L 4 AY 10/18 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 20 AY 5/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 10/18 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. Juli 2018 dahingehend abgeändert, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. Mai 2018 angeordnet wird. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung dem Grunde nach verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für den Zeitraum vom 17. Mai 2018 bis 31. Oktober 2018 Leistungen in gesetzlicher Höhe auf der Grundlage von § 2 AsylbLG zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. B-Straße, B-Stadt, ratenfrei Prozesskostenhilfe für den Beschwerderechtszug gewährt.

Gründe

Die am 31. Juli 2018 erhobene Beschwerde des Antragstellers, mit der er sinngemäß beantragt,


den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. Juli 2018 aufzuheben, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. Mai 2018 anzuordnen und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab Antragstellung für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitraum Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) zu gewähren, 


ist zulässig. Sie ist nach §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Abgestellt werden kann zum einen auf die Beschwer in Gestalt der Differenz des Leistungsniveaus zwischen § 2 Abs. 1 AsylbLG und § 1a Abs. 1  AsylbLG seit Mai 2018; die entsprechenden Teilablehnungen könnten auch bei monatlich-isolierter Betrachtungsweise (dazu sogleich) zulässigerweise im Wege der Klagehäufung angegriffen werden, womit der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erreicht wird (monatlich mindestens 416 € - 151,11 € = 264,89 € zuzüglich der Kosten der Unterkunft für Juli). Zum anderen legt der Antragsgegner selbst den Absenkungsbescheid vom 2. Mai 2018 als Verwaltungsakt mit unbegrenzter Dauerwirkung aus, was bei der Ermittlung der Beschwer nicht zum Nachteil des Antragstellers unberücksichtigt bleiben darf.

Da der Zugang eines in den Akten des Antragsgegners befindlichen Widerspruchsbescheids vom 6. Juli 2018 bezüglich des Absenkungsbescheids vom 2. Mai 2018 (Bl. 5 d.A.) nicht zur Überzeugung des Senats feststeht und der Antragsteller bzw. seine Bevollmächtigte gegen alle etwaigen konkludenten abgesenkten Leistungsbewilligungen seit Juni 2018 Widerspruch eingelegt hat, sind auch Leistungen ab Antragstellung beim Sozialgericht am 17. Mai 2018 noch gegenwärtig einer Regelung durch eine einstweilige Anordnung zugänglich. Der fehlende Zugang des Widerspruchsbescheids erscheint insbesondere deshalb plausibel, weil der Antragsteller zum Zeitpunkt des Bescheiddatums Hausverbot in der Unterkunft in der Gemeinschaftsunterkunft C-Straße hatte, der Widerspruchsbescheid gleichwohl dorthin adressiert wurde.


Allerdings ist der nach Auffassung des Sozialgerichts allein statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur in Kombination mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 2. Mai 2018 zulässig. Der Antrag ist insoweit der Auslegung zugänglich, da erstinstanzlich der Antragsteller selbst ausdrücklich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragt hat. Die sofortige Vollziehbarkeit (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG, § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG) dieses feststellenden Bescheids nach § 1a Abs. 1 AsylbLG sperrt jedenfalls für Mai 2018 eine höhere Leistung, auch wenn der Bescheid keine Aufhebung der Leistungsbewilligung vom 15. Januar 2018 nach §§ 45 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) darstellt. Der Bescheid vom 15. Januar 2018, mit dem Leistungen auf der Grundlage von § 2 Abs. 1 AsylbLG bewilligt wurden, ist entgegen der Auffassung der Beteiligten kein über Januar 2018 hinaus wirkender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung; vielmehr wurden dem Antragsteller danach konkludent monatsweise Leistungen bewilligt. Der Bescheid vom 15. Januar 2018 enthält nämlich die Bestimmung: „Die ab 01.01.2018 festgesetzte Hilfe wird grundsätzlich nur für einen Monat bewilligt. Zahlungen, die dieser Bewilligung folgen, stellen eine Neubewilligung dar.“ Diese Formulierung erlaubt es nicht, in der Auszahlung eine Verlängerung der ursprünglich für einen Monat getroffenen Bewilligung zu einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu erblicken (zu einer solchen Konstellation siehe Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris, Rn. 18). Streitgegenstand eines Widerspruchs und einer Klage sind damit die nach § 33 Abs. 2 SGB X konkludent durch Überweisung des abgesenkten Betrages ergangenen monatsweise Teilablehnungen (vgl. zu dieser Auslegung auch BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, juris Rn. 11). Daher bedarf es zusätzlich eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. 

Die Beschwerde ist auch begründet.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 2. Mai 2018 ist anzuordnen.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG im Falle des hier einschlägigen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung aufgrund Bundesgesetzes (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG) nicht vor. Entscheidungserheblich ist, ob im Rahmen einer Interessenabwägung einem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes der Vorrang gegenüber schützenswerten Interessen des Adressaten einzuräumen ist. Jenseits aller Streitfragen zum Abwägungsmaßstab besteht Einigkeit in den Fällen der offensichtlichen Aussicht auf Erfolg oder Misserfolg in der Hauptsache. Sind Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung regelmäßig abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes grundsätzlich kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Sind dagegen Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet, ist dem Antrag zu entsprechen, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes bestehen kann.


Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 2. Mai 2018 ist offensichtlich begründet, da der Absenkungsbescheid vom 2. Mai 2018 bereits rechtswidrig ist, weil er entgegen § 14 AsylbLG nicht mit einer Befristung versehen wurde. Nach § 14 Abs. 1 AsylbLG sind Anspruchseinschränkungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf sechs Monate zu befristen. Diese Befristung hat in dem feststellenden Verwaltungsakt über die Anspruchseinschränkung zu erfolgen, da § 1a AsylbLG spätestens seit der Novellierung des AsylbLG durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 1722) und das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 1939) nicht mehr als selbstvollziehend ausgelegt werden kann, wie insbesondere die Normen der §§ 11 Abs. 4 Nr. 2 und § 14 Abs. 1 AsylbLG zeigen, die einen feststellenden Verwaltungsakt voraussetzen (Bayerisches LSG, Beschluss vom 19. März 2018 – L 18 AY 7/18 B ER –, juris, Rn. 21 und 24 m.w.N.). § 14 AsylbLG gilt ausnahmslos für alle Anspruchseinschränkungen, auch für solche, die an ein Verhalten anknüpfen, das nicht mehr verändert werden kann (Siefert, in: dies, AsylbLG, 2018, § 14, Rn. 7).

Im Wege der einstweiligen Anordnung war der Antragsgegner auch zur Gewährung höherer Leistungen zu verpflichten.


Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Gemessen an diesem Maßstab hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG glaubhaft gemacht. Hiernach ist abweichend von den §§ 3 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Da der Antragsgegner selbst vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen im Zeitraum vor der Leistungsabsenkung überzeugt war und aus seinem Vortrag im hiesigen Verfahren nichts Gegenteiliges folgt, schließt sich der Senat dieser Überzeugung nach eigener Prüfung der Verwaltungsvorgänge an.

Der Zeitraum von 12. Juni 2018 bis 19. Juli 2018, in dem der Antragsteller nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung in seiner Unterkunft und dem sich anschließenden Hausverbot obdachlos war, war nicht aus der einstweiligen Anordnung auszunehmen. Es liegen keine Hinweise dafür vor, dass sich der Antragsteller in diesem Zeitraum in rechtlich wesentlichem Umfang außerhalb des Kreisgebiets des Antragsgegners aufhielt. Vielmehr spricht die glaubhaft gemachte Kontaktaufnahme mit der Diakonischen Flüchtlingshilfe in D-Stadt ab 18. Juni 2018 bis Ende Juli 2018 für die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung, dass er sich bei Bekannten im Main-Kinzig-Kreis aufgehalten habe.

Zur Vermeidung von Folgestreitigkeiten wird auf Folgendes hingewiesen: Der Senat hat bereits zur Vorläuferregelung des § 1a Abs. 1 AsylbLG entschieden, dass sich der Umstand der unlauteren Einreiseabsicht verflüchtigt und verfassungsrechtlich der Übergang von den unabweisbar gebotenen existenzsichernden Leistungen zu den ungekürzten Grundleistungen geboten ist, wenn sich die Aufenthaltsperspektive des Ausländers objektiv zu einem längerfristigen oder gar absehbar dauernden Aufenthalt im Inland erweitert (Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris, Rn. 31). Hierbei kann an die zeitliche Grenze des § 2 AsylbLG angeknüpft werden. Auch der Gesetzgeber hat bei der Novellierung des Sanktionenrechts des AsylbLG darauf hingewiesen, dass sich Sanktionstatbestände gleichsam verbrauchen können: „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es, dass ein nicht mehr änderbares, zurückliegendes Fehlverhalten oder sogar ein bereits korrigiertes Fehlverhalten in einer Sanktion nicht unbegrenzt fortwirkt. Die Anspruchseinschränkung ist daher nach Absatz 2 nur bei einer Fortsetzung des pflichtwidrigen Verhaltens aufrechtzuerhalten“ (BT-Drs. 18/6185, S. 48). Insofern wird der Antragsgegner vor Erlass eines mit einer Befristung versehenen Absenkungsbescheids zu prüfen haben, ob die bereits im Jahr 2015 erfolgte und bestandskräftig gewordene Sanktionierung der Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs, das zwischenzeitliche Erreichen der Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG und die daraufhin erfolgte Leistungsbewilligung nach § 2 AsylbLG sowie die derzeit fehlende Ausreiseperspektive, die in der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung im Bescheid des BAMF vom 3. Juli 2018 zum Ausdruck kommt, jedenfalls in einer Gesamtschau einer Sanktionierung entgegenstehen.

Die Kostenentscheidung resultiert aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.

Rechtskraft
Aus
Saved