L 4 SO 36/17 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 11 SO 10/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 36/17 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 15. Februar 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt wird, dass der Widerspruch der Antragstellerinnen vom 6. Februar 2017 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2017 aufschiebende Wirkung hat.

Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen auch des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Den Antragstellerinnen wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt für den zweiten Rechtszug ohne Ratenzahlung ab Antragstellung bewilligt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der diese sinngemäß beantragt hat,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 15. Februar 2017 aufzuheben und den Eilantrag der Antragstellerinnen abzulehnen,

bleibt ohne Erfolg. Die Beschwerde ist zwar zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden, aber unbegründet.

Den Antragstellerinnen stehen die Leistungen, zu deren Gewährung das Sozialgericht die Antragsgegnerin verpflichtet hat, im Ergebnis zu. Allerdings folgt die Zahlungsverpflichtung der Antragsgegnerin nicht aus dem Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Auf § 86b Abs. 2 SGG kann nicht zurückgegriffen werden, weil Absatz 1 der Norm als vorrangige Bestimmung eingreift. Zwar liegt keine der dort ausdrücklich aufgezählten Konstellationen vor, § 86b Abs. 1 SGG ist aber auch dann   entsprechend - anzuwenden, wenn ein Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, diese Wirkung von der Behörde jedoch nicht beachtet wird (allgemeine Meinung, s. nur Keller; in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rn. 15). So verhält es sich hier.

Die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur (vorläufigen) Zahlung der Leistungen, zu denen sie erstinstanzlich verurteilt wurde, ergibt sich aus dem Bescheid vom 29. Dezember 2016, mit dem den Antragstellerinnen Leistungen in Höhe von insgesamt 758,14 € monatlich bewilligt wurden. Dieser Bescheid ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, durch den eine Regelung über die Gewährung von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuches (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe (SGB XII) auch über den Monat Januar 2017 hinaus getroffen wurde. Zwar hat die Beklagte den Bescheid durch weiteren Bescheid vom 16. Januar 2017 mit Wirkung ab dem 1. Februar 2017 aufgehoben. Der gegen diesen Aufhebungsbescheid eingelegte Widerspruch der Antragstellerinnen vom 6. Februar 2017 entfaltet jedoch aufschiebende Wirkung, so dass es bei der vorläufigen Zahlungspflicht der Antragsgegnerin aus dem Ursprungsverwaltungsakt bleibt.

Der Einstufung des Bescheides vom 29. Dezember 2016 als Dauerverwaltungsakt steht nicht die in dessen Text enthaltene Formulierung „Nach der Berechnung haben diese Personen ‹die Antragstellerinnen› insgesamt folgenden Anspruch auf Sozialhilfe für den Monat 1/2017“ entgegen. Denn da maßgeblich ist, wie der Empfänger aus objektivierter Sicht den Inhalt des Bescheides verstehen durfte und musste (sog. objektiver Empfängerhorizont, s. zu diesem Kriterium nur BSG, Urteil vom 27. Mai 2014 – B 8 SO 26/12 R – juris, Rn. 18) kommt es, neben dem Wortlaut des konkret betroffenen Verwaltungsaktes, für die Interpretation auch auf sonstige Umstände, wie z.B. den Inhalt vorheriger Bescheide, sonstiger Schriftstücke oder auch auf tatsächliches Verhalten der Beteiligten an.

Hiervon ausgehend, spricht für die Auslegung als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bereits, dass der Bescheid vom 29. Dezember 2016 in der Überschrift als „Bescheid über die Änderung von laufenden Leistungen nach dem SGB XII – Drittes Kapitel (Hilfe zum Lebensunterhalt)“ bezeichnet wird. Denn ein Änderungsbescheid kann nur vorliegen, wenn Leistungen auf Dauer, d.h. über den konkret bezeichneten Monat hinaus, bewilligt wurden. Beschränkt sich der Bewilligungszeitraum dagegen auf einen einzelnen Monat, sind später erlassene Bescheide, mit denen Leistungen für Folgemonate gewährt werden, Erst- und keine Änderungsbescheide. Die Antragsgegnerin hat sich im Übrigen auch bei den beiden weiteren, von ihr stammenden Bescheiden, mit denen sie den Antragstellerinnen Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII bewilligt hat, bei den Überschriften an der Terminologie, die bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung üblich ist, orientiert: den ersten gegenüber den Antragstellerinnen erlassenen Bescheid vom 21. Dezember 2015 hat sie als „Bescheid über die Gewährung von laufenden Leistungen nach dem SGB XII“ tituliert, den folgenden Verwaltungsakt vom 11. Januar 2016 wiederum als „Bescheid über die Änderung von laufenden Leistungen nach dem SGB XII“. Hinzu kommt, dass die Antragsgegnerin, obgleich von ihr in allen drei Bescheiden die Leistungen nur für einzelne Monate beziffert wurden, Leistungen in entsprechender Höhe auch für die nicht mehr konkret benannten Folgemonate erbracht hat. Ein objektiver Empfänger musste daher die Bewilligungsentscheidungen so verstehen, dass sie nicht nur für den jeweils konkret benannten Monat, sondern auch für den Zeitraum danach Wirkung entfalten und damit solange Grundlage für die jeweils ausgezahlten Leistungen sind, bis sie durch einen neuen Bescheid ersetzt werden. Ergänzende Regelungen oder sonstige Hinweise, die einer solchen Auslegung widersprechen könnten – etwa die Erklärung, der Bescheid entfalte Geltung nur für die Zeiträume, für die Leistungen tatsächlich ausgezahlt würden - enthalten weder der Bescheid vom 29. Dezember 2016 noch die beiden übrigen Bescheide.

Nicht zuletzt hat die Beklagte den Antragstellerinnen noch mit Schreiben vom 29. Dezember 2016 bescheinigt, dass diese Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen und dass die Leistung „bis auf weiteres“ gewährt wird. Auch dieses Schreiben ist bei der Auslegung des am gleichen Tage ergangenen Bescheides zu berücksichtigen und rechtfertigt es, diesen Bescheid aus Empfängersicht als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung einzustufen.

Eine andere Interpretation ist schließlich auch nicht aufgrund des Schreibens der Antragsgegnerin vom 20. Dezember 2016 gerechtfertigt. Dieses Schreiben kann schon deswegen nicht zur Deutung des Bescheides vom 29. Dezember 2016 als einer auf den Monat Januar 2017 beschränkten Leistungsgewährung herangezogen werden, weil sich das Schreiben und der Bescheid vom 29. Dezember 2016 gerade widersprechen. Mit dem vom 20. Dezember 2016 datierenden Schreiben hatte die Antragsgegnerin den Antragstellerinnen nämlich mitgeteilt, wegen einer Gesetzesänderung zum 1. Januar 2017 entfalle der Anspruch auf Sozialhilfeleistungen mit Ablauf des 31. Dezember 2016. Bis zur Ausreise könnten nur noch für längstens einen Monat eingeschränkte Leistungen gewährt werden. Die Antragstellerinnen wurden aufgefordert, bis zum 13. Januar 2017 Gründe mitzuteilen, weswegen Leistungen über den 31. Dezember 2016 hinaus zu erbringen seien. Hiernach wäre zu erwarten gewesen, dass die Antragsgegnerin den Antragstellerinnen für Januar 2017 - jedenfalls vor Abgabe einer Rückäußerung, die erst mit Schreiben vom 12. Januar 2017 erfolgte – gar keine Leistungen gewährt, zumindest aber keine Leistungen in der bisherigen Höhe. Dies hat die Antragsgegnerin mit dem Bescheid vom 29. Dezember 2016 jedoch nicht getan, sondern reguläre Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII bewilligt. Aus objektivierter Empfängersicht betrachtet hat die Antragsgegnerin daher mit dem Bescheid vom 29. Dezember 2016 nicht ihre in dem vor vorherigen Schreiben geäußerte Rechtsauffassung umgesetzt, sondern abweichend zu diesem Schreiben weiter Leistungen im bisherigen Umfang zugesprochen. Dies verbietet es, das Schreiben für die Auslegung des Bescheides mit heranzuziehen.

Ob, und falls ja, welche rechtlichen Folgen sich aus der Formulierung „Die Hilfegewährung erfolgt zunächst nur vorläufig ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ ergeben, kann hier dahingestellt bleiben, da – im Gegensatz zu den beiden vorherigen Verwaltungsakten – der Bescheid vom 29. Dezember 2016 diesen Zusatz nicht mehr enthält.

Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Beschwerde nur über den Zeitraum, für den erstinstanzlich eine Verurteilung erfolgte, zu entscheiden war (Leistungen vom 8. Februar 2017 bis einschließlich 30. Juni 2017, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung betreffend den Widerspruch der Antragstellerinnen vom 6. Februar 2017 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2017), weil die Antragstellerinnen ihrerseits keine Beschwerde gegen den sozialgerichtlichen Beschluss eingelegt haben. Eine Leistungspflicht der Antragsgegnerin über den 30. Juni 2017 hinaus besteht daher auf Grundlage des sozialgerichtlichen oder des hiesigen Beschlusses nicht. Auch darüber, ob den Antragstellerinnen höhere Leistungen, als ihnen durch den Bescheid vom 29. Dezember 2016 bewilligt wurden, zustehen könnten, war keine Entscheidung zu treffen, weil es schon keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Antragstellerinnen im Rahmen des vorliegenden Verfahrens höhere monatliche Leistungen, als ihnen mit diesem Bescheid zugesprochen wurden, begehren.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Auch die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren lagen vor.

Gemäß § 73a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ist einem Beteiligten auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Anforderungen sind vorliegend erfüllt. Die hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung ergeben sich aus den vorgenannten Ausführungen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe waren ebenfalls gegeben. Die Bewilligung hatte, in Anbetracht der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerinnen, wie sie sich aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 6. März 2017 ergeben, ratenfrei zu erfolgen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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