S 8 U 107/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 8 U 107/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 247/15
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I.    Die Klage wird abgewiesen. 
 
II.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 
 
T a t b e s t a n d 
 
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) der Nr. 4302 (durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV). 
Die 1962 geborene Klägerin war zunächst als Sekretärin und im Büro beschäftigt. Seit Juni 1998 arbeitete sie als Flugbegleiterin bzw. Purserin bei der C., Standort A-Stadt. Eigenen Angaben zufolge flog sie sowohl Lang-, Mittel- als auch Kurzstrecke. Sie ist mit dem D. xx1, xx2, xx3, xx4, xx5 und E. xx6 und xx7 geflogen. Langstrecken habe sie sie überwiegend mit dem D. xx4, xx5-xx8 und der E. xx7-xx9 absolviert. Nachdem sie bei der C. zuvor voll beschäftigt gewesen war, reduzierte sie ihre Arbeitszeit ab 2005 auf 91,67% der Vollzeit und ab 1. Januar 2007 auf 72,05% der Vollzeit. Seit Januar 2008 war sie arbeitsunfähig erkrankt und seit 2009 fluguntauglich (318). 
Mit Schreiben vom 22. April 2009 zeigte sie der Beklagten an, sie habe am 19. Januar 2008 auf einem Flug erhebliche Atemnot, Kribbeln in den Beinen sowie eine Nasenschleimhautschwellung verspürt und sich körperlich extrem schlecht gefühlt. Seither hätten sich diese Beschwerden wiederholt. Sie habe den Verdacht auf eine Erkrankung durch organische Phosphatverbindungen, ausgelöst durch Tricresylphosphat (TCP), Ozon und Pestizide in der Kabinenluft. Im weiteren Verlauf legte sie der Beklagten zahlreiche Laborbefunde vor. 
Die Beklagte forderte Befundberichte bei den behandelnden Ärzten und eine Auskunft sowie die Akten des Rentenversicherungsträgers an. Der Internist und Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. F. teilte der Beklagten am 4. Juni 2009 (141) mit, dass bei der Klägerin normale statische und dynamische Lungenvolumina und keine Störung der Atemmechanik vorliege. Nach einem Provokationstest diagnostizierte er eine mittelgradige bronchiale Hyperreagibilität. Der Facharzt für Allgemeinmedizin, Umweltmedizin Dr. G. teilte am 18. Dezember 2009 (245) mit, die Klägerin leide an einer stark ausgeprägten Umwelt assoziierten Erkrankung mit der Ausprägungsform chronisches Erschöpfungssyndrom, stark ausgeprägter Schleimhautschädigung, besonders der Atemwege und des Verdauungstraktes durch die Exposition zu allergenen und schleimhautschädigenden/schleimhautirritierenden Umweltsubstanzen, einer pathologischen Immunreaktion im Sinne von überschießenden unkontrollierten Immunreaktionen bei uneingeschränkter immunologischer Leistungsfähigkeit, einer Reaktion in Bezug auf Intoleranzreaktionen vom Typ I und Typ IV, systemische Entzündungsreaktionen durch weiße Blutkörperchen und der pathologischen Bildung von Autoantikörpern, zusätzlich einer allergische Diathese, die nur zum geringen Teil mit der saisonalen Pollenflugsituation im Frühjahr zusammenhänge, sondern durch die ganzjährige Exposition zu Innenraumschimmelpilzen permanent unterhalten werde sowie schließlich einer Laktoseintoleranz homozygoter Form. Alle diese Analysen und Diagnosen würden die objektiv schwere umweltassoziierte Erkrankung der Klägerin bestätigen. Des Weiteren müsse von einer Verstärkung der Diagnosen durch die Exposition zu zum Teil hochgiftigen Mykotoxinen in den privaten Innenräumen der Klägerin gerechnet werden. Anamnestisch sei anzunehmen, dass die Exposition der Klägerin zu Schmierölen in typischen Flugzeugen, in dem Falle TCP, ebenfalls eine wesentliche Vorbereitung und Vorprägung der heutigen schweren Erkrankung darstelle (249). 
Im weiteren Verlauf des Verfahrens legte der Bevollmächtigte der Klägerin einen Artikel von H. aus der Welt am Sonntag vom 31. Januar 2010 (260) „Giftschwaden über den Wolken“ vor. In seiner Stellungnahme vom 2. Februar 2010 forderte er die Beklagte auf eine Quasi-Berufserkrankung anzuerkennen. Dies ergebe sich daraus, dass einer der zentralen Stoffe, das TCP, als solches hohe neurotoxische und wahrscheinlich auch immuntoxische Wirkung besitze. 
Der Geschäftsbereich Prävention der Beklagten erläuterte mit Zwischennachricht vom 16. November 2010 (315) und abschließender Stellungnahme vom 11. Januar 2012 (336), dass eine Gefährdung im Sinne der BK4302 für Kurz- und Mittelstreckenflüge unterstellt werden müsse. 
Durch Bescheid vom 24. Februar 2012 (395) stellte die Beklagte fest, dass keine BK 4302 vorliege, weil anhand der objektiven Befunde keine obstruktive Atemwegserkrankung nachgewiesen worden sei. Das Widerspruchsverfahren verlief erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2012). 
Hiergegen richtet sich die am 28. Juni 2012 erhobene Klage. 
Mit gerichtlicher Verfügung vom 6. Juni 2013 hat der Kammervorsitzende darauf hingewiesen, dass eine obstruktive Atemwegserkrankung nicht nachgewiesen sei, da die Lungenfunktionskontrolle einen unauffälligen Befund gezeigt habe. Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2013 hat der Bevollmächtigte behauptet, die Klägerin sei gegenüber Inhalations-Noxen, Reizstoffen und Reizgasen, bedingt durch die in die Kabine eingeleitete Zugluft, belastet gewesen. Folge dieser Belastung sei nicht nur eine unspezifische bronchiale Hyperreagibilität, sondern eine obstruktive Atemwegserkrankung. 

Die Klägerin beantragt, 

unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 24. Februar 2012 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2012 die Berufskrankheit der Klägerin gemäß der Listennummer 4302 anzuerkennen und zu entschädigen. 

Die Beklagte beantragt, 
     die Klage abzuweisen. 

Sie hält an ihren Bescheiden fest. Die Beteiligten haben übereinstimmend einer Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung durch die Kammer zugestimmt. 

Bezüglich der Anerkennung einer BK 1307 ist ein weiteres Klageverfahren unter S 8 U 67/12 anhängig. 
Zur weiteren Darlegung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des Verfahrens S 8 U 67/12 und die beigezogene Behördenakte (3 Bände) Bezug genommen. 
  
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
 
Die Klage, über die die Kammer mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, vgl. § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß §§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Streitgegenstand ist allein die Anerkennung einer BK 4302, denn in dem angefochtenen Bescheid vom 24. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2012 ist die Anerkennung einer BK 4302 abgelehnt worden. Über das geltend gemachte Entschädigungsbegehren kann die Kammer nicht in zulässiger Weise entscheiden, denn die Ablehnung einer konkreten Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung ist mit dem angefochtenen Bescheid nicht erfolgt. Vielmehr hat die Beklagte lediglich unbestimmte Entschädigungsleistungen abgelehnt. 
Die insoweit statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 24. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf die Feststellung einer BK 1307. 
Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen. 
Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine     Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R – in SozR 4 2700 § 9 Nr. 7 und vom 09. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.). 
In der Gruppe "43 Obstruktive Atemwegserkrankungen" erfasst die Liste unter Nr. 4302 "Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Die Anerkennung der BK Nr. 4302 der Anlage 1 der BKV setzt daher voraus, dass eine obstruktive Atemwegserkrankung im Vollbeweis nachgewiesen ist. Dies war bei der Klägerin nicht der Fall. 
Nach dem Wortlaut der Tatbestände der BK 4302 steht die Aufgabe der belastenden Tätigkeiten in einer zeitlichen Beziehung zur maßgeblichen Krankheit. Es geht um Krankheiten, die die Aufgabe von Tätigkeiten erzwungen haben, weil die Tätigkeiten   schon vorher - für die Entstehung oder Verschlimmerung der Krankheit ursächlich waren. Folglich muss die Krankheit schon bei der Entstehung des Unterlassungszwangs vorgelegen haben. Weiterhin muss die Aufgabe der Tätigkeit krankheitsbedingt erzwungen sein, d.h. die Tätigkeit muss bis zum Entstehen des Zwangs noch ausgeübt worden sein. Eine Tätigkeit ist dann aufgegeben, wenn die Versicherte diese objektiv und endgültig nicht mehr ausübt. Dies vorausgeschickt, ist eine obstruktive Atemwegserkrankung im zeitlichen Zusammenhang mit der Aufgabe der Tätigkeit der Klägerin nicht nachgewiesen. 
Der Begriff obstruktive Atemwegserkrankung umfasst verschiedene akute und chronische Krankheitsbilder. Er ist die Sammelbezeichnung für Krankheiten des broncho-pulmonalen Systems, die mit obstruktiven Ventilationsstörungen einhergehen. Der Nachweis einer obstruktiven Ventilationsstörung wird durch eine Lungenfunktionsprüfung erbracht. Für die obstruktive Ventilationsstörung ist die Sekundenkapazität FEV1 wichtigste Kenngröße, als absoluter Wert in Liter und als relativer Wert in Prozent der Vitalkapazität (VC). Die bei forcierter Exspiration gewonnenen Werte sollten nach Möglichkeit ergänzt werden durch die Messung des Atemwegswiderstandes (R). Bei einem FEV1 über 80% des Sollwertes und einem Atemwegswiderstand unter 0,35 kPa/l s liegt eine normale Lungenfunktion vor (vgl. zum Ganzen: Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. April 2011 – L 6 U 63/10 –, Rn. 31, juris m.w.N.). 
Gemessen hieran ist eine obstruktive Atemwegserkrankung in zeitlichem Zusammenhang mit der Aufgabe der Tätigkeit der Klägerin nicht im Vollbeweis nachgewiesen. Denn nach den Messungen des Medizinischen Dienstes der C. AG vom 26. März 2008 (176) betrug die FEV1 106% des Sollwertes. Im Ergebnis liegt daher eine überdurchschnittlich gute Ventilation vor. 
Dass der Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. F. in seinem Befundbericht vom 4. Juni 2009 (141) ein hyperreagibiles Bronchialsystem bzw. Asthma bronchiale diagnostizierte, gebietet keine andere Sicht der Dinge. Denn eine obstruktive Ventilationsstörung lässt sich nicht objektivieren. Zum einen betrug bei der Provokationstestung am 13. Oktober 2008 die FEV1 72% des Sollwertes, während der Atemwegswiderstand bei 0,09 lag. Die deutliche Unterschreitung des Sollwertes für den Atemwegswiderstand lässt nicht auf eine obstruktive Ventilationsstörung schließen, zumal Dr. F. selbst normale statische und dynamische Lungenvolumina und keine Störung der Atemtechnik attestierte. Ungeachtet dessen wurde die Atemwegserkrankung auch erst nach der Aufgabe der Tätigkeit diagnostiziert, was nicht ausreichend ist. 

Die Kammer musste sich nicht gedrängt sehen hinsichtlich der Atemwegserkrankung ein Gutachten einzuholen, da hinreichende Befunde für eine obstruktive Ventilationsstörung im zeitlichen Zusammenhang mit der Aufgabe der Tätigkeit der Klägerin nicht vorliegen. Solche Befunde sind auch seitens der Klägerin trotz des Hinweises des Kammervorsitzenden vom 6. Juni 2013 weder bezeichnet noch vorgelegt worden. Im Ergebnis kann daher nicht im Vollbeweis das Vorliegen einer Listenerkrankung im Sinne der BK 4302 nachgewiesen werden. 

Nach alledem war die Klage abzuweisen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
 
 

Rechtskraft
Aus
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