Vorstellungen der Klägerin im Januar 2019, zwei im Februar und fünf im März 2019 mitgeteilt. Die Klägerin habe über eine rezidivierende depressive Störung mit Selbstunsicherheit, multiple Ängste, Schlafstörungen, eine Affektinkontinenz und eine Rückzugstendenz geklagt. Sie sei häufig müde, schlapp und resignativ. Es bestünden eine Nackenverspannung, ein Schmerz im Lendenbereich, schwankende Blutdruckwerte, eine Belastungsatemnot, ein Globus und eine Infektneigung mit asthmatischer Komponente. Als Diagnosen habe er eine rezidivierende depressive Störung als mittelschwere Episode, eine arterielle Hypertonie, einen Diabetes mellitus Typ 2, ein Aneurysma des Circulus arteriosus cerebri und ein degeneratives WS-Syndrom gestellt. Das degenerative WS-Syndrom sei als mittelgradig, die arterielle Hypertonie und der Diabetes mellitus als leichtgradig (jeweils Einzel-GdB 10) und die depressive Störung mit Panikattacken als mittelgradig einzustufen. Die seelische Störung habe bereits bestanden, seit sich die Klägerin im Januar 2014 erstmals in ihre hausärztliche Behandlung begeben habe. Zwischenzeitlich habe sich die ausgeprägte hypochondrische, phobische und somatoforme Störung trotz antidepressiver Medikamentation und Gesprächstherapie chronifiziert und tendenziell weiter verschlechtert. Ergänzend hat S5 neben dem bereits im Verwaltungsverfahren zur Akte gelangten ärztlichen Entlassungsbericht der B B1-Klinik den Bericht über die MRT des Neruocraniums nativ und mit Kontrastmittel vom 11. Januar 2018 (vollständig verkalktes Meningeom links frontal mit diskreter fokaler Verlagerung des Hirnparenchyms, 3x3 mm großes Aneurysma im M2-Segment links als Zufallsbefund, regelrechte Darstellung des Kleinhirnbrückenwinkels, des Nervus vestibulocochlearis und des Innenohres, mäßige Schleimhautschwellung am Boden des rechten Sinus maxilliaris, Nasenseptumdevitation nach links und rechtsbetonte Nasenmuschelhyperplasie beidseits) und den Bericht über eine weitere MRT des Neurocraniums nativ und mit Kontrastmittel und einer MR-Angiographie der Hirnarterien vom 21. März 2019 (zwei unveränderte verkalkte Meningeome links frontal und parietal, 3 mm großes Aneurysma im M2-Segment links, kein Nachweis eines weiteren Aneurysmas bei regelrechter Darstellung des Hirnparenchyms) vorgelegt. Aus dem ebenso eingereichten Bericht über die Sprechstunde Neuroradiologie des S6 Klinikums K1 vom 29. Oktober 2018 hat sich die klinische Angabe eines inzidentellen, 3 mm MCA Bifurkationsaneurysma links ergeben; die sehr gut informierte Klägerin habe keine Behandlung gewünscht.

Die H1 hat drei Vorstellungen der Klägerin seit Januar 2018 berichtet. Die ersten beiden Vorstellungen seien wegen Überweisungen zu Laboruntersuchungen und die letzte Vorstellung zur Routineuntersuchung im Rahmen eines DMPs (disease management programs) erfolgt. Sie behandle diese seit September 2015. Bei der Erstvorstellung habe die Klägerin starke Beschwerden durch anfallartig auftretende Schwindelattacken und Übelkeit sowie eine Hörminderung rechts im Rahmen ihrer Erkrankung an Morbus Menière angegeben, außerdem ein Asthma bronchiale, welches sich unter Belastung verstärke. Seit Januar 2016 seien psychosomatische Beschwerden hinzugetreten, die im Rahmen einer reaktiven depressiven Episode zu werten gewesen seien, eine ambulante Psychotherapie sei deswegen in die Wege geleitet worden. Daneben sei im September 2016 ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert worden, eine Ernährungsberatung und -therapie sei deswegen erfolgt. Seit dem Jahr 2017 habe kein Arzt-Patienten-Kontakt mehr bestanden, somit könne aus internistischer Sicht lediglich ein Asthma bronchiale und ein Diabetes melltius Typ 2 bestätigt werden, ohne dass deren Schweregrad hinreichend beurteilt werden könne; aufgrund der zuletzt erhobenen Befunde sei ein geringfügiger Schweregrad zu vermuten.

Die Klägerin hat im Weiteren das Attest der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F vom 28. Juni 2019 zur Gerichtsakte gereicht, das inhaltsgleich mit dem im Widerspruchsverfahren zur Vorlage gekommenen Bericht gewesen ist.

Auf Nachfrage des SG hat die Klägerin mitgeteilt, dass eine Therapie des Aneurysmas und der festgestellten Kalkkörnchen nicht stattfinde, der Diabetes mellitus nicht medikamentös, sondern mit einer Diät behandelt werde und sie sich nicht in der Behandlung eines Facharztes für Psychiatrie, sondern nur bei der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F befinde.

B2 hat in dem aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 11. November 2019 zum Hauptgutachten des S erstellen HNO-fachärztlichen Nebengutachten bei der Klägerin eine Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts, einen Tinnitus rechts und einen Schwindel diagnostiziert, der am ehesten als eine abgelaufene Erkrankung des peripheren Gleichgewichtsorgans rechts im Sinne eines Ausfalls zu interpretieren sei. Die Klägerin werde durch die Hörminderung in ihrer Kommunikationsfähigkeit deutlich beeinträchtigt, auch durch den angegebenen Tinnitus sei die Kommunikationsfähigkeit erschwert. Die Schwindelbeschwerden könnten in ihren Auswirkungen nur bedingt beurteilt werden. Neben der Kommunikationsfähigkeit sei die Belastungsfähigkeit leicht bis mittelschwer beeinträchtigt. Der versorgungärztlichen Einschätzung, wonach die Schwerhörigkeit unter Einschluss des Tinnitus mit einem Einzel-GdB von 30 und die Schwindelbeschwerden mit einem Einzel-GdB von 20 beurteilt werden, sei zuzustimmen.

Die Klägerin habe berichtet, dass sie an Hörstörungen, Schwindelproblemen und Ohrengeräuschen leide. Im Jahr 1984 habe sie einen Hörsturz erlitten, die Schwindelbeschwerden habe sie als Morbus Menière bezeichnet. Eine Hörgeräteversorgung sei eingeleitet worden, die aktuelle Nachfolgeversorgung sei letztmals im Jahr 2017 erfolgt. Die Hörminderung sei rechts stärker als links ausgeprägt. Rechtsseitig bestehe auch ein Ohrgeräusch, das sich aus drei verschiedenen Tönen zusammensetze und sehr störend sei; eine eigentliche Behandlung des Ohrgeräusches sei bislang nicht erfolgt. Hinsichtlich der Schwindelbeschwerden bestehe ein seifiges Gefühl, es käme zu Drop Attacks, bei denen sie nicht wisse, ob es ihr schwarz vor Augen werde, und bei denen eine absolute Handlungsunfähigkeit für wenige Sekunden bestehe. 

Die Gehörgänge seien beidseits weit, von reizloser Haut ausgekleidet, ohne Stufenbildung oder Anhalt von Verletzungen gewesen; die Trommelfelle seien reizlos und intakt ohne Anzeichen von Einziehungen und in normaler Stellung gewesen. Aus dem Tonschwellenaudiogramm habe sich ein Hörverlust für Töne rechts von 85 % und links von 0 % und bei der Sprachaudiometrie ein Hörverlust von rechts 90 % und links 0 % ergeben. Berechnet nach dem sogenannten gewichteten Gesamtwortverstehen habe der Hörverlust demnach 20 % betragen, woraus sich ein Einzel-GdB von 30 ergebe. Bei der Tinnitus-Analyse sei rechtsseitig bei 750 Hz ein Ohrgeräusch mit 75dB als vertäubt angeben worden und ein weiteres Ohrgeräusch bei 150 Hz mit 85 dB als vertäubt. Nach dem Tinnitus-Fragebogen nach Goebel und Hiller hätten sich 32 Punkte und damit ein mittelgradiger Tinnitusschweregrad ergeben. Der Tinnitus könne mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen einhergehen, der Einzel-GdB überschreite 20 nicht und sei integrativ mit der Hörstörung zu bewerten. Bei der Gleichgewichtsprüfung habe sich kein Spontan- oder Provokationsnystagmus ergeben, bei der Lage- und Lagerungsprüfung sei ein pathologischer Nystagmus nicht zu erkennen gewesen. Es sei eine komplette kalorische Prüfung der peripheren Gleichgewichtsorgane durchgeführt worden, der vorliegende Befund habe für eine abgelaufene Neuronitis vestibulatris gesprochen, wie man es z. B. beim Ausfall des Gleichgewichtsorgans sehen könne. Die durchgeführten Untersuchungen hätten objektiv einen Ausfall des rechten Gleichgewichtsorgans gezeigt, ob es sich hierbei um eine Sonderform des Morbus Menière im Sinne der Erkrankung mit sogenannten Drop Attacks handele, sei aus dem Verlauf und den geschilderten Symptomen eigentlich nicht zu erschließen. Da die angegebenen Schwindelattacken maximal 10 Minuten lang anhielten und die Drop Attacks nur eine Sekunde, seien die diagnostischen Kriterien eines Morbus Menière nicht erfüllt, die Schwindelbeschwerden seien aber analog zur Menière Erkrankung mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.

S hat nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 13. März 2020 unter Berücksichtigung des HNO-fachärztlichen Gutachtens des B2 ein neurologisch-psychiatrisches Hauptgutachten erstellt. Die Klägerin habe unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61.0), Angst und depressiver Störung, gemischt (ICD-10 F42.1), einem diätisch eingestellten Diabetes mellitus, einer Adipositas Grad I, einem Bluthochdruckleiden, medikamentös behandelt ohne relevante Folgeerkrankungen, und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates ohne sensomotorische Ausfälle gelitten. Die seelischen Störungen seien mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, der Gesamt-GdB betrage demnach unter Berücksichtigung der gutachterlichen Feststellungen des B2 50 seit Antragstellung.

Die Klägerin habe angegeben, sie habe noch ab und zu einen Schwindel bzw. Schwindelattacken und dürfe deshalb kein Auto oder Fahrrad fahren. Früher habe sie einen Morbus Menière gehabt, der Ursache für den Schwindel sei. Zur gutachterlichen Untersuchung habe die Klägerin zahlreiche Aufzeichnungen mitgebracht, aus denen sich erhebliche Belastungen in ihrer Kindheit und Jugend, vor allem durch das Verhalten ihrer Mutter ergeben hätten. Daneben sei sie belastet gewesen durch die Drogenproblematik ihrer jüngeren Schwester und der Alkoholproblematik ihres jüngeren Bruders, vor allem früher hätten auch Probleme in der Ehe bestanden, ebenso sei das Verhältnis zu ihren beiden Kindern problematisch. Angegeben habe die Klägerin, dass sie ein Trauma erlitten habe und an der gesamten WS Beschwerden bekomme, bei Angst träten Schmerzen in der HWS und im hinteren Kopfbereich auf. Nach längerem Sitzen verstärkten sich die Beschwerden in der BWS, zusätzlich imponierten Schmerzen in der LWS. Bei ihrer Arbeitstätigkeit sei sie wegen ihrer Hörstörung stark durch Geräusche (Radiohören der Kollegin, Publikumsverkehr, Dauerselbstgespräche der Kollegin) belastet. Des Weiteren stehe sie immer unter Spannung, ob sie alles richtig mache. Psychisch sei sie stark belastet, habe Ängste, sei dauerschlapp und geschafft. Wegen der Schwerhörigkeit werde es ihr im Dunkel schwindelig; zeitweilig träten noch Schwindelattacken wegen des Morbus Menière auf, sie könne dann nicht richtig sehen. Zum Tagesablauf habe die Klägerin ausgeführt, bereits um 5.30 Uhr aufzustehen, denn sie könne wegen den Beschwerden an der WS nicht richtig liegen, und nach Köperpflege und Frühstück ihren Ehemann zu wecken. Im Winter bringe sie ihr Ehemann zur Arbeitsstelle, im Sommer lege sie den Weg zur Arbeit zu Fuß (30 bis 45 Minuten) zurück. Die Arbeitszeit sei von 8 bis 12 Uhr, danach nehme sie zu Hause eine Vesper zu sich, halte für eineinhalb Stunden Mittagsschlaf und trinke dann gemeinsam mit ihrem Ehemann Kaffee. Die Hutmacherei betreibe sie meist am Wochenende. Den Haushalt mache sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, im Sommer gehe sie gegebenenfalls mit diesem Spazieren. Weitere soziale Kontakte habe sie nicht. Abends spiele sie Didgeridoo und Maultrommel, zeichne mit dem Bleistift oder schaue im Fernsehen anspruchsvolle Sendungen. Gegen 23.30 bis 24 Uhr gehe sie zu Bett und lese beim Einschlafen noch Fachbücher. Der Nachtschlaf sei streckenweise erholsam, der Mittagsschlaf erholsamer. Sie höre leise Musik, lese gute Bücher, interessiere sich für Kunst, male und zeichne, stricke und nähe, interessiere sich für Pflanzen, habe eine Kräuterwiese, es mache ihr Freude zu gärtnern, sie gehe gerne spazieren. Ihre Stimmungslage sei ausgeglichen, sie könne sich im Alltag über viele Dinge freuen, eine tageszeitliche Abhängigkeit der Stimmungslage bestehe nicht. Zum Begutachtungszeitpunkt habe sich die Klägerin nicht in ambulanter nervenfachärztlicher oder psychiatrischer Behandlung befunden; sie sei lediglich alle sechs Wochen bei der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F in Therapie. Regelmäßig nehme sie ein Bluthochdruckmedikament und ein naturheilkundliches Beruhigungspräparat ein.   

Der körperliche Allgemeinzustand sei gut gewesen, das Hörvermögen mit Hörgeräten beidseits korrigiert, rechts habe die Klägerin eine Taubheit angegeben, der Einbeinstand sei beidseits etwas unsicher gewesen, alle Gelenke der oberen und unteren Gliedmaßen seien aktiv beweglich gewesen, der FBA habe circa 10 cm betragen. Eine Störung des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration habe nicht vorgelegen; der Antrieb sei angemessen gewesen. Die Grundstimmung wäre über weite Strecken ausgeglichen gewesen bei auffallend ausgeprägter Affektlabilität mit einer Weinerlichkeit an der Grenze zur Affektdurchlässigkeit, es hätten sich Hinweise auf die Ausbildung somatoformer Beschwerden ergeben. Die Klägerin habe sowohl ein somatisches als auch ein seelisches Krankheitsgefühl, es hätten sich deutliche Hinweise für selbstunsichere, negativistische und auch emotional-instabile Persönlichkeitszüge im Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung gezeigt. Der Ausprägungsgrad der seelischen Störung sei als mittel bis schwer einzustufen, es bestünden Einschränkungen in der Teilhabe am alltäglichen Leben in der Gesellschaft, und es lägen psychische Anpassungsschwierigkeiten (Probleme im Kontaktverhalten zu anderen Menschen) vor. Eingedenk der Tatsache, dass die Klägerin trotz der bei ihr ohne Zweifel vorliegenden psychiatrischen Erkrankungen in der Lage sei, am alltäglichen Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, der GdB aber nach seiner Konzeption auf die Teilhabebeeinträchtigung und nicht auf den Schweregrad der Behinderung bezogen sei, sei ein Einzel-GdB von 30 angemessen.

Der Beklagte hat sich den gutachterlichen Ausführungen des S nicht anschließen können, da sich die Klägerin nicht in einer regelmäßigen neurologischen, nervenärztlichen oder psychiatrischen Behandlung befinde, womit ein Einzel-GdB von 30 nicht begründbar sei. Auch erfolge keine Psychopharmakatherapie. Ergänzend hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme des B4 vorgelegt, wonach der Gesamt-GdB auch weiterhin 40 unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 30 (Schwerhörigkeit beidseitig, Ohrgeräusche rechtsseitig [Tinnitus], Schwindel), eines Einzel-GdB von 20 (seelische Störung) und eines weiteren Einzel-GdB von 20 (degenerative Veränderungen der WS, Wirbelsäulenverformungen, Bandscheibenschaden) betrage. Die Gesundheitsstörungen auf HNO-ärztlichem Gebiet seien mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Unter Auswertung des von B2 erhobenen Sprachaudiogramms ergebe sich für die Schwerhörigkeit ein Einzel-GdB von 20, für den Schwindel ein Einzel-GdB von 10 bis 20 und für den Tinnitus ein Einzel-GdB von 0 bis 10. Der Bewertung der seelischen Störung mit einem Einzel-GdB von 30, wie gutachterlich von S vertreten worden sei, könne sich nicht angeschlossen werden. Eine stärker behindernde Störung liege aufgrund des Tagesablaufs der Klägerin, der von ihr ausgeübten Hobbys, der nicht durchgeführten Psychopharmakatherapie, der bislang nicht notwendigen akut stationären psychiatrischen oder psychotherapeutischen Aufenthalte und des psychischen Untersuchungsbefunds des S nicht vor.

Mit Verfügung vom 10. Juni 2020 (ausgefertigt am 15. Juni 2020) hat das SG die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und darauf hingewiesen, dass der Beklagte bislang nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des G die Schwerhörigkeit mit Ohrengeräuschen mit einem Einzel-GdB von 30 und die Schwindelproblematik mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet habe. Unter Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens des B2 dürfe für das „Funktionsgebiet „Hör- und Gleichgewichtsorgan““ ein Einzel-GdB von 40 angemessen sein. Entgegen den Ausführungen des S dürfte der Einzel-GdB im „Funktionsgebiet „Nervensystem und Psyche““ hingegen lediglich 20 betragen. In Gesamtschau dürfe sich demnach ein Gesamt-GdB von 50 ergeben.

Das SG hat den Beklagten durch Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2020 verpflichtet, unter Abänderung des Bescheides vom 18. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2018 bei der Klägerin einen GdB von 50 ab dem 31. Januar 2018 festzustellen, im Übrigen die Klage abgewiesen und den Beklagten zur Erstattung der Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin verurteilt. Es ist im „Funktionsgebiet „Hör- und Gleichgewichtsorgan““ von einem Einzel-GdB von 40 ausgegangen und hat sich insofern auf das Sachverständigengutachten des B2 gestützt. Im „Funktionsgebiet „Nervensystem und Psyche““ betrage der Einzel-GdB 20. Entgegen den gutachterlichen Ausführungen des S liege in Hinblick auf den geregelten Tagesablauf der Klägerin, dem von diesem erhobenen unauffälligen psychischen Befund, der nicht stattfindenden psychiatrischen und psychologischen Behandlung der Klägerin, der Nichteinnahme von Psychopharmaka und der Sitzungen bei der Heilpraktikerin in einem Abstand von lediglich alle sechs Wochen keine stärker behindernde Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, die mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten wäre. Im Funktionssystem „Rumpf“ betrage der Einzel-GdB ebenfalls 20. Bei der Klägerin seien zwar zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen, die funktionellen Auswirkungen seien jedoch als leicht einzustufen, weshalb der Einzel-GdB nicht mehr als 20 betragen könne. Zusätzlich sei nach den Ausführungen des S der Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Bei der Bildung des Gesamt-GdB von 50 sei zu berücksichtigen gewesen, dass sich die Gesundheitsstörungen im „Funktionssystem „Nervensystem und Psyche““ nachteilig auf das Tinnitusleiden auswirkten. Im Übrigen sei die Anerkennung eines Gesamt-GdB von 40 für die Leiden der Klägerin im Vergleich zu den Fällen, in denen eine Funktionsbehinderung mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet werde (z. B. beidseitige Bewegungseinschränkung der Kniegelenke mittleren Grades), nicht mehr sachgerecht.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 17. Juli 2020 gegenüber dem SG nochmals ausgeführt, dass ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht zu begründen sei. Er hat auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des W verwiesen, wonach die Schwerhörigkeit beidseits mit einem Einzel-GdB von 20 (15), der Schwindel mit einem Einzel-GdB von 20, die seelische Störung und Ohrengeräusche rechtsseitig (Tinnitus) mit einem Einzel-GdB von 20 und die degenerativen Veränderungen der WS, die Wirbelsäulenverformung und der Bandscheibenschaden mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Nach dem HNO-fachärztlichen Gutachten des B2 betrage der Einzel-GdB für die Schwerhörigkeit 15, er sei formell auf 20 aufzurunden. Der Tinnitus sei nach den hiermit verbundenen psychovegetativen Begleiterscheinungen zu beurteilen und sollte deshalb unter den Einzel-GdB für die seelische Störung subsumiert werden, eine Erhöhung dieses Einzel-GdB sei wegen der lediglich geringgradigen Auswirkungen des Tinnitus nicht vorzunehmen.

Die Klägerin hat am 27. Juli 2020 beantragt, den Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2020 von Amts wegen zu berichtigen. Das SG habe die Klage im Übrigen abgewiesen, obwohl sie nicht mehr als die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 beantragt habe, was das SG ihr auch zugesprochen habe. Dementsprechend sei auch der Kostentenor zu berichtigen.  

Das SG hat durch Beschluss vom 31. Juli 2020 die Berichtigung des Gerichtsbescheides vom 17. Juli 2020 abgelehnt. Eine Unrichtigkeit des Gerichtsbescheides liege nicht vor. Die Klägerin habe beantragt, mindestens einen GdB von 50 festzustellen; die Klage habe damit nur teilweise Erfolg gehabt, so dass sie im Übrigen habe abgewiesen werden müssen. Nach dem Verhältnis zwischen Obsiegen und Unterliegen sei dann auch die Kostenentscheidung getroffen worden.           

Am 27. Juli 2020 hat der Beklagte und am 19. August 2020 hat die Klägerin gegen den ihnen jeweils am 22. Juli 2020 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Zur Berufungsbegründung bekräftigt der Beklagte seine Ausführungen aus seiner zuletzt am 17. Juli 2020 gegenüber dem SG abgegebenen Stellungnahme.   

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Juli 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt – sinngemäß –,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Juli 2020 insoweit aufzuheben, als das SG die Klage im Übrigen abgewiesen hat, und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin führt aus, das SG habe zwar zutreffend den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 verpflichtet; sie habe aber auch nicht mehr beantragt gehabt, so dass für eine Abweisung der Klage im Übrigen kein Raum gewesen sei. Beantragt sei gewesen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen, damit habe sie nicht weniger als beantragt zugesprochen bekommen. Dementsprechend sei auch die nicht mit der Berufung isoliert anfechtbare Kostenentscheidung des SG zu korrigieren. Wenn die Verwendung des Begriffs „mindestens“ missverständlich gewesen sei, hätte das SG auf eine sachgerechte Antragstellung hinwirken müssen. In der Sache bestehe nach dem überzeugenden Sachverständigengutachten des S entgegen der Ansicht des SG darüber hinaus eine stärker behindernde Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die nicht mit einem Einzel-GdB von 20, sondern von 30 zu bewerten sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) von der Klägerin und dem Beklagten eingelegten Berufungen, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), sind statthaft (§§ 143144 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Die Berufung der Klägerin ist begründet, die des Beklagten hingegen unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 17. Juli 2020, mit dem das SG auf die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Klägerin den Beklagten sinngemäß unter Aufhebung des Bescheides vom 18. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2018 (§ 95 SGG) verpflichtet hat, unter Abänderung des Bescheides vom 20. November 2003 ab dem 31. Januar 2018 einen GdB von 50 festzustellen, und die Klage im Übrigen abgewiesen hat. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 [124]; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34, § 55 Rz. 21), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Der Zulässigkeit der Berufung der Klägerin steht nicht entgegen, dass das SG ihrem Klageantrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von mindestens 50 durch den Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2020 insofern entsprochen hat, als es den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 verpflichtet hat. Denn die Klägerin ist durch die Abweisung der Klage im Übrigen formell beschwert. Ein sachliches Bedürfnis für das Einlegen eines Rechtsmittels und damit sowohl eine Beschwer als auch ein Rechtsschutzbedürfnis liegt darüber hinaus auch dann vor, wenn die eigentliche Beschwer – wie vorliegend – von der den Rechtsmittelkläger belastenden Kostenentscheidung ausgeht, selbst wenn das Rechtsmittel seinerseits nicht ausdrücklich auf die Kostenentscheidung beschränkt sein darf (§ 144 Abs. 4 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 – B 14 AS 35/12 R –, juris, Rz. 10 m. w. N.; Keller, a. a. O., Vorb. Rechtsmittel allgemein Rz. 6). 

Die Unbegründetheit der Berufung des Beklagten folgt aus der Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 18. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zu Unrecht hat es der Beklagte auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 31. Januar 2018 abgelehnt unter Abänderung des Bescheides vom 20. November 2003, durch den ab dem 22. Oktober 2003 ein GdB von 40 festgestellt war, einen GdB von 50 festzustellen. Zu Recht hat demnach das SG den Beklagten durch Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2020 unter Aufhebung des Bescheides vom 18. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2018 sinngemäß verpflichtet, unter Abänderung des Bescheides vom 20. November 2003 einen GdB von 50 ab dem 31. Januar 2018 festzustellen.   

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung ist auszugehen, wenn aus dieser eine Veränderung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend insoweit erfüllt, als dass auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 31. Januar 2018 ein GdB von 50 festzustellen war. Der Beklagte hat durch den maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 20. November 2003 ab dem 22. Oktober 2003 den GdB mit 40 festgestellt. Maßgeblich hierfür waren die in dieser Höhe mit einem GdB bewerteten Funktionsbehinderungen Schwerhörigkeit rechts, Ohrgeräusche (Tinnitus), Schwindel und Menière-Krankheit. Zu den dieser Feststellung eines GdB von 40 zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen sind weitere Gesundheitsstörungen hinzugetreten (seelische Störung, degenerative Veränderungen der WS, Wirbelsäulenverformungen, Bandscheibenschaden), so dass zur Überzeugung des Senats – wie auch des SG – ab dem 31. Januar 2018 der GdB 50 beträgt und demnach die Schwerbehinderteneigenschaft vorliegt. 

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung ­­– VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2, c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2, e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3, a).

Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3, c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d).

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen der Klägerin ab dem 31. Januar 2018 einen GdB von 50 und nicht – wie bislang durch den maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 20. November 2003 festgestellt – einen GdB von 40 rechtfertigen.

Die führenden Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin bestehen im Funktionssystem „Ohren“, die zur Überzeugung des Senats mit einem Einzel-GdB von 30 und nicht wie von B2 gutachterlich vertreten mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sind. Wie der Senat dem Sachverständigengutachten des B2 entnimmt leidet die Klägerin in diesem Funktionssystem an einer Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts und einem Schwindel, der am ehesten als eine abgelaufene Erkrankung des peripheren Gleichgewichtsorgans im Sinne eines Ausfalls zu interpretieren ist. Zusätzlich ist in diesem Funktionssystem der ebenso von B2 festgestellte Tinnitus rechts (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 2017 – L 6 SB 4936/15 –, juris, Rz. 44) zu berücksichtigen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 5 ist maßgebend für die Bewertung des GdB bei Hörstörungen die Herabsetzung des Sprachgehörs, deren Umfang durch Prüfung ohne Hörhilfen zu bestimmen ist. Der Beurteilung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie empfohlene Tabelle (VG, Teil B, Nummer 5.2.4, Tabelle D) zugrunde zu legen. Nach Durchführung eines Ton- und Sprachaudiogramms ist der Prozentsatz des Hörverlustes aus entsprechenden Tabellen abzuleiten. Die in der GdB-Tabelle enthaltenen Werte zur Schwerhörigkeit berücksichtigen die Möglichkeit eines Teilausgleichs durch Hörhilfen mit. Sind mit der Hörstörung andere Erscheinungen verbunden, z. B. Ohrgeräusche, Gleichgewichtsstörungen, Artikulationsstörungen oder außergewöhnliche psychoreaktive Störungen, so kann der GdB entsprechend höher bewertet werden. 

B2 hat gutachterlich dargelegt, das bei der Klägerin links eine Normalhörigkeit besteht und rechts eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt. Im Tonschwellenaudiogramm hat der Hörverlust für Töne rechts 85 % und links 0 % und im Sprachaudiogramm rechts 90 % und links 0 % betragen. Insofern ergibt sich nach den VG, Teil B, Nr. 5.2.4, Tabelle D ein Einzel-GdB von 15. Nicht nachvollziehbar für den Senat ist, wenn B2 unter Berücksichtigung eines gewichteten Gesamtwortverstehens, das lediglich nach den VG, Teil B, Nr. 5.2.1, Tabelle A bei der Ermittlung des prozentualen Hörverlustes aus den Werten der sprachaudiometrischen Untersuchung (nach Boenninghaus und Röser 1973) zu berücksichtigen ist, die Schwerhörigkeit mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet.

Den im Weiteren im Funktionssystem „Ohren“ zu berücksichtigenden Schwindel bewertet der Senat mit einem Einzel-GdB von 20. Dem Sachverständigengutachten des B2 entnimmt er, dass ein Ausfall des rechten Gleichgewichtsorgans vorliegt; einen Morbus Menière hat B2 hingegen nicht sicher feststellen können. Die Klägerin leidet deshalb unter Schwindelbeschwerden, die zu seinem „seifigen“ Gefühl führen. Auch kommt es vereinzelt zu sogenannten Drop Attacks, bei denen es der Klägerin schwarz vor Augen werden kann und sie für wenige Sekunden absolut handlungsunfähig ist. Nach den Angaben der Klägerin gegenüber S leidet sie derzeit noch ab und zu unter Schwindelbeschwerden und kann deshalb kein Auto oder Fahrrad fahren. Der Senat hält aufgrund der sich aus dem Schwindel ergebenden Funktionsstörungen die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 für gerechtfertigt. Eine entsprechende Bewertung hat auch B2 vorgenommen, indem er den Schwindel nach den VG, Teil B, Nr. 5.3 entsprechend der Menière-Krankheit mit einem Einzel-GdB in dieser Höhe (häufige Anfälle, je nach Schweregrad Einzel-GdB 20 bis 40) nachvollziehbar bewertet hat. Der Senat zieht zur Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 im Weiteren die Bewertung von Gleichgewichtsstörungen heran, die nach den VG, Teil B, Nr. 5.3 bei leichten Folgen (leichte Unsicherheit, geringe Schwindelerscheinungen wie Schwanken, Stolpern, Ausfallschritte bei alltäglichen Belastungen, stärkere Unsicherheit und Schwindelerscheinungen bei höheren Belastungen, leichte Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen erst auf höherer Belastungsstufe) ebenso mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind. Auch der Beklagte ist nach der zuletzt im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme des W von einer Bewertung des Schwindels mit einem Einzel-GdB in dieser Höhe ausgegangen. 

Zuletzt sind die im Funktionssystem „Ohren“ bestehenden Ohrengeräusche (Tinnitus) zur Überzeugung des Senats mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Senat geht demnach nach den VG, Teil B, Nr. 5.3 von Ohrengeräuschen (Tinnitus) mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen aus. Er stützt sich diesbezüglich auf die gutachterlichen Ausführungen des B2, der die Ohrengeräusche mit einem Einzel-GdB in dieser Höhe schlüssig und nachvollziehbar bewertet hat. Die Klägerin hat gegenüber B2 die Ohrengeräusche, die sich aus drei Tönen zusammensetzen, als sehr störend beschrieben und angegeben, dass diese auch Auswirkungen auf das Hörvermögen haben. Dem im Verwaltungsverfahren zur Vorlage gekommenen Bericht der S4, den der Senat im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet, entnimmt der Senat im Weiteren, dass die Klägerin wegen der Ohrengeräusche in ihrem physischen und sozialen Leben deutlich eingeschränkt ist. Vor diesem Hintergrund ist es für den Senat nicht überzeugend, wenn S4den Tinnitus als kompensiert beschreibt. Auch gegenüber S hat die Klägerin von einer starken psychischen Belastung bei der von ihr ausgeübten Beschäftigung aufgrund des Tinnitus durch die Geräuschkulisse (Radiohören der Kollegin, Dauerselbstgespräche der Kollegin, Publikumsverkehr) berichtet. Darüber hinaus sind die Ohrengeräusche auch mitursächlich für den gegenüber S von der Klägerin beschriebenen sozialen Rückzug; sie pflegt im privaten Umfeld außer zu ihrem Ehemann keine sozialen Kontakte. Anschaulich hat die Klägerin im Widerspruchsverfahren insofern ausgeführt, dass sie sich zum damaligen Zeitpunkt selbst bei privaten Veranstaltungen nach maximal einer Stunde aufgrund des dann extrem stark ausgeprägten Tinnitus zurückziehen musste. Selbst wenn man wie zuletzt der Beklagte nach der oben genannten versorgungsärztlichen Stellungnahme des W den Tinnitus nicht im Funktionssystem „Ohren“, sondern im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ berücksichtigt, ist für den Senat nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die sich aus dem Tinnitus ergebenden funktionellen Einschränkungen keinen erhöhenden Einfluss auf den diesbezüglichen Einzel-GdB haben sollen.

Im Funktionssystem „Ohren“ beträgt der Einzel-GdB demnach insgesamt ausgehend von einem Einzel-GdB von 15 für die Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts, von 20 für den Schwindel und weiteren 20 für die Ohrengeräusche (Tinnitus) 30.

Die im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bei der Klägerin bestehende Funktionsstörungen sind zur Überzeugung des Senats mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Die Klägerin leidet in diesem Funktionssystem, wie der Senat dem Sachverständigengutachten des S entnimmt, unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61.0) und unter Angst und depressiver Störung, gemischt (ICD-10 F42.1). Eine von der psychotherapeutischen Heilpraktikerin Funk diagnostizierte PTBS konnte S hingegen nicht feststellen. Auch aus den weiteren ärztlichen Unterlagen, insbesondere dem ärztlichen Entlassungsbericht der B B1-Klinik, ergibt sich eine entsprechende Diagnose nicht.

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 bedingen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach ICD-10 F30.- oder F40.- handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das BSG in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztliche Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Der Senat hält die Bewertung der im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bei der Klägerin bestehenden Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 20 – wie auch das SG –für angemessen. Er geht demnach vom Vorliegen einer leichteren psychovegetativen oder psychischen Störung aus, die mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20 zu bewerteten ist, und schöpft den insofern bestehenden Bewertungsspielraum aus. Eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen), die mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten wäre, liegt hingegen nicht vor. Der insoweit abweichenden Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 durch S konnte sich der Senat demnach nicht anschließen.

Hiergegen spricht bereits, dass die Funktionsstörungen der Klägerin nicht fachärztlich behandelt werden und auch eine medikamentöse Behandlung nicht erfolgt. Die Klägerin ist lediglich alle sechs Wochen bei der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F in Behandlung und nimmt regelmäßig ein naturheilkundliches Beruhigungspräparat ein. Auch wurde bislang weder eine stationäre Behandlung noch eine ambulante Psychotherapie durchgeführt. Bei einer nicht oder nur in geringem Umfang erfolgenden fachärztlichen Behandlung einer psychischen Erkrankung kann aber in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Im Weiteren spricht gegen das Vorliegen einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der von der Klägerin im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung bei S berichtete Tagesablauf, der eine hinreichende Fähigkeit zur Strukturierung erkennen lässt, und demnach gegen das Vorliegen einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit spricht. So steht die Klägerin regelmäßig um 5.30 Uhr auf, weckt nach der Köperpflege und dem Frühstück ihren Ehemann und arbeitet an Wochentagen von 8 bis 12 Uhr in der Buchhaltung und auch im Verkauf eines landwirtschaftlichen Trainingszentrums. Danach nimmt sie zu Hause eine Vesper zu sich, hält für eineinhalb Stunden Mittagsschlaf und trinkt dann gemeinsam mit ihrem Ehemann Kaffee. An den Wochenenden ist sie darüber hinaus als Hutmacherei selbstständig tätig; es ist ihr mithin möglich, neben der von ihr ausgeübten Beschäftigung einer weiteren Erwerbstätigkeit nachzugehen, was gegen das Vorliegen einer stärker behindernden Störung spricht. Den Haushalt macht sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, mit dem sie im Sommer auch spazieren geht. Abends spielt sie Didgeridoo und Maultrommel, macht Bleistiftzeichnungen oder schaut im Fernsehen anspruchsvolle Sendungen. Gegen 23.30 bis 24 Uhr gehe sie zu Bett und liest beim Einschlafen noch Fachbücher. Sie hört gerne leise Musik, liest gute Bücher, interessiere sich für Kunst, malt und zeichnet, strickt und näht, interessiert sich für Pflanzen, hat eine Kräuterwiese, beschäftigt sich gerne im Garten und gehe gerne spazieren. Insofern sprechen auch die vielfältigen Freizeitaktivitäten der Klägerin gegen eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, wie sie für eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 erforderlich wäre.

Darüber hinaus hat die Klägerin gegenüber S ihre Stimmungslage als ausgeglichen beschrieben. Sie kann sich im Alltag über viele Dinge freuen und eine tageszeitliche Abhängigkeit der Stimmungslage besteht nicht, was zusätzlich gegen eine stärker behindernde Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit spricht.

Bei der Klägerin bestehen demnach die von S beschriebene auffallend ausgeprägte Affektlabilität mit Weinerlichkeit und deutlichen Hinweisen für selbstunsichere, negativistische und auch emotional instabile Persönlichkeitszüge im Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung. Die Ursachen hierfür liegen nach den insofern schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des S in den lebensgeschichtlich belastenden Umständen der Klägerin, die in der Kindheit und Jugend durch das gestörte Verhältnis zur Mutter und Vater, dem Beziehungskonflikt zwischen diesen, der Drogenproblematik der jüngeren Schwester und der Alkoholproblematik des jüngeren Bruders belastet war. Zusätzlich haben vor allem früher Beziehungsprobleme zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann bestanden und das Verhältnis der Klägerin zu ihren Kindern ist problematisch. Aus dem urkundsbeweislich verwerteten, im Widerspruchsverfahren vorgelegten Attest der psychotherapeutischen Heilpraktikerin F ergibt sich für den Senat im Weiteren, dass die Alltagsbewältigung der Klägerin erschwert ist und sie übermäßig viel Kraft kostet. S5, Hausärztliche Praxis G1, hat als sachverständiger Zeuge ebenso von einer Affektinkontinenz und Rückzugstendenzen berichtet. Diese Auswirkungen der Funktionsbehinderungen im Funktionsgebiet „Gehirn einschließlich Psyche“ sind zur Überzeugung des Senats als leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.     

Im Funktionssystem „Rumpf“ sind die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbehinderungen ebenso mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Senat entnimmt dem urkundsbeweislich verwertenden ärztlichen Entlassungsbericht der B B1-Klinik, dass die Klägerin an einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung mit Bandscheibenprotrusionen im HWS- und LWS-Bereich leidet. Entsprechende Befunde ergeben sich auch aus der MRT der LWS vom 16. April 2016 sowie den Berichten der St. VKliniken K1, Orthopädische Klinik, des S7 und des M, die der Senat ebenso im Wege des Urkundsbeweises verwertet.    

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicher Weise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der WS (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit Bild gebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der WS (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen.

Der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) ergibt sich nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Einzel-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der WS; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen – oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose – sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Zur Überzeugung des Senats wird entsprechend diesen Vorgaben ein Einzel-GdB von mehr als 20 im Funktionssystem „Rumpf“ nicht erreicht. Aus den vorliegenden ärztlichen Berichten und Meinungsäußerungen ergeben sich keine schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die mit einem Einzel-GdB von 30 oder höher zu bewerten wären. S7 hat von einer mäßig eingeschränkten Beweglichkeit der HWS berichtet. Auch aus der im erstinstanzlichen Verfahren bei S5, Hausärztliche Praxis G1, eingeholten sachverständigen Zeugenaussage ergibt sich ein mittlerer Schweregrad des WS-Syndroms. Den FBA hat S mit 10 cm angegeben, woraus sich ebenso keine weitergehenden funktionellen Einschränkungen der WS ableiten lassen. Auch M, Neurologische Gemeinschaftspraxis K1, hat infolge des WS-Syndroms keine Ausfälle der Motorik, der Sensibilität oder der Koordination feststellen können. Zudem ist die Klägerin wegen ihrer Beschwerden an der WS nicht in regelmäßiger orthopädischer und/oder neurologischer Behandlung; eine medikamentöse, physiotherapeutische oder krankengymnastische Behandlung findet nicht statt. Letztlich hat die Klägerin weder im Klage- noch im Berufungsverfahren eine höhere Bewertung des im Funktionssystem „Rumpf“ vom Beklagten angenommenen Einzel-GdB von 20 geltend gemacht.  

Im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ ist nach den VG, Teil B, Nr. 9.3 im Weiteren ein Bluthochdruck, der nach den gutachterlichen Feststellungen des S bislang zu keinen Folgeerkrankungen geführt hat, mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen. In dieser Höhe hat auch S5 als sachverständiger Zeuge den GdB bewertet.

Zuletzt ist der im Funktionssystem „innere Sekretion und Stoffwechsel“ vorliegende Diabetes mellitus Typ 2, der, wie sich für den Senat aus dem Sachverständigengutachten des S und der sachverständigen Zeugenaussage der Dr. Hübner-Frey ergibt, diätisch behandelt wird, nach den VG, Teil B, Nr. 15.1 mit einem Einzel-GdB von 0 zu bewerten.

Aus den vorliegenden Einzel-GdB-Werten von 30 im Funktionssystem „Ohren“, von jeweils 20 in den Funktionssystemen „Gehirn einschließlich Psyche“ und „Rumpf“ und 10 im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ ist ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Unter Berücksichtigung der Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB, wonach insbesondere Einzel-GdB-Werte nicht addiert werden dürfen (VG, Teil A, Nr. 3, a) sowie grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, und es auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d, ee), wird nach Ansicht des Senats ein Gesamt-GdB von 50 erreicht. Die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen überschneiden sich nicht (VG, Teil A, Nr. 3, d, cc). Insbesondere liegt keine Überschneidung zwischen den im Funktionssystem „Ohren“ berücksichtigten Ohrengeräuschen (Tinnitus) und dem Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ vor. Denn die psychischen Gesundheitsstörungen der Klägerin haben ihre Ursache nicht in den Ohrengeräuschen, sondern in deren lebensgeschichtlichen Umständen. Die jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen wirken sich demnach in unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens und der Teilhabe an der Gesellschaft aus, womit nach Ansicht des Senats eine Bewertung der bei der Klägerin bestehenden Funktionsbehinderungen mit einem Gesamt-GdB von lediglich 40 zu gering wäre.

Die von der Klägerin gegen die Abweisung der Klage im Übrigen durch das SG erhobene Berufung ist begründet. Die von der auch im erstinstanzlichen Verfahren anwaltlich vertretenen Klägerin ausdrücklich beantragte Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von mindestens 50 konnte unter Berücksichtigung der Klagebegründung zwar nicht dahingehend ausgelegt werden (vgl. zur Auslegung von Klageanträgen BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 SB 2/16 R –, juris, Rz. 11 ff.; Senatsurteil vom 26. November 2015 – L 6 U 50/15 –, juris, Rz. 38), dass mit der Klage die Feststellung eines GdB von 50 verfolgt worden ist. Die Klägerin hat aber ausgehend von ihrem Begehren der Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines Mindest-GdB von 50 durch die zutreffend vom SG ausgesprochene Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 im erstinstanzlichen Verfahren vollständig obsiegt und damit ihr Klageziel erreicht (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 SB 2/16 R –, juris, Rz. 14; Bayerisches LSG, Urteil vom 25. März 1999 – L 15 SB 47/97 –, juris, Rz. 17). Die Beantragung eines Mindest-GdB sollte lediglich verhindern, dass das SG nach dem Grundsatz „ne ultra petita“ (§ 123 SGG, vgl. Keller, a. a. O., § 123 Rz. 4) nicht auch einen höheren GdB als 50 hätte zusprechen dürfen. Insofern war für die Abweisung der Klage im Übrigen kein Raum.     

Nach alledem ist der Gerichtsbescheid des SG vom 17. Juli 2020 insofern rechtswidrig, als das SG zu Unrecht die Klage im Übrigen abgewiesen hat. Zutreffend hat das SG hingegen den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2018 sinngemäß verpflichtet, unter Abänderung des Bescheides vom 20. November 2003 einen GdB von 50 ab dem 31. Januar 2018 festzustellen. Auf die Berufung der Klägerin war deshalb der Gerichtsbescheid des SG vom 17. Juli 2020 insoweit aufzuheben, als das SG die Klage im Übrigen abgewiesen hat. Die Berufung des Beklagten war hingegen zurückzuweisen.  

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass – nachdem das SG erstinstanzlich die Klage im Übrigen zu Unrecht abgewiesen hat – die Klägerin auch im erstinstanzlichen Verfahren in vollem Umfang obsiegt hat. Die Berufung der Klägerin hat zwar aufgrund einer fehlerhaften Sachbehandlung durch das SG Erfolg, weil aber auch der Beklagte gegen den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid des SG vom 17. Juli 2020 eine im Ergebnis nicht erfolgreiche Berufung eingelegt hat, hat der Beklagte und nicht die Staatskasse (vgl. Senatsurteil vom 18. Februar 2021 – L 6 SB 486/20 –, juris, Rz. 68) die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu tragen.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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