L 10 KR 118/17

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 6 KR 232/14
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 KR 118/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.
Bei Hilfsmitteln, die dem Behinderungsausgleich oder der Vorbeugung vor Behinderung i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 und 3 SGB V zu dienen bestimmt sind, handelt es sich um Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, weshalb sich die zu beachtenden Entscheidungsfristen und die Sanktionen bei etwaiger Fristüberschreitung für den Leistungsträger aus §§ 14 und 15 SGB IX ergeben, nicht hingegen aus § 13 Abs. 3a SGB V.

2.
Ein Rollstuhl-Zuggerät, mit dem das Erreichen einer Geschwindigkeit von mehr als 6 km/h durch einen geräteimmanenten Elektromotor unterstützt wird, überschreitet im Rahmen des Ausgleichs einer Geh- bzw. Mobilitätsbehinderung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V) stets das Maß des Notwendigen i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V (BSG, Urteil vom 30. November 2017, B 3 KR 3/16 R). Wenn besondere medizinische Aspekte im Einzelfall eine Versorgung mit einem solchen Zuggerät gleichwohl erfordern, steht das Übermaßverbot der Versorgung in einem solchen Ausnahmefall jedoch nicht entgegen.

3.
Bei der Frage nach der Erforderlichkeit der Versorgung eines Versicherten mit einem die Grenzen des Übermaßverbots überschreitenden Rollstuhl-Zuggerät ist das Recht des behinderten Menschen auf möglichst selbstbestimmte Teilhabe sowie das Versicherten eingeräumte Wunsch- und Wahlrecht zu berücksichtigen; eine Grenze des Leistungsanspruchs bildet aber nach wie vor der Umstand, dass die Krankenkasse im Rahmen des mittelbaren Ausgleichs einer krankheitsbedingten Mobilitätsbeeinträchtigung lediglich verpflichtet ist, dem Versicherten eine angemessene Erschließung seines Wohnungsnahbereichs zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 7. Mai 2020, B 3 KR 7/19 R).

4.
Im Falle eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Zuggerät, das über das Maß des Notwendigen hinausgeht, hat der Versicherte die dadurch entstehenden Mehrkosten nach § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V selbst zu tragen.

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 15. Juni 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird:

Der Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchbe­scheids vom 3. September 2014 wird geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ als Sachleistung zu gewähren. Dabei hat die Klägerin die für die Hilfsmittelversorgung über das Maß des Notwendigen hinausgehenden Mehrkosten von 447,02 EUR selbst zu tragen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Klägerin im Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Versorgung mit einem elektromotorunterstützten mechanischen Rollstuhlzuggerät als Hilfsmittel.

Die 1965 geborene Klägerin ist infolge eines im Jahr 2000 erlittenen Unfalls von der Brustwirbelsäule abwärts querschnittsgelähmt. Eine Innervation der unteren Extremitäten findet nicht statt, weshalb die Klägerin nicht gehfähig und auf die dauerhafte Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Zudem liegt eine neurogene Harnblasen- und Mastdarmfunktionsstörung vor. Die Klägerin ist als Mitglied der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie ist seit 2002 mit einem manuell zu bedienenden sogenannten Aktivrollstuhl (Greifreifenrollstuhl Speedy-Bike) versorgt. Nach eigener Angabe der Klägerin im Widerspruchsverfahren (der die Beklagte an keiner Stelle widersprochen hat) ist sie insoweit bereits auf Kosten der Beklagten mit einem rein mechanisch anzutreibenden Handzuggerät versorgt. Am 24. Februar 2014 beantragte sie bei der Beklagten die Versorgung mit dem über einen unterstützenden Elektromotor verfügenden mechanischen Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ der Speedy Reha-Technik GmbH. Im Zuge der Antragstellung legte die Klägerin eine entsprechende Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin J vom 17. Februar 2014, einen Kostenvoranschlag der Herstellerin des Zuggeräts über insgesamt 5.863,73 EUR (der u.a. das „Antriebsrad Duo2 14 km/h komplett“ ausweist) und einen Bericht über die Erprobung des Geräts durch die Klägerin bei.

Die Beklagte holte im Antragsverfahren eine Stellungnahme des behandelnden Arztes der Klägerin, der die Verordnung vom 17. Februar 2014 ausgestellt hatte, ein. Darin erklärt der Allgemeinmediziner J, dass er die Nutzung des verordneten Rollstuhlzuggeräts durch die Klägerin für sinnvoll halte, da dadurch die Spastik gemindert, Muskulatur aufgebaut und die Darmtätigkeit infolge der Bewegung angeregt werde. Die Beklagte holte auch eine sozialmedizinische Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung N (MDK) ein. In der vom 9. Mai 2014 datierenden Stellungnahme führt der Gutachter Dr. T aus, dass nicht erkennbar wäre, aus welchen medizinischen Gründen der Klägerin die Fortbewegung im Außenbereich mittels des ihr zur Verfügung stehenden manuellen Rollstuhls unmöglich geworden sei. Sollte dies aber der Fall sein, empfehle er aus wirtschaftlichen Gründen die Zurverfügungstellung eines Elektrorollstuhls. Die notwendige Bewegung könne sich die Klägerin mittels Krankengymnastik verschaffen, dies auch unter Verwendung von handelsüblichen Trainingsgeräten in eigener Verantwortung.

Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 15. Mai 2014 ab. Weder die durch die Nutzung des begehrten Rollstuhlzuggeräts bzw. Hand-Bikes eröffnete Möglichkeit, Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, noch die durch das Hand-Bike geschaffene Möglichkeit zur Verbesserung der körperlichen Fitness, zählten „zu den Grundbedürfnissen“. Die Aktivierung des Muskelapparates und eine Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion könnten durch gezielte Krankengymnastik oder auch durch Heimtraining an dafür vorgesehenen Geräten erreicht werden. Sie, die Beklagte, sei indes bereit, die Klägerin mit einem Elektrorollstuhl oder einem (vollständig) elektrischen Rollstuhlzuggerät wie z.B. dem „Speedy Elektra 2“ zu versorgen.

Unter dem 13. Juni 2014 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid. Zur Begründung führte sie aus, dass sie nunmehr auf eine Elektromotorunterstützung angewiesen sei, die aber bei dem von ihr genutzten Aktiv-Roll-stuhl nicht nachgerüstet werden könne. Daher benötige sie das elektromotorunterstützte Zuggerät „Speedy Duo 2“, das ihr ermöglichte, sich – solange das noch möglich sei – aktiv zu bewegen. Durch die Inanspruchnahme der von der Beklagten angebotenen Alternativversorgung würde sie hingegen „in die Passivität gedrängt“, was zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes durch die damit verbundene Immobilität führte. Zudem sei sie überrascht, dass die Beklagte eine Versorgung mit dem vollelektrischen Zuggerät „Speedy Elektra 2“ anbiete, weil das Gerät teurer sei als das von ihr begehrte. Schließlich führte die Klägerin Entscheidungen des Bundessozialgerichts und des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts an, die ihrer Ansicht nach ihren Hilfsmittelantrag stützten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 3. September 2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Krankenkasse obliege im Rahmen des Behinderungsausgleichs lediglich eine Basisversorgung mit Hilfsmitteln, durch die gewährleistet sei, dass die Versicherten ihre allgemeinen Grundbedürfnisse befriedigen könnten. Im Falle des Verlustes der Gehfähigkeit folge daraus, dass die Hilfsmittelversorgung nur sicherzustellen habe, dass sich die Versicherte in der eigenen Wohnung fortbewegen und die Wohnung auch zeitweilig verlassen könne, um sich im Freien aufzuhalten und Alltagsgeschäfte im Nahbereich zu erledigen. Dieses Grundbedürfnis sei im Fall der Klägerin bereits durch die Versorgung mit dem genutzten Aktiv-Rollstuhl befriedigt, mit dem der Klägerin die Erschließung des Nahbereichs ihrer Wohnung möglich sei. Etwas anderes habe auch der die Verordnung ausgestellt habende Arzt der Klägerin im Antragsverfahren nicht vorgebracht. Sollte die Klägerin nicht mehr im Stande sein, sich ihren Nahbereich durch den manuell betriebenen Rollstuhl zu erschließen, sei die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl indiziert, der – anders als das von der Klägerin begehrte Hand-Bike – auch in der Wohnung der Klägerin zum Einsatz kommen könne. Das von der Klägerin beantragte Zuggerät biete demgegenüber den Vorteil, dass sich die Klägerin damit auch den Fernbereich erschließen könne; dies aber zähle nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Es werde nicht bestritten, dass sich die regelmäßige Nutzung des Rollstuhlzuggeräts „Speedy Duo 2“ positiv auf den Gesundheitszustand der Klägerin auswirkte. Dieser Umstand löse aber keinen Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse aus. Schließlich stellten sich die im Bescheid vom 15. Mai 2014 benannten Alternativversorgungsvarianten (Elektro-rollstuhl und vollelektrischer Zusatzantrieb) im Vergleich zu dem von der Klägerin begehrten Zuggerät deshalb als wirtschaftlicher dar, weil jene nach Ausgebrauch durch die Klägerin noch anderen Versicherten zur Verfügung gestellt werden könnten.

Am 30. September 2014 hat die Klägerin gegen die ablehnende Entscheidung der Beklagten Klage vor dem Sozialgericht Schleswig erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass sich ihr Gesundheitszustand seit dem Jahr 2008 deutlich verschlechtert habe, da es zu einer Stauung des Gehirnwassers an der Bruchstelle der Wirbelsäule gekommen sei, wodurch weitere Nerven „bis zum Halsansatz“ zerstört worden seien. Es seien dadurch weitere Lähmungen um die rechte Achselhöhle und am Hals aufgetreten, zudem habe sich ihre Kraft in Armen und Händen verringert. Nach größeren körperlichen Anstrengungen leide sie daher an Schmerzen in den Händen und den Unterarmen. Zudem sei im Jahr 2014 eine Arthrose in der linken Hand diagnostiziert worden. Das Antreiben der Handkurbel des Zuggeräts „Speedy Duo 2“ bereite ihr keine Probleme, es erfordere lediglich leichten Kraftaufwand. Daher habe sie nach der Nutzung des Rollstuhls mit diesem Gerät keine Schmerzen und es bestünde auch keine Lahm- und Taubheit in Fingern und Armen. Sie sei auch künftig auf selbständige körperliche Bewegung angewiesen, um die Intensität ihrer Spastik zu reduzieren und die infolge der Querschnittslähmung stark eingeschränkte Darmtätigkeit anzuregen.

Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht beantragt,

den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September
2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie – die
Klägerin – mit dem Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ zu
versorgen.

Die Beklagte hat vor dem Sozialgericht keinen Antrag gestellt und lediglich einen den von der Klägerin verfolgten Anspruch stützenden Bericht des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses H vom 14. November 2014 vorgelegt, in welchem ausgeführt wird, dass die Klägerin aufgrund weitergehender neurologischer Schädigungen infolge der Syringomyelie und einer damit einhergehenden Abnahme der Armkraft mit ihrem Aktiv-Rollstuhl nur noch eine Strecke von 700 Metern auf ebenem Grund zurücklegen könne. Mit dem von der Klägerin begehrten Rollstuhlzuggerät könne sie sich sowohl den Nahbereich außerhalb der Wohnung erschließen, als auch Wege außerhalb des Nahbereichs, z.B. zu ihrem Arzt in knapp 6 KM Entfernung oder zur Physiotherapiepraxis, die 5 KM vom Wohnort der Klägerin entfernt liege (die nächstgelegene Apotheke befindet sich nach dem Befundbericht 7 KM von der Wohnung der Klägerin entfernt). Die mit den Armen auszuübende Kurbeltätigkeit entlaste die Schultergelenke der Klägerin und führe zu einer statischen Ausrichtung der Wirbelsäule. Insofern sei auch eine häusliche Erprobung mit einem leihweise zur Verfügung gehabten Zuggerät „Speedy Duo 2“ erfolgreich verlaufen.

Das Sozialgericht hat einen Befund- und Behandlungsbericht des die Klägerin behandelnden Hausarztes J vom 16. November 2015 eingeholt. Mit Schreiben vom 27. März 2017 hat es die Beteiligten zu einer beabsichtigten Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid angehört.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Juni 2017 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Klägerin im Wege der Sachleistung mit dem Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ der Speedy Reha-Technik GmbH zu versorgen. Diese Entscheidung hat das Sozialgericht damit begründet, dass der Antrag der Klägerin vom 24. Februar 2014 nach § 13 Abs. 3a Satz 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) als genehmigt gelte, seit die in § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V vorgesehenen Fristen abgelaufen seien. Die Klägerin habe einen bestimmten und mithin genehmigungsfiktionsfähigen Antrag gestellt, der sich nicht auf eine offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung gelegene Leistung bezogen habe (denn Rollstuhlzuggeräte seien im Hilfsmittelverzeichnis im Sinne des § 139 SGB V ausdrücklich aufgeführt). Die Klägerin habe die beantragte Leistung auch subjektiv für erforderlich halten dürfen. Die Beklagte habe weder die dreiwöchige, noch die Fünf-Wochen-Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V eingehalten. Zudem habe sie die Klägerin weder schriftlich davon in Kenntnis gesetzt, dass sie ein Gutachten des MDK einholen werde, noch darüber, dass und weshalb sie die gesetzliche Entscheidungsfrist nicht einhalten könne.

Gegen diesen, der Beklagten am 19. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich deren am 18. Juli 2017 vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhobene Berufung.

Zur Begründung der Berufung bringt die Beklagte vor, dass das Sozialgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass der Klägerin ein Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit dem streitgegenständlichen Rollstuhlzuggerät aus § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V zustehe. Denn bei der Versorgung mit dem umstrittenen Hilfsmittel handele es sich um eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation im Sinne der §§ 31 Abs. 1, 26 Abs. 2 Nr. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), auf die die Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V nach dessen Satz 9 gemäß der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine Anwendung finde. Ein originärer materiell-rechtlicher Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem begehrten Rollstuhlzuggerät folge aber auch nicht aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Denn sie, die Beklagte, habe ihre Leistungspflicht zum mittelbaren Behinderungsausgleich bereits mit der Zurverfügungstellung des Aktiv-Rollstuhls an die Klägerin erfüllt, weil dieser der Klägerin zur Befriedigung ihres Grundbedürfnisses an Mobilität eine „ausreichende Bewegungsfreiheit“ sichere. Das beantragte Zuggerät sei auch nicht zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung erforderlich, weil – wie aus dem erstinstanzlich eingeholten Befund- und Behandlungsbericht des die Klägerin behandelnden Hausarztes ersichtlich sei – das Gerät nicht Bestandteil eines ärztlich verordneten komplexen therapeutischen, krankheitsbezogenen Vorgehens sei, in dessen Rahmen es als ein (weiteres) Therapieelement zum Zwecke der Mobilisierung der Klägerin eine Rolle spiele. Im Übrigen habe das Bundessozialgericht entschieden, dass die Speedy Reha-Technik GmbH keinen Anspruch darauf innehabe, dass das hier umstrittene Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen werde, weil das Gerät bereits ganz allgemein stets das Maß des Notwendigen überschreite, da es zum einen eine dem Radfahren vergleichbare Mobilität ermögliche und der behinderte Versicherte mit ihm daher erheblich über den Nahbereich der Wohnung hinausreichende Entfernungen zurücklegen könne; zum anderen ermögliche das Gerät das Zurücklegen von Strecken mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 14 km/h, was zur Erschließung des Nahbereichs als Befriedigung eines Grundbedürfnisses an Mobilität schlichtweg niemals erforderlich sein könne.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom
15. Juni 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass auch
der Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2014 auf-
gehoben wird.

Zur Begründung ihres Antrags führt sie aus, dass sie sich im Jahre 2016 infolge eines Sturzes aus dem Rollstuhl beide Unterschenkel gebrochen habe, wodurch sich eine stark behindernde Spastik in den Beinen gebildet habe. Ihre körperliche Verfassung habe sich weiterhin wesentlich verschlechtert. Zuletzt seien Lähmungen, Missempfindungen und Schmerzen im rechten Arm und der dortigen Hand so stark geworden, dass sie am 25. Mai 2018 stationär im BG Klinikum H habe aufgenommen werden müssen. Insoweit legt die Klägerin zwei Entlassungsbriefe (vom 14. Juni und 9. Juli 2018) vor. Dadurch, dass sie ihre Muskelkraft nicht mit dem begehrten Hand-Bike trainieren könne, bestehe ein progressiver Muskel-abbau, dem allein durch regelmäßige Krankengymnastik nicht entscheidend entgegengewirkt werden könne. Deshalb bitte sie um Durchführung der beantragten Versorgung.

Mit Beschluss vom 31. August 2020 hat der Senat den Kreis Schleswig-Flensburg zum Rechtsstreit notwendig beigeladen.

Einen eigenen Antrag hat der Beigeladene nicht gestellt. Er zählt die Klägerin zwar grundsätzlich zu dem Personenkreis, der Leistungen der Eingliederungshilfe beanspruchen könne. Unabhängig davon, so der Beigeladene, dass ein entsprechender Anspruch jedoch den vorrangigen Einsatz von Einkommen und Vermögen durch die Klägerin erforderte, scheitere ein Anspruch auf Eingliederungsleistungen hier daran, dass mit dem von der Klägerin begehrten Rollstuhlzuggerät keine Ziele der Eingliederungshilfe verfolgt würden, sondern solche der medizinischen Rehabilitation. Aus den ärztlichen Stellungnahmen sei ersichtlich, dass durch die Nutzung des Zuggeräts Spastiken gemildert, Muskulatur aufgebaut und die Darmtätigkeit angeregt werden sollten. Dies seien keine Ziele der sozialen Rehabilitation. Im Übrigen halte er, der Beigeladene, die Beklagte für leistungsverpflichtet. Da neben dem grundsätzlich manuell zu bedienenden und lediglich über einen elektrischen Zusatzantrieb verfügenden „Speedy Duo 2“ auch das rein elektromotorisch betriebene Zuggerät „Speedy Elektra“ für die Klägerin in Betracht komme (und dieser durch die Beklagte auch als konkrete Alternativversorgung angeboten worden sei), sei das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin maßgeblich, die sich für das Handkurbelgerät entschieden habe.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakte, die Gegenstand der Berufungsverhandlung am 23. Februar 2021 geworden sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Berufung ist auch ansonsten zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstandes beläuft sich für die Beklagte auf deutlich über 750,00 EUR, weshalb die Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG trotz des Umstandes, dass sich die Klage gegen einen auf eine Sachleistung (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V) bezogenen Verwaltungsakt richtet, ohne gesonderte Zulassung gegeben ist.

II.

Die Berufung ist jedoch in weit überwiegendem Umfang nicht begründet. Lediglich hinsichtlich der aus dem Tenor ersichtlichen, von der Klägerin im Zusammenhang mit der begehrten Versorgung selbst zu tragenden Mehrkosten war bereits die Klage unbegründet und ist mithin die Berufung begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit dem elektromotorunterstützten Handkurbel-Roll-stuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ aus § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V gegen die Beklagte zu. Der diesen Anspruch verneinende Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2014 war deshalb antragsgemäß aufzuheben. Zwar hat das Sozialgericht in seinem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 15. Juni 2017 über den von der Klägerin in der Klageschrift explizit gestellten Anfechtungsantrag nicht entschieden. Der Senat erachtet sich jedoch für befugt, diese Entscheidung im Berufungsverfahren nachzuholen. Insoweit macht der Senat von der höchstrichterlich eingeräumten Möglichkeit des Heraufholens von Prozessresten Gebrauch. Danach ist es dem Berufungsgericht in Fällen, in denen das Sozialgericht über einen Teil des Streitgegenstandes versehentlich keine Entscheidung getroffen hat, unabhängig von einer Zustimmung des Prozessgegners möglich, den erstinstanzlich nicht erledigten Streitgegenstand (in der ersten Instanz verharrender „Prozessrest“) in das Berufungsverfahren „heraufzuholen“ und dort über ihn zu entscheiden (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 8/06 R, BSGE 97, 217 ff.; Urteil vom 10. Dezember 2013, B 13 R 91/11 R, SGb 2015, 35 ff.; Urteil vom 17. November 2005, B 11a/11 AL 57/04 R, Breith. 2006, 792 ff.). Dies erscheint hier auch deshalb angezeigt, weil die durch die ablehnenden Bescheide der Beklagten beschwerte Klägerin einen Anspruch darauf hat, dass über ihren Anfechtungsantrag entschieden wird.

 1.

Der Anspruch folgt jedoch entgegen den Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid nicht bereits aus § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V, nach dem die Leistung als genehmigt gilt, wenn die Krankenkasse den Leistungsberechtigten nicht rechtzeitig schriftlich mitteilt, dass sie die in § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V bestimmten Entscheidungsfristen nicht einhalten kann. Denn unabhängig davon, dass die Versäumung der in § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V benannten Entscheidungsfristen – sowie die Erfüllung der sonstigen dortigen Tatbestandsmerkmale und der daraus folgende Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V – nach neuester Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keinen eigenständigen Sachleistungsanspruch begründen können sollen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juni 2020, B 3 KR 14/18 R, zitiert nach juris), war der Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3a SGB V für die von der Klägerin begehrte Versorgung mit dem Handbike „Speedy Duo 2“ von vornherein nicht eröffnet. Denn § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V weist Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dem Regelungssystem des SGB IX zu, weshalb diese Leistungen nicht vom sachlichen Anwendungsbereich der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V erfasst werden. Insoweit ist allein das Rehabilitations- und Teilhaberecht einschlägig, das in §§ 14 und 15 SGB IX ein eigenständiges, in sich geschlossenes System bei Überschreitung von Entscheidungsfristen mit entsprechenden Sanktionen vorhält. Zwar kann zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem SGB V nach ständiger Rechtsprechung auch die Versorgung mit sächlichen Hilfsmitteln der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach § 33 SGB V gehören (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2013, B 3 KR 5/12 R, BSGE 113, 40 ff.). Gleichwohl wird die Versorgung mit Hilfsmitteln in der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V systematisch der Krankenbehandlung zugeordnet. Die danach erforderliche Abgrenzung zwischen Hilfsmitteln, die eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation darstellen, und solchen, die das nicht tun, wird vom BSG im Rahmen des § 33 Abs. 1 SGB V dahingehend vorgenommen, dass allein Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation anzusehen sind, während alle anderen Hilfsmittel solche Reha-Leistungen darstellen. Mithin unterfallen Hilfsmittel, die dem Behinderungsausgleich oder der Vorbeugung vor Behinderung dienen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 und 3 SGB V), nicht dem Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3a SGB V; einzig bei Hilfsmitteln, die der Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung dienen, ist der Eintritt einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V somit möglich (vgl. BSG, Urteil vom 8. August 2019, B 3 KR 21/18 R, zitiert nach juris; BSG, Urteile vom 15. März 2018, B 3 KR 18/17 R, NZS 2018, 815 ff.; B 3 KR 4/16 R, zitiert nach juris).

Das hier streitgegenständliche, über einen elektromotorischen Zusatzantrieb verfügende Handkurbel-Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ soll bei der Klägerin nach Einschätzung des Senats nicht im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V dazu dienen, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Der Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung dient ein Hilfsmittel, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Dabei kommt nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation ein Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung im Sinne von § 27 SGB V zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche oder ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die eine gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 SGB V als erforderlich anzusehen ist (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 5/10 R, zitiert nach juris; Gerlach, in Hauck/Noftz, SGB V, Werksstand 04/2018, § 33 Rn. 90). Lediglich allgemein gesundheitsfördernde Maßnahmen, die – nur – auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen des behinderten Menschen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung zielen, dienen hingegen nicht der Sicherung der Krankenbehandlung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 15. März 2018, B 3 KR 4/16 R, a.a.O.). Nach den Ausführungen des verordnenden Hausarztes J in seinem die Versorgung mit dem Rollstuhlzuggerät befürwortenden Befundbericht vom 14. April 2014 sowie in dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Befundbericht vom 16. November 2015 soll das streitgegenständliche Gerät die Mobilität der Klägerin verbessern, einer besseren Ausnutzung der verbliebenen Muskelkraft und gleichzeitig auch dem Muskelaufbau dienen, zu einer Minderung der Spastik führen und – durch die bei Nutzung des Geräts ausgeübte Bewegung – die Darmtätigkeit anregen. Ein enger Zusammenhang zu der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung, der das Rollstuhlzuggerät gleichsam als Bestandteil des ärztlichen Therapieplans auswiese, ist daraus nicht zu erkennen. Zudem ist eine Einwirkung auf die bei der Klägerin gegebene Querschnittslähmung sowie die Folge- bzw. Begleiterkrankungen mittels des Handbikes nicht intendiert oder auch nur möglich. Auch dies spricht dagegen, dass der Hausarzt J mit der Verordnung des Zuggeräts einen therapeutischen Krankenbehandlungsansatz verfolgt hat und das „Speedy Duo 2“ in ein von ihm vorgegebenes und begleitetes Therapiekonzept eingebunden gewesen war (vgl. dazu auch Urteil des 5. Senats vom 28. Juni 2018, L 5 KR 183/17, Breith. 2019, 89 ff.).

Daran ändert sich nichts dadurch, dass ein Hilfsmittel, das dem Versicherten bei der körperlichen Bewegung zugutekommt, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch dann der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Var. SGB V dient, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat und die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 5/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 32; BSG, Urteil vom 18. Mai 2011, B 3 KR 7/10 R, BSGE 108, 206 ff.; LSG Thüringen, Urteil vom 28. Februar 2012, L 6 KR 1202/07, zitiert nach juris). Zwar ist die Klägerin aufgrund ihrer Querschnittslähmung dauerhaft auf physiotherapeutische Behandlung angewiesen, jedoch lässt sich hier eine wesentliche Förderung dieser Behandlung durch die Nutzung des „Speedy Duo 2“ ebenso wenig feststellen wie die Verringerung der diesbezüglichen Behandlungsfrequenz. Dies ergibt sich wiederum aus den Ermittlungen des Sozialgerichts. Der verordnende Allgemeinmediziner Jepsen ist mit Anforderung des Befund- und Behandlungsberichts durch das Sozialgericht gemäß Ziff. 11. des dortigen Fragenkatalogs ausdrücklich um Mitteilung dazu gebeten worden, ob das Zuggerät in ein Therapiekonzept eingebunden sei, welche Therapieziele mit dem Einsatz des „Speedy Duo 2“ verfolgt würden und welche konkrete Nutzungsdauer bzw. -frequenz ärztlicherseits geplant sei. Darauf hat der Hausarzt der Klägerin im Wesentlichen lediglich geantwortet, dass die tägliche Nutzung des Geräts „von der Patientin“ (!) geplant sei. Zu den zu erreichenden Behandlungszielen hat der verordnende Arzt lediglich vage ausgeführt: „Eine Verbesserung der Mobilität und der Kraftausnutzung der eigenen Muskulatur, sowie eine Verbesserung der Spastik“. Die von dem Sozialgericht ebenfalls gestellte Frage danach, inwieweit das Zuggerät geeignet sei, andere Heilmittel wie beispielsweise Krankengymnastik zu ersetzen, hat der Arzt überhaupt nicht beantwortet. Dies verdeutlicht nach Ansicht des Senats hinreichend, dass das Rollstuhlzuggerät hier nicht zum Zwecke der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung verordnet wurde, sondern zum Zwecke des Behinderungsausgleichs.

Nach der vorstehend zitierten BSG-Rechtsprechung hat das zur Folge, dass sich der Sachleistungsanspruch der Klägerin nicht auf § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V stützen lässt, weil § 13 Abs. 3a SGB V in seiner Gesamtheit – nach dem dortigen Satz 9 – hier nicht anwendbar ist, da es sich bei der Hilfsmittelversorgung zum Zwecke des Behinderungsausgleichs um eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation handelt. Zugleich steht fest, dass die Klägerin die begehrte Hilfsmittelversorgung nicht aus § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Var. SGB V beanspruchen kann.

2.

Die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V sind jedoch erfüllt. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit solchen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Letzteres ist hier nicht der Fall, weil das Bundesgesundheitsministerium eine solche Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V im Hinblick auf Rollstuhlzuggeräte nicht erlassen hat. Auch handelt es sich bei dem Rollstuhlzuggerät nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Die Einordnung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens hängt davon ab, ob ein Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Zwecken des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dienen soll oder
– falls dies nicht so ist – den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommt und von körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 5/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 32). Da Rollstuhlzuggeräte denklogisch allein von Rollstuhlfahrern genutzt werden, in ihrer Gehfähigkeit nicht schwer beeinträchtigte Menschen in der Regel indes keine Rollstühle benutzen, handelt es sich bei solchen Zuggeräten eindeutig um speziell für die Fortbewegung behinderter Menschen konzipierte Gerätschaften – und mithin nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens (die Hilfsmitteleigenschaft von Rollstuhlzuggeräten bejahend auch LSG Thüringen, Urteil vom 30. April 2013, L 6 KR 568/08, zitiert nach juris; Bayerisches LSG, Urteil vom 8. Dezember 2004, L 4 KR 59/04, zitiert nach juris).

Vorliegend ist das von der Speedy Reha-Technik GmbH hergestellte Zuggerät „Speedy Duo 2“ zudem erforderlich, um die bei der Klägerin bestehende Behinderung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var SGB V auszugleichen. Dass bei der Klägerin im Hinblick auf die Querschnittslähmung, infolge derer ihre Gehfähigkeit weggefallen ist, eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vorliegt, ist offenkundig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.

Im Bereich des Behinderungsausgleichs nach § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V ist zur Bestimmung der Reichweite des Leistungsanspruchs in der GKV – zumindest nach bisheriger ständiger BSG-Rechtsprechung – zunächst zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich zu unterscheiden. Im Falle des unmittelbaren Behinderungsausgleichs wird das Hilfsmittel – unmittelbar – zur Ersetzung der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst eingesetzt, wie das beispielsweise insbesondere bei Prothesen der Fall ist. Im Falle des mittelbaren Behinderungsausgleichs dient das Hilfsmittel hingegen dem Ausgleich der (direkten oder auch indirekten) Behinderungsfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 15. März 2018, B 3 KR 18/17 R, a.a.O.). Während beim unmittelbaren Behinderungsausgleich das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts gilt, hat die GKV im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nur für einen Basisausgleich einzustehen; es geht nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist stets allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (vgl. z.B. § 5 Nr. 2 SGB IX: Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder § 5 Nr. 5 SGB IX: Leistungen zur sozialen Teilhabe). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (vgl. BSG, Urteil vom 25. Februar 2015, B 3 KR 13/13 R, zitiert nach juris). Dazu gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall geht es – wie bei der Ausstattung mit einem Rollstuhl selbst – nicht um den unmittelbaren, sondern um einen mittelbaren Behinderungsausgleich im Bereich der Mobilität, weil durch das Hilfsmittel nicht das Gehen selbst ermöglicht wird (wie z.B. bei einer Beinprothese). Ausgeglichen werden lediglich die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung – hier: der Funktionslosigkeit – der Beine. Der mit dem „Speedy Duo 2“ angestrebte Behinderungsausgleich betrifft das Bedürfnis nach Erschließung eines körperlichen Freiraums. Als Grundbedürfnis umfasst dieses die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nah-bereich mit einem Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise zu Fuß zurücklegt oder der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann. Räumlich ist dieser Nahbereich auf den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten als Ausgangs- und Endpunkt der Wege beschränkt, wobei allerdings nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend sind. Vielmehr kommt es bei der Bestimmung des Nahbereichs einer Wohnung auf einen abstrakten Maßstab und nicht auf die konkreten Verhältnisse an, so dass es unerheblich ist, welche Entfernungen zwischen der Wohnung der Versicherten und den Praxen der Ärzte und Therapeuten etc. konkret zurückzulegen sind. Denn das BSG geht davon aus, dass diese Orte „standardmäßig“ innerhalb des Nahbereichs der Wohnung liegen (BSG, Urteil vom 25. Februar 2015, B 3 KR 13/13 R, a.a.O.). Es hält die konkrete Berücksichtigung des Wohnorts und des Wohnumfelds des Versicherten für nach der Konzeption des § 33 SGB V „weitgehend ausgeschlossen“; dies könne allein durch den Gesetzgeber „korrigiert“ werden (BSG, a.a.O.).

Hiervon ausgehend eröffnet das Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ nach der Rechtsprechung des BSG dem behinderten Menschen eine dem Radfahren vergleichbare Mobilität, die über den nach den dargelegten Grundsätzen bestimmten Nahbereich hinausgeht. Denn mit dem „Speedy Duo 2“ können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern auch erheblich darüber hinausgehende Entfernungen zurückgelegt werden (BSG, Urteile vom 18. Mai 2011, B 3 KR 7/10 R, BSGE 108, 206 ff; B 3 KR 12/10 R, zitiert nach juris). Diese Judikatur hat in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung dazu geführt, dass ein Anspruch auf Hilfsmittelversorgung mit einem Rollstuhlzuggerät in der GKV vielfach schon ganz grundsätzlich abgelehnt wird, weil es an der Erforderlichkeit eines solchen Geräts zur Sicherstellung der im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs geschuldeten Basisversorgung mangele (vgl. beispielhaft LSG Thüringen, a.a.O.; LSG Saarland, Urteil vom 21. Oktober 2015, L 2 KR 92/14, ZFSH/SGB 2016, 40 ff.).

Das BSG hat seine Rechtsprechung mit Urteil vom 30. November 2017 (B 3 KR 3/16 R, FEVS 69, 534 ff.) bekräftigt. In der Entscheidung geht es zwar nicht um die Versorgung eines Versicherten mit einem Rollstuhlzuggerät, sondern um den von der Herstellerin des Geräts „Speedy Duo 2“ verfolgten Anspruch auf Aufnahme des Zuggeräts in das Hilfsmittelverzeichnis (den der Rechtsvorgänger des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen abgelehnt hatte). Die dortigen Ausführungen sind für den vorliegenden Rechtsstreit aufgrund des Wortlauts der dort maßgeblichen Vorschrift – des § 139 Abs. 1 Satz 2 SGB V – jedoch relevant. Denn nach § 139 Abs. 1 Satz 2 SGB V sind im Hilfsmittelverzeichnis solche Gegenstände aufzuführen, die von der Leistungspflicht der GKV umfasst sind. Dadurch wird eine unmittelbare Verknüpfung des Leistungserbringerrechts mit dem Leistungsrecht – hier in Gestalt des § 33 SGB V – herbeigeführt (BSG, a.a.O.). Das BSG hält das „Speedy Duo 2“ schon ganz grundsätzlich nicht für von der Leistungspflicht der GKV umfasst. Es führt dazu aus:

„Es (das Rollstuhlzuggerät Speedy Duo 2; Anm. des Senats) überschreitet jedenfalls wegen der Leistungsfähigkeit des elektromotorischen Antriebs in beiden hier im Streit stehenden Ausführungen allgemein das Maß des Notwendigen. Das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs ist nämlich nicht nur im Hinblick auf die erreichbare Entfernung, sondern auch bezüglich der zu ihrer Bewältigung benötigten Zeitspanne an der von Menschen ohne Behinderung üblicherweise zu Fuß erreichten Gehgeschwindigkeit orientiert (vgl. BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 34, RdNr 41; sowie Parallelentscheidung vom selben Tag: BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 12/10 R - Juris RdNr 22)Die übliche Gehgeschwindigkeit schwankt je nach Alter, Geschlecht und Faktoren wie dem Gehen allein oder als Gruppe zwischen etwa 4 km/h und 6 km/h (vgl. hierzu z.B. BSG Urteil vom 30.1.2002 - B 5 RJ 36/01 R - Juris RdNr 15BSGE 62, 273, 280 = SozR 3870 § 60 Nr. 2 S 8). Mit dem Elektromotor des "Speedy Duo 2" werden aber je nach Ausführungsart 10 km/h bzw. 14 km/h unterstützt. Unabhängig von der medizinischen Indikation und den Umständen des Einzelfalls ist kein Grundbedürfnis erkennbar, zu dessen Befriedigung es erforderlich sein könnte, sich den Nahbereich mit einer Geschwindigkeit zu erschließen, die höher ist als die übliche Schrittgeschwindigkeit.“

Jedoch kann nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein Anspruch auf Hilfsmittelversorgung mit einem Rollstuhlzuggerät nach § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V ausnahmsweise dann bestehen, wenn besondere qualitative Momente es erfordern, dass dem behinderten Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglicht wird. Solche besonderen qualitativen Momente liegen vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist (vgl. BSG, Urteile vom 18. Mai 2011, B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R, jeweils a.a.O.). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar ist, weil Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können oder die vom Hilfebedürftigen benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Abzustellen ist dabei jeweils auf die Umstände des Einzelfalles. Ein besonderes qualitatives Moment kann hier zwar nicht darin gesehen werden, dass die Klägerin aufgrund ihres ländlichen Wohnortes verhältnismäßig weite Distanzen zurückzulegen hat, um ihre Ärzte bzw. Therapeuten und die nächstgelegene Apotheke aufzusuchen. Denn das BSG hat in den genannten Urteilen vom 18. Mai 2011 ausdrücklich betont, dass im Zusammenhang mit der Prüfung dieser besonderen qualifizierenden Umstände, die ausnahmsweise eine Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät rechtfertigen können, ausschließlich auf die medizinischen Aspekte im Einzelfall abzustellen ist. Das konkrete Wohnumfeld hat hingegen außer Betracht zu bleiben, da – wie vorstehend dargelegt – insoweit ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab gilt.

Indes erfordert hier die bei der Klägerin vorliegende konkrete gesundheitliche Beeinträchtigung, dass ihr mittels des begehrten Rollstuhlzuggeräts eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglicht wird. Die Erforderlichkeit im Einzelfall zum – mittelbaren – Ausgleich des Verlustes der Gehfähigkeit folgt nach Ansicht des Senats aus dem Befundbericht des BG-Krankenhauses H vom 14. November 2014. Dort ist insbesondere ausgeführt, dass

  • die Klägerin ihren Greifreifen- bzw. Aktivrollstuhl aufgrund der seit 2014 diagnostizierten Arthrose im linken Daumensattelgelenk nicht mehr schmerzfrei durch eigene Armkraft antreiben kann und
  • dass es infolge des sich im Rückenmark der Klägerin gebildet habenden Hohlraums (Syringomyelie) zu einer Abschwächung der Armmuskulatur der Klägerin gekommen ist, weshalb sie das – ohnehin verschlissene – alte, rein mechanisch angetriebene Zuggerät nicht länger nutzen könne.

 

Auf diese Feststellungen, die von der Beklagten zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt worden sind, stützt sich der Senat. Die Ausführungen in dem Befundbericht des berufsgenossenschaftlichen Krankenhauses vom 14. November 2014 sind zudem von der Klägerin selbst in der Berufungsverhandlung substantiiert und überzeugend bestätigt worden, indem die Klägerin dort zu Protokoll erklärt hat, dass sie ihren Greifreifenrollstuhl aufgrund der Arthrose im linken Daumen „nicht mehr richtig vorwärtsbewegen“ könne, weil dies den arthrotischen Daumen zu sehr beanspruche. Demgegenüber sei der Daumen bei der Kraftübertragung auf ein Handkurbel-Zuggerät nicht beteiligt. Vor diesem Hintergrund waren weitere medizinische Ermittlungen des Senats zu diesem Punkt nicht veranlasst.

In der Einschätzung, dass der Klägerin hier trotz des hinsichtlich des Zuggeräts „Speedy Duo 2“ grundsätzlich gegebenen Verstoßes gegen das Übermaßverbot ausnahmsweise ein Anspruch auf Versorgung mit diesem Zuggerät zuzuerkennen ist, sieht sich der Senat in Einklang mit der neuesten Rechtsprechung des BSG. Mit Urteil vom 7. Mai 2020 (B 3 KR 7/19 R, zitiert nach juris) bemüht sich das Gericht erkennbar um eine Harmonisierung seiner Rechtsprechung zum Basisausgleich behinderungsbedingter Mobilitätseinschränkungen im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nach § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V mit dem durch die UN-Behindertenrechtskonvention auf supranationaler Ebene verbürgten Diskriminierungsverbot und weitestgehendem Teilhabegebot für behinderte Menschen (vgl. auf Verfassungsebene Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts insbesondere § 1 SGB IX). Das BSG führt dort u.a. aus:

„Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich darf das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (vgl. § 1 SGB IX a.F.), aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m. dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention.

Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen ist, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann. Hinzu kommt ggf. die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist (vgl. bereits BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 34, RdNr 41; BSG SozR 4-2500 § 139 Nr. 9 RdNr 22). Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX a.F. i.V.m. § 33 SGB I) volle Wirkung zu verschaffen (vgl. bereits BSG Urteil vom 15.3.2018 - B 3 KR 4/16 R - juris RdNr 48; BSG Urteil vom 8.8.2019
- B 3 KR 21/18 R - juris RdNr 27). Dies bedeutet auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert (vgl. § 9 Abs. 3 SGB IX a.F.).

Der Senat sieht sich bei dieser auf das zu befriedigende Grundbedürfnis nach Mobilität gerichteten grundrechtsorientierten Auslegung des § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Paradigmenwechsel, den Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat, und der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (zuletzt BVerfG <stattgebender Kammerbeschluss> vom 30.1.2020 - 2 BvR 1005/18). Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen.“

Daraus folgt, dass sich die konkret bestehende Leistungspflicht der Krankenkasse bei der Hilfsmittelversorgung danach bemisst, dass der eigenverantwortlichen Gestaltung und der Selbstbestimmung des Versicherten bei der Art und Weise, wie er sich den Nahbereich seiner Wohnung „zumutbar und angemessen“ erschließt, in möglichst weitgehender Weise zur Geltung verholfen wird. Nach Ansicht des Senats stellt diese Akzentuierung möglichst selbstbestimmter Teilhabe und der Maßgeblichkeit des Wunsch- und Wahlrechts des behinderten Versicherten eine Modifizierung der Aussage des BSG aus seinem o.g. Urteil vom 30. November 2017 dahingehend dar, dass das Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ im Einzelfall durchaus als Hilfsmittel in Betracht kommen kann (und nicht länger kategorisch als Leistung der GKV ausgeschlossen ist). Direkt verhält sich die Entscheidung des BSG vom 7. Mai 2020 zwar nicht zu der vom 30. November 2017, jedoch führt das BSG in seinem neueren Urteil aus (Rn. 34 des juris-Dokuments):

„Im Rahmen der vom LSG vorzunehmenden Prüfung, ob das Grundbedürfnis der Klägerin nach Mobilität den Einsatz des Spezialtherapierads als Hilfsmittel zulasten der GKV erforderlich macht, bedarf es zwar der Würdigung, ob es an der Erforderlichkeit fehlen kann, wenn das Rad wegen seiner Leistungsfähigkeit das Maß des Notwendigen überschreitet (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 5 a.F. bzw. Satz 9 SGB V i.d.F. des Terminservice- und Versorgungsgesetzes vom 6.5.2019, BGBl I 646). Hierbei sind indes auch einzelfallbezogene Umstände zu berücksichtigen, wenn aufgrund derer eine alternative Hilfsmittelversorgung zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs der Wohnung unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts der Klägerin nicht in Betracht kommt. Allein der Umstand, dass das Spezialtherapierad neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann, schließt nicht bereits die Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Mobilität aus. Ebenso steht einem Anspruch nicht bereits entgegen, dass das Rad über einen elektrischen Hilfsmotor verfügt. Ob vorliegend Anlass für eine Kostenbeteiligung der Klägerin besteht, wird das LSG ggf. zu prüfen und zu entscheiden haben.“

Danach lässt sich feststellen, dass nunmehr auch das Übermaßverbot, mit welchem das BSG in seinem Urteil vom 30. November 2017 die grundsätzliche Nicht-Erforderlichkeit der Versorgung eines Versicherten mit einem eine Geschwindigkeit von bis zu 14 km/h unterstützenden Rollstuhlzuggerät mit elektrischem (Zusatz-) Motor maßgeblich begründet hatte, unter dem Vorbehalt steht, dass eine alternative Hilfsmittelversorgung zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs vorhanden sein muss. Ist das im konkreten Einzelfall nicht der Fall, soll ausnahmsweise auch eine Hilfsmittelversorgung mit dem hier streitbefangenen Rollstuhlzuggerät in Betracht kommen können. Bei der Frage, ob eine alternative Hilfsmittelversorgung zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs vorhanden ist oder nicht, ist wiederum maßgeblich das Wunsch- und Wahlrecht des Versicherten zu beachten.

Nach alledem steht der Klägerin hier ein Anspruch auf Versorgung mit dem elektromotorunterstützten Handkurbel-Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ gegen die Beklagte aus § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V zu. Auf eine Versorgung mit dem von der Beklagten alternativ zur Versorgung angebotenen rein elektrischen Zuggeräts „Speedy Elektra 2“ muss sich die Klägerin unter Berücksichtigung ihres Wunsch- und Wahlrechts nicht verweisen lassen. Allerdings hat die Klägerin nach § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V die durch die Versorgung mit dem Zuggerät „Speedy Duo 2“ entstehenden Mehrkosten in Höhe von 447,02 EUR selbst zu tragen, weil die durch besondere medizinische Umstände begründete und von der Klägerin gewünschte Hilfsmittelversorgung im Grundsatz das Maß des Notwendigen überschreitet. Anders als von der Klägerin behauptet, liegt der Anschaffungspreis für das voll elektrische Zuggerät „Speedy Elektra“ nach dem Auskunftsschreiben der Speedy Reha-Technik GmbH vom 5. Februar 2021 nicht über dem Preis für die Anschaffung des von der Klägerin begehrten Zuggeräts, sondern darunter (vgl. zum Verhältnis des Wunsch- und Wahlrechts des Versicherten zum Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V unter besonderer Betonung von gesetzlichen Mehrkostenregelungen: BSG, Urteil vom 7. Mai 2013, B 1 KR 53/12 R, zitiert nach juris). Nach dem Kostenvoranschlag der Geräteherstellerin vom 4. Februar 2021 beläuft sich der Preis für die Anschaffung des Geräts „Speedy Duo 2“ aktuell auf 7.459,52 EUR, während das rein elektrische Zuggerät „Speedy Elektra 3“ inklusive der nötigen Zusatzausstattung 7.012,50 EUR kosten soll.

3.

Da der Klägerin der von ihr verfolgte Anspruch bereits aus § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Var. SGB V gegen die Beklagte zusteht, muss das 6. Kapitel des seit dem 1. Januar 2020 das Eingliederungshilferecht beinhaltenden Teils 2 des SGB IX (Leistungen zur sozialen Teilhabe; §§ 113 ff. SGB IX) als Grundlage eines etwa gegen den Beigeladenen gerichteten – inhaltlich identischen – Anspruchs ausscheiden. Denn Leistungen zur sozialen Teilhabe werden danach erbracht, um dem behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 – 5 des SGB IX erbracht werden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Das dortige Kapitel 3 betrifft Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, für welche die Beklagte zuständiger Reha-Träger ist (vgl. §§ 5 Nr. 1, 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) und die inhaltlich den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen (§ 109 Abs. 2 SGB IX). Der vorliegend bestehende Anspruch der Klägerin auf die Versorgung mit dem gewünschten Rollstuhlzuggerät als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist daher gegenüber einem etwaigen Anspruch als Leistung zur sozialen Rehabilitation jedenfalls vorrangig.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie entspricht billigem Ermessen, weil sie dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache folgt. Der hinsichtlich der aus § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V folgenden Kostenbeteiligung in Höhe von 447,02 EUR gegebene Unterliegensanteil der Klägerin ist im Verhältnis zu den Gesamtkosten der umstrittenen Leistung derart gering, dass eine auch nur teilweise Kostenbelastung der Klägerin nicht angezeigt war.

IV.

Nach Einschätzung des Senats liegen Gründe, die nach § 160 Abs. 2 SGG die Zulassung der Revision erforderten, nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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