L 1 VE 28/18

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 VE 12/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 28/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. August 2018 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine anteilige Erstattung der Kosten für Betreuung und Pflege während einer Klassenfahrt.

Der Beklagte hat bei der 2002 geborenen Klägerin mit bindendem Bescheid vom 23. Juni 2005 die Folgen einer schädigenden Einwirkung im Sinne des § 1 Abs. 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) wie folgt festgestellt:

Allgemeine Entwicklungsstörung mit Sehbehinderung, Bewegungsstörungen und Hirnanfallsleiden nach Schütteltrauma.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (nachfolgend: Grad der Schädigungsfolgen <GdS>) wurde ab dem 1. Juli 2002 mit 100 festgestellt. Zusätzlich bewilligte der Beklagte eine Pflegezulage der Stufe V gemäß § 35 Abs. 1 BVG und eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe VI gemäß § 31 Abs. 5 BVG. Mit bindendem Bescheid vom 16. April 2007 gewährte der Beklagte rückwirkend ab 1. Juli 2002 zusätzlich eine Kleiderverschleißzulage nach § 15 BVG. Mit Bescheid vom 29. Juli 2009 wurden die bisherigen Feststellungen und Leistungen bestätigt und die Schädigungsfolgen wie folgt neu formuliert:

Allgemeine Entwicklungsstörung mit geistiger Behinderung, Bewegungsstörungen, Hirnanfallsleiden und Rindenblindheit nach Schütteltrauma.

Die Klägerin besucht die D-Schule, eine Schule für körperlich und geistig behinderte Kinder. Der Landeswohlfahrtsverband gewährt eine Schulbegleitung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG i.V.m. §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch Band XII - Sozialhilfe (SGB XII). In der Zeit vom 14. Juli 2014 bis zum 18. Juli 2014 nahm die Klägerin an einer Klassenfahrt teil. Der entsprechend beauftragte Verein „E. e.V.“ (E. e.V.) stellte der Klägerin für die „Schulassistenz und Fahrbegleitung“ für 24 Stunden täglich während der Klassenfahrt insgesamt 1.933,86 € in Rechnung, wobei 8 Stunden nachts (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) als Bereitschaft berechnet wurden (Rechnung vom 18. Juni 2014, Bl. 12 der Gerichtsakte). Auf einen bereits im Juni 2014 gestellten Antrag der Klägerin bewilligte der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) mit Bescheid vom 25. März 2015 im Rahmen der Eingliederungshilfe die Übernahme der Kosten für die Assistenzkraft und Fahrbegleitung für insgesamt 11 Stunden täglich bzw. 7,5 Stunden für den Abreisetag auf der Grundlage des § 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG i.V.m. §§ 53 ff. SGB XII und der Fahrt- und Unterkunftskosten der Assistenzkraft. Der LWV verwies auf den zwischen dem E. e.V. und der Stadt Kassel geschlossenen Vertrag, wonach bei Klassenfahrten max. 11 Betreuungsstunden am Tag finanziert werden könnten; der Rest sei aus Eigenmitteln zu bestreiten. Der LWV ging davon aus, dass die über die bewilligten 11 Betreuungsstunden pro Tag liegende Betreuungszeit den pflegerischen Bereich abdecke (Schreiben des LWV vom 1. September 2015, Bl. 33, 34 der Gerichtsakte). Der E. e.V. erteilte der Klägerin sodann am 2. April 2015 eine geänderte Rechnung über den verbleibenden Betrag von 723,92 €. Ein Vergleichsangebot des LWV vom 28. September 2016 (Bl. 45, 46 der Gerichtsakte) lehnte die Klägerin im Hinblick auf eine verbindliche Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen ab. Den Widerspruch der Klägerin wies der LWV mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2016 zurück (Bl. 55 bis 57 der Gerichtsakte). Darin stellte der LWV ergänzend darauf ab, dass die im Vertrag mit dem E. e.V. vereinbarte Klausel, die je nach Art und Schwere der Behinderung Ausnahmen vorsehe, im Fall der Klägerin nicht eröffnet sei. Zwar bestünden hinsichtlich Art und Schwere der Schädigung der Klägerin keinerlei Zweifel. Dem würde jedoch durch die Versorgungsbezüge der Versorgungsverwaltung (Grundrente, Pflegezulage, Schwerbeschädigtenzulage) ausreichend Rechnung getragen; diese Leistungen seien entsprechend für Mehraufwendungen für Betreuung und Pflege während der Klassenfahrt zu verwenden. Ein Klageverfahren ist beim Verwaltungsgericht Kassel anhängig (Az.: 5 K 3169/16 KS). 

Die anwaltlich vertretene Klägerin beantragte bereits am 9. Juni 2015 (Eingang bei dem Beklagten am 17. Juni 2015) die Übernahme der ungedeckten Kosten der Klassenfahrt in Höhe von 723,92 € im Rahmen der Verhinderungspflege. Verhinderungspflege nach § 39 Sozialgesetzbuch Band XI - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) sei zu leisten, wenn die Pflegeperson z.B. durch Erholungsurlaub an der Pflege gehindert sei. Verhinderungspflege sei aber auch zu zahlen, wenn der zu Pflegende selbst an einer Ferienmaßnahme oder einer Klassenfahrt teilnehme. Auch die Abwesenheit während einer Klassenfahrt diene der Entlastung des Pflegenden. Nach Erhebung einer Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Kassel (S 6 VE 31/15) lehnte der Beklagte den Antrag auf Kostenerstattung für Verhinderungspflege mit Bescheid vom 8. März 2016 ab. Eine Verhinderungssituation liege nicht vor, denn bei einer Klassenfahrt handele es sich ausdrücklich um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe und eine Verhinderung der Pflegeperson habe nicht vorgelegen. Für Maßnahmen der Eingliederung nach §§ 25 bis 28 BVG, insbesondere nach § 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG sei ausschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge - in Hessen der LWV - zuständig. Der LWV habe einen Anteil der Kosten in Höhe von 1.053,18 € übernommen. Für eine weitergehende Erstattung durch den Beklagten sei kein Raum. Eine Erhöhung der Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG komme nicht in Betracht, denn es lägen keine Gründe vor, die in der Person der Pflegenden, hier der Mutter, begründet seien. Die Klägerin widersprach dem Bescheid am 24. März 2016 und verwies darauf, dass sich die Mutter als Pflegeperson während der Klassenfahrt habe vertreten lassen; diese Kosten seien im Rahmen der Verhinderungspflege gemäß § 39 SGB XI zu erstatten. 

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2016 zurück. Zur Begründung führte er aus: § 39 SGB XI sei nicht anwendbar; Rechtsgrundlage im Opferentschädigungsrecht seien die Vorschriften des BVG, insbesondere § 35 BVG.“ Danach erhalte die Mutter der Klägerin als pflegende Person eine pauschale Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 BVG. Eine darüber hinausgehende Leistung komme nach § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG nur in Betracht, wenn wegen einer Verhinderung der Pflegekraft z.B. durch Urlaub, Kur oder Erkrankung vorübergehend Kosten für Verhinderungspflege entstehen. Eine Unmöglichkeit der Wahrnehmung der Pflegetätigkeit wegen Nichtteilnahme der Pflegeperson an einer Maßnahme der Leistungsberechtigten - hier wegen Nichtteilnahme der pflegenden Mutter an der Klassenfahrt - könne keine Berücksichtigung finden. Die Mutter sei nicht daran gehindert gewesen, die Pflege während der Klassenfahrt fortzuführen. Die Klägerin habe für die ungedeckten Kosten selbst aufzukommen, zumal während der Klassenfahrt die Versorgungsbezüge in ungekürzter Höhe zur Verfügung gestanden hätten und nicht nur Entschädigung für den gesundheitlichen Schaden, sondern vielmehr auch als Ausgleich für vorübergehende und sonstige schädigungsbedingte Mehraufwendungen gewährt würden.

Hiergegen hat die Klägerin am 21. Mai 2016 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben. Zur Klagebegründung hat sie ihr bisheriges Vorbringen vertieft und ergänzend vorgetragen: Der Beklagte gehe irrig davon aus, dass die Mutter der Klägerin von sich aus entschieden habe, nicht an der Klassenfahrt teilzunehmen. Eine Klassenfahrt sei eine schulische Veranstaltung, von der Eltern ausgeschlossen seien. Entsprechend sei Schulassistenz auch teilweise durch den LWV bewilligt worden; die ungedeckten Kosten seien im Rahmen der Verhinderungspflege gemäß § 35 Ab. 2 Satz 4 BVG durch den Beklagten zu gewähren. § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG sehe insbesondere keine abschließende Regelung vor, sondern lasse - wie § 39 SGB XI - Raum für weitere Gründe, welche die Verhinderung der Pflegeperson bedingten; dies sei vorliegend die erwünschte Abwesenheit der Mutter während der Klassenfahrt. Der Beklagte hat darauf verwiesen, dass die Klägerin die pauschale Pflegezulage der Stufe V in Höhe von 1.235,- € monatlich erhalte. Eine zeitweise Erhöhung der pauschalen Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG setze eine Verhinderung der Pflegeperson voraus. Auch wenn die ungedeckten Kosten auf überwiegend pflegerischer Betreuung beruhten, seien die verbleibenden Kosten in Höhe von 723,93 € durch die pauschale Pflegezulage in Höhe von 1.235 € zu bestreiten.

Das Sozialgericht Kassel hat die Klage mit Urteil vom 15. August 2018 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Ein Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung ergebe sich weder aus § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG noch aus § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI. Nach einer engen Auslegung des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG könne - neben Krankheit - nur ein damit vergleichbarer unfreiwilliger und ungeplanter Verhinderungsgrund, der in der Person des Pflegenden begründet sei, einen Anspruch auf Erhöhung der Pflegezulage rechtfertigen. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Die freiwillige Entscheidung, dass die Klägerin an einer Klassenfahrt teilnehme, stelle keinen von § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG erfassten Fall der „Verhinderungspflege“ dar. Ein Anspruch auf Erstattung von Kosten der Verhinderungspflege gemäß § 39 Abs. 1 XI gegen den Beklagten scheide aus, da ein Anspruch auf Pflegeleistungen nach dem SGB XI wegen des Leistungsbezuges nach § 35 BVG gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI ruhe.

Die Klägerin hat gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 17. August 2018 zugestellte Urteil am 17. September 2018 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben. Die Klägerin ist der Auffassung, § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG sei - angelehnt an die Formulierung des § 39 SGB XI - dahingehend auszulegen, dass der Ausschluss der Mutter der Klägerin von der Klassenfahrt einen Anspruch auf Verhinderungspflege „aus anderen Gründen“ begründe. Die unterschiedliche Gewährung von Verhinderungspflege in zeitlicher und finanzieller Hinsicht sei Ausdruck der Zielsetzungen des OEG bzw. BVG einerseits und des SGB XI andererseits und dürften nicht zur einer restriktiven Auslegung der Gründe, die einen Anspruch auf Verhinderungspflege gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG begründeten, herangezogen werden. Die Formulierung „insbesondere“ in § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG vor der Nennung der Verhinderung der Pflegeperson infolge einer Krankheit eröffne den Anwendungsbereich der Vorschrift für weitere Fallgestaltungen. Hierzu seien vergleichend die Regelung des § 39 SGB XI und die dazu entwickelte Rechtsprechung und Auslegung heranzuziehen. Im Zuge einer gebotenen weiten Auslegung der „anderen Gründe“, die zu einer Verhinderung der Pflegeperson an Ausübung der Pflege führten, sei Verhinderungspflege auch zu gewähren, wenn der Gepflegte wie hier an einer Klassenfahrt teilnehme und dadurch die Pflegeperson an der Pflege gehindert sei. Es stehe in einem solchen Fall entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts und des Beklagten der Pflegeperson nicht frei, ob sie die Pflege nicht ausführen wolle. Vielmehr sei ihr aus schulpolitischen Gründen die Teilnahme an der Klassenfahrt nicht möglich; sie könne insoweit keine freiwillige Entscheidung treffen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. August 2018 sowie den Bescheid des Beklagten vom 8. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten der Klassenfahrt vom 14. Juli 2014 bis zum 18. Juli 2014 in Höhe von 723,92 € als Verhinderungspflege zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verweist auf die angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist zulässig; das Sozialgericht Kassel hat mit Urteil vom 15. August 2018 ausdrücklich die Berufung zugelassen, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht Kassel hat die Klage mit Urteil vom 15. August 2018 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 8. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung ungedeckter Kosten für Betreuung und Pflege während einer Klassenfahrt weder nach den Grundsätzen der sogenannten Verhinderungspflege noch im Rahmen einer Erhöhung der Pflegezulage. 

§ 39 SGB XI bietet keine Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch. § 39 SGB XI gewährt einen Anspruch gegen die Pflegekasse auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Ersatzpflege, wenn eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaub, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert ist. Aber soweit Versicherte Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit nach § 35 BVG erhalten, ruhen Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI. Leistungen der Pflegeversicherung sind danach gegenüber den Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit nach dem Bundesversorgungsgesetz nachrangig. Der Gesetzgeber hat dieses Rangverhältnis in § 13 Abs. 1 SGB XI ausdrücklich festgelegt. Die Regelung über das Ruhen der Leistungsansprüche aus der sozialen Pflegeversicherung bei gleichzeitigem Bezug von Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit erfasst alle Arten von Leistungen nach dem SGB XI und differenziert nicht nach den konkreten Zweckbestimmungen der konkurrierenden Leistungen. Einbezogen sind sowohl die Sach- wie auch die Geldleistungen der Pflegeversicherung. Zu den vorrangigen Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zählt auch die Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG. Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach § 35 BVG sind stets Geldleistungen, auch wenn es sich um Fälle der erweiterten Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 bis 6 BVG handelt (BSG, Urteil vom 10. Oktober 2000, B 3 P 2/00 R m.w.N.). Die Klägerin bezieht aufgrund des Bescheids vom 23. Juni 2005 in Gestalt des Bescheids vom 29. Juli 2009 seit dem 1. Juli 2002 die pauschale Pflegezulage der Stufe V gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 BVG.

Die Klägerin hat aber auch keinen Anspruch auf Erstattung der bisher ungedeckten Kosten für Betreuung und Pflege während einer Klassenfahrt gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 35 Abs. 2 BVG.

In § 35 Abs. 2 BVG heißt es:
(2) Wird fremde Hilfe im Sinne des Absatzes 1 von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt. In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten. Entstehen vorübergehend Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson, ist die Pflegezulage für jeweils höchstens sechs Wochen über Satz 2 hinaus so zu erhöhen, dass den Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der vorübergehenden Entstehung der Kosten verbleibt. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend keine Pflegeleistungen erbringt; § 40a Abs. 3 Satz 3 gilt. 

§ 35 Abs. 2 Satz 1 BVG eröffnet ganz allgemein die Möglichkeit, die in Abs. 1 genannten (und vorliegend an die Klägerin gewährten) pauschalen Beträge der Pflegezulage zu erhöhen, wenn das Entgelt für arbeitsvertraglich geleistete Dienste diese Beiträge überschreitet. In Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 trifft das Gesetz eine Sonderregelung für den Fall, dass haushaltsangehörige Ehegatten bzw. Lebenspartner oder Elternteile neben der bezahlten Pflegekraft unentgeltlich Pflegeleistungen erbringen. Hierfür soll dem Beschädigten, dessen - ggf. erhöhte - Pflegezulage durch die Zahlung des Arbeitsentgeltes an die Pflegekraft sonst voll verbraucht würde, ein gewisser Betrag und zwar mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage, verbleiben. Nach § 35 Abs. 2 Satz 5 BVG gilt die Sonderregelung der Sätze 2 und 3 über die Höhe des zugunsten des Ehegatten/Lebenspartners oder Elternteil verbleibenden Teils der pauschalen Pflegezulage nicht, wenn der Ehegatte/Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend (d.h. länger als 6 Monate, § 40a Abs. 3 Satz 2 BVG) keine Pflegeleistungen erbringt, weil er daran durch eigene Krankheit vollständig gehindert ist oder weil er vom Pflegezulagenempfänger dauernd getrennt lebt und zur Übernahme von Pflegtätigkeiten nicht bereit ist. Im vorliegenden Fall wird die Klägerin unentgeltlich und ohne Abschluss eines entsprechenden Arbeitsvertrages durch ihre Mutter gepflegt, so dass weder § 35 Abs. 2 Satz 1 BVG noch § 35 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVG einschlägig sind.

§ 35 Abs. 2 Satz 4 BVG regelt, dass die pauschale Pflegezulage bei nur vorübergehender Verhinderung des Ehegatten/Lebenspartners oder Elternteils (d.h. unter 6 Monaten, § 40a Abs. 3 Satz 3 BVG) weitergezahlt und für den Zeitraum von höchstens 6 Wochen so erhöht wird, dass dem Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der Verhinderung, d.h. trotz der aufgrund der Verhinderung der Pflegeperson höheren Aufwendungen für die Hilfe Dritter, verbleibt. Hierdurch wird sichergestellt, dass die vorübergehende Verhinderung der Pflegeperson nicht zu finanziellen Einbußen bei der pauschalen Pflegezulage führt. Nach herrschender Meinung gilt diese Regelung unabhängig davon, ob die „entgeltliche“ Fremdpflegeperson im Sinne des § 35 Abs. 2 und 3 BVG oder Ehepartner/Lebenspartner bzw. Elternteil an der Pflege des Beschädigten vorübergehend verhindert sind (Rohr-Strässer, BVG- Loseblattkommentar, Stand Mai 2015, § 35.6.; Vogl in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 2012, § 35 Rdnr. 39; Heinz, Der Anspruch auf soziale Entschädigung im Pflegefall, ZfS 2007, 343, 351; Fehl, Der Anspruch auf erhöhte Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 BVG, ZfS 1992, 129 ff., 162 ff., 164). Die Klägerin bezieht - wie bereits dargelegt - aufgrund des Bescheids vom 23. Juni 2005 in Gestalt des Bescheids vom 29. Juli 2009 seit dem 1. Juli 2002 die pauschale Pflegezulage der Stufe V gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 BVG und hat auch für den Monat Juli 2014, in dem die Klassenfahrt stattfand, unstreitig die Pflegezulage der Stufe V ungekürzt erhalten.

Die gesetzlichen Voraussetzungen der Erhöhung der pauschalen Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG liegen jedoch nicht vor.

Die Erhöhung der Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG setzt voraus, dass infolge einer Verhinderung der Pflegeperson vorübergehend Kosten für eine fremde Hilfe entstehen. Das Gesetz nennt hierzu beispielhaft und nicht abschließend die Krankheit der Pflegeperson. Nach Auffassung des Senats ist die Erhöhung der Pflegepauschale gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG nicht auf den Verhinderungsgrund „Krankheit der Pflegeperson“ begrenzt, sondern auch andere unmittelbar in der Person der Pflegeperson liegende Ursachen, die sie an der Pflege des Beschädigten hindern, rechtfertigen eine Erhöhung der Pflegepauschale, wie z.B. stationäre Rehabilitation oder Urlaub, also insbesondere Maßnahmen, die dem Erhalt der Fähigkeit der Pflegeperson dienen, den Beschädigten weiter zu pflegen (vgl. auch: Fehl, Der Anspruch auf erhöhte Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 BVG, ZfS 1992, 129 ff., 162 ff., 164). Entsprechend hat der Beklagte bereits mehrfach die Kosten der Unterbringung der Klägerin in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung während des Erholungsurlaubs der Mutter der Klägerin gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG als „Verhinderungspflege“ übernommen (z.B. Bescheide vom 14. Mai 2012, 28. August 2012, 24. März 2013 etc.).

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass zur Definition eines Verhinderungsgrundes im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XI die Vorschrift des § 39 Abs. 1 Satz SGB XI und die hierzu ergangene Rechtsprechung und Literatur herangezogen werden können, da beide Vorschriften inhaltlich an die „Verhinderung der Pflegeperson“ anknüpfen. 

In § 39 Abs. 1 Satz 1SGB XI (Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson) heißt es:

Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegekasse die nachgewiesenen Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens sechs Wochen je Kalenderjahr; § 34 Absatz 2 Satz 1 gilt nicht.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Regelung des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG nicht enger auszulegen als die entsprechende Formulierung in § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI. Beide Vorschriften regeln die in der Person des Pflegenden begründeten Verhinderungsgründe nicht abschließend. Zudem ist es - wie dargelegt - in der Literatur und Praxis unstreitig, dass neben Erkrankung der Pflegeperson auch deren Erholungsurlaub oder erforderliche Rehabilitationsmaßnahmen anerkannte Verhinderungsgründe im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG sind (vgl. Fehl, Der Anspruch auf erhöhte Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 BVG, ZfS 1992, 129 ff., 162 ff., 164 m.w.N.). Dies wird vom Beklagten im Fall des Erholungsurlaubs der Mutter der Klägerin auch so praktiziert (s.o.). 

Nach § 39 Abs. 1 Satz SGB XI muss die Pflegeperson durch Krankheit, Urlaub oder vergleichbar anerkennenswerte Gründe verhindert sein. An den benannten Beispielen wird das gesetzgeberische Anliegen deutlich, den ehrenamtlich Pflegenden Regenerationsphasen zuzubilligen, um auf diese Weise ihre Pflegebereitschaft für die Zukunft zu erhalten bzw. wieder zu stärken (vgl. BT-Drs. 12/5262 S. 113). Die beispielhafte Aufzählung der Verhinderungstatbestände in § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI ist - wie in § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG - nicht abschließend, so dass auch nicht genannte Gründe in Betracht kommen. Erforderlich ist aber ein Verhinderungsgrund, der ähnliches Gewicht besitzt (Leitherer in: Kasseler Kommentar, Stand: März 2017 § 39 SGB XI Rdnr. 12; Richter in: LPK-SGB XI, § 39 Rdnr. 7). In Betracht kommen nicht nur äußerlich zwingende Umstände, sondern - wie z.B. der Urlaub - auch auf eigener Entscheidung der Pflegeperson beruhende Verhinderungen. Der Begründung des Gesetzesentwurfs zufolge soll beispielsweise die Erkrankung naher Angehöriger der Pflegeperson ausreichen (BT-Drs. a.a.O.). Im Schrifttum werden außerdem ausbildungsbedingte Abwesenheiten, familiäre Hilfen an anderem Ort oder die dringende Erledigung eigener Angelegenheiten genannt (vgl. Richter in: LPK-SGB XI, § 39 Rdnr. 7 mit weiteren Beispielen). Die Rechtsprechung hat beispielsweise die Berufstätigkeit eines pflegenden Elternteiles (BSG, Urteil vom 6. Juni 2002, B 3 P 2/02 R) oder innerhäusliche Arbeiten der Pflegeperson, die ihre Aufmerksamkeit kurzfristig so in Anspruch nehmen, dass sie nicht mehr in dem erforderlichen Maß zur Betreuung des Pflegebedürftigen in der Lage ist (LSG Hamburg, Urteil vom 18. Dezember 2001, L 1 P 6/99), als ausreichende Gründe anerkannt. Weitere Beispiele sind die Teilnahme an einem Familientreffen an anderem Ort, zu dem der Pflegebedürftige nicht mitgenommen werden kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Mai 2007, L 4 P 2963/06) oder ein operationsbedingter Krankenhausaufenthalt mit anschließender Rehabilitation (LSG Niedersachsen, Urteil vom 13. August 2003, L 3 P 18/02). 

Teilweise wird im Schrifttum § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X dahingehend erweiternd ausgelegt, dass der Pflegende auch durch einen Umstand, der in der Person des zu Pflegenden liegt, an der Pflege gehindert sein kann. So wird z.B. vertreten, dass Leistungen gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI auch bei einer Urlaubsreise des Pflegebedürftigen in Betracht kommt, die dieser ohne Begleitung des Pflegenden unternimmt (vgl. Schomburg HdbSozV § 39 Kap 3-46/2; Hübsch/Meindl PflegeV § 39 Rdnr. 2 - beide zit. nach Linke in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung - Pflegeversicherung, Loseblattkommentar, Stand September 2008, § 39 Rdnr. 7; ferner die Antwort des Bundesministeriums für Gesundheit auf die Anfrage Nr.136, BT-Drs. 14/5898 S. 78 f.). Begründet wird dies u.a. damit, dass diese Fallkonstellation grundsätzlich mit der Situation einer berufsbedingten Abwesenheit der Pflegeperson vergleichbar sei: Dort entferne sich die Pflegeperson aus beruflichen Gründen, hier sei sie aus diesen Gründen nicht zur Begleitung des zu Pflegenden in der Lage.

Der Senat teilt diese Meinung nicht, sondern ist der Auffassung, dass ein Verhinderungsgrund - so wie ihn § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI und auch der vorliegend einschlägige § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG voraussetzt - ausschließlich in der Person des Pflegenden begründet sein muss. Maßgeblich ist, dass die Pflegeperson in der Zeit eines Urlaubs (oder einer Klassenfahrt) des Beschädigten grundsätzlich pflegebereit und gerade nicht verhindert ist. Für eine engere Auslegung spricht zudem der Wortlaut sowohl des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI als auch des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG, der jeweils die Verhinderung der Pflegeperson voraussetzt. Anders mag es liegen, wenn in derselben Zeit die Pflegeperson ebenfalls Urlaub macht oder aus anderen Gründen i.S.v. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI bzw. § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG verhindert wäre (vgl. BSG, Urteil vom 17. Mai 2000, B 3 P 9/99 R, das darauf abstellt, dass der Pflegeperson „der Urlaub von der Pflege“ ermöglicht wird; siehe auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Mai 2007, L 4 P 2828/06: Urlaub der Pflegeperson, die nervlich nicht zur Fortführung der Pflege in der Lage ist; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, SGB XI § 39 Rdnr. 6   8). Die Durchführung einer Urlaubsmaßnahme des Pflegebedürftigen gehört nicht zum Pflegebereich. Sie kann bei jedoch Eingliederungshilfe für den behinderte pflegebedürftigen Menschen sein (Mrozynski, Pflege zischen Versicherung und Sozialhilfe, SGb 1996, 629; OVG Münster, FEVS 29, S. 149: Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz). 

Nach Auffassung des Senats ist die Ortsabwesenheit der Klägerin während einer Klassenfahrt kein in ihrer Pflegeperson, d.h. in der Person ihrer Mutter liegender Verhinderungsgrund. Es mag sein, dass pädagogische Gründe der Pflege eines pflegebedürftigen Schülers durch ein Elternteil während einer Klassenfahrt entgegenstehen und eine Pflege durch ein Elternteil mittelbar „verhindern“. Ursache dafür ist jedoch ausschließlich die auch während einer Klassenfahrt bestehende Schulpflicht und die hieraus resultierende Ortsabwesenheit des pflegebedürftigen Beschädigten, nicht aber ein in der Person des pflegenden Elternteils bestehender Verhinderungsgrund, so dass ein Anspruch auf eine erhöhte Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG ausscheidet. 

Entgegen der Auffassung der Klägerin rechtfertigt der Gesetzeszweck des Opferentschädigungsgesetzes keine „erweiternde“ Auslegung der Voraussetzung „Verhinderung der Pflegeperson“. Der Wortlaut der Formulierung in § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG ist eindeutig und stimmt insoweit inhaltlich auch mit § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB XI überein. Dem besonderen Entschädigungsgedanken wird durch die verschiedenen Leistungen nach dem OEG i.V.m. dem BVG Rechnung getragen; insbesondere die der Klägerin gewährte Pflegepauschale der Stufe V übersteigt die Leistungen der Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege in erheblichem Umfang (aktuell: Pflegestufe V: 1.299,- €; Pflegegeld bei Pflegegrad 4: 728,- €).

Eine notwendige Beiladung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen gemäß § 75 Abs. 2 SGG kam vorliegend nicht in Betracht. Beim Verwaltungsgericht Kassel ist eine Klage auf Erstattung der ungedeckten Kosten der Klassenfahrt als (einkommensabhängige) Leistung der Eingliederungshilfe gemäß § 27d Abs. 1 Nr. BVG i.V.m. §§ 53 ff. SGB XII i.V.m. § 7 Abs. 2 OEG anhängig (Az.: 5 K 3169/16 KS).

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten, § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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