L 7 AL 39/20

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 15 AL 144/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AL 39/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

I.    Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. März 2020 wird zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Erstattung überzahlten Arbeitslosengeldes nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III).

Die 1961 geborene Klägerin war bis zum 29. Februar 2016 als Verwaltungsangestellte an der B. Universität in A-Stadt beschäftigt. Sie erhielt eine Abfindung (§§ 9, 10 KSchG) in Höhe von 10.000,00 € sowie eine Urlaubsabgeltung.

Sie meldete sich am 2. Februar 2016 zum 1. März 2016 bei der Beklagten persönlich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld (Bl. 12 der Verwaltungsakte der Beklagten, künftig: VA). Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 16. März 2016 (Bl. 25 VA) in Gestalt des Änderungsbescheides vom 10. Mai 2016 (Bl. 63 VA) Arbeitslosengeld ab 1. März 2016 für eine Anspruchsdauer von 450 Kalendertagen mit einem täglichen Leistungsentgelt i.H.v. 0,- € bis einschließlich 7. März 2016 (Urlaubsabgeltung, § 157 Abs. 2 SGB III), sodann i.H.v. 56,20 €. Zugleich übernahm die Beklagte die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin i.H.v. 314,43 € bis 31. März 2016, 393,04 € bis 30. April 2016 und 439,72 € monatlich ab 1. Mai 2016. 

Nach Mitteilung der Hochschulbezügestelle (Bl. 89 VA), dass der abgegoltene Urlaub bis einschließlich 20. April 2016 angedauert hätte, wenn er im Anschluss an das Arbeitsverhältnis genommen worden wäre, hob die Beklagte die Bewilligung bis einschließlich 20. April 2016 auf und forderte von der Klägerin die Erstattung des Arbeitslosengeldes i.H.v. 2.472,80 € sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.H.v. 314,43 € (Änderungsbescheid vom 23. Mai 2016, Bl. 73 VA; Bescheid vom 30. Juni 2016, Bl. 84 VA; Erstattungsbescheid vom 30. Juni 2016, Bl. 86 VA; Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 1. August 2016, Bl. 99 VA; Änderungsbescheid vom 1. August 2016, Bl. 109 VA; Widerspruchsbescheid vom 8. September 2016, Bl. 123 VA).

Der Beitrag zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin stieg ab 1. Januar 2017 auf insgesamt 444,44 € (Bl. 144 VA). Mit Erstattungsbescheid vom 8. März 2017 forderte die Beklagte die Klägerin zur Erstattung von 4,78 € für den Zeitraum Januar bis Februar 2017 wegen der Änderung des Beitragssatzes auf und ordnete die Aufrechnung an (Bl. 145 VA).

Aufgrund der Mitteilung einer befristeten Selbstständigkeit vom 26. Juni bis 6. Juli 2017 hob die Beklagte die Bewilligung für diesen Zeitraum auf und bewilligte Arbeitslosengeld vom 7. bis 31. Juli 2017 (Änderungsbescheid vom 14. Juni 2017, Bl. 160 VA). Die Klägerin erhielt Arbeitslosengeld bis 31. Juli 2017. Sie teilte sodann mit, dass sie vom 24. Juli bis 17. August 2017 erneut befristet selbstständig tätig sei.

Bereits mit Schreiben vom 12. Dezember 2016 (Bl. 131 VA) hatte die Klägerin die Überprüfung der ursprünglichen Bewilligung im Hinblick darauf beantragt, dass sie am 5. Mai 2016 ihr 55. Lebensjahr vollendet hatte. Sie begehre die Gewährung von Arbeitslosengeld somit in Ausübung des ihr zustehenden Dispositionsrechtes erst ab 5. Mai 2016 und sei bereit, das Arbeitslosengeld für den Zeitraum davor zurückzuzahlen. Die Beklagte lehnte die Überprüfung ab (Bescheid vom 27. Dezember 2016, Bl. 136 VA; Widerspruchsbescheid vom 16. März 2017, Bl. 151 VA). Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Az. S 15 AL 103/17) erkannte die Beklagte das klägerische Begehren am 22. Juni 2018 an.

In Ausführung des Anerkenntnisses ergingen drei Bescheide am 19. September 2018. Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 19. September 2018 wurde die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. April bis 4. Mai 2016 unter Bezugnahme auf § 45 SGB X zurückgenommen. Für diesen Zeitraum sowie für den Zeitraum vom 24. bis 31. Juli 2017 sei das Arbeitslosengeld i.H.v. 1.236,40 €, sowie die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.H.v. 570,19 € zu erstatten. Von der Gesamtforderung i.H.v. 1.806,59 € würden 1.236,40 € mit den Ansprüchen auf Nachzahlungen aufgerechnet. Eine Verrechnung mit den Beiträgen sei technisch nicht möglich (Bl. 175 VA). Mit weiterem Bescheid vom 19. September 2018 hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld vom 1. April bis 4. Mai 2016 und vom 24. bis 31. Juli 2017 auf und forderte die Klägerin zur Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für diesen Zeitraum i.H.v. 570,19 € auf (Bl. 173 VA). Mit Änderungsbescheid vom 19. September 2018 wurde der Klägerin Arbeitslosengeld ab 5. Mai 2016 mit einem täglichen Leistungsbetrag i.H.v. 56,20 € mit Ausnahme des Zeitraums 26. Juni bis 6. Juli 2017 und 24. Juli bis 17. August 2017 (eigene Abmeldung aus dem Leistungsbezug) für eine Gesamtanspruchsdauer von 540 Kalendertagen bewilligt. Übernommen wurden zudem die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung für den Bewilligungszeitraum. Für den Zeitraum 5. Mai bis 28. Februar 2017 wurde kein Abzug vom täglichen Leistungsbetrag vorgenommen, für den 1. März 2017 i.H.v. 4,78 €, sowie vom 18. August bis 8. September 2017 in Höhe des vollen täglichen Leistungsbetrags i.H.v. 56,20 € (Bl. 181 VA).

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch (Bl. 192 VA). Eine rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheids sei mangels Vorliegen der Voraussetzungen nicht möglich. Zudem sei die Jahresfrist für die rückwirkende Aufhebung aufgrund des bereits im Dezember 2016 gestellten Überprüfungsantrags abgelaufen und es mangele auch an der erforderlichen Anhörung.

Mit Schreiben vom 28. Februar 2019 (Bl. 202 VA) hörte die Beklagte die Klägerin sodann dazu an, dass ihr vom 1. April bis 4. Mai 2016 und vom 24. Juli bis 31. Juli 2017 Arbeitslosengeld i.H.v. 1.236,40 € zu Unrecht gezahlt worden sei. Daraus ergebe sich ebenso eine zu Unrecht erfolgte Zahlung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.

Mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 2019 (Bl. 206 VA) wurde der Widerspruch gegen die Bescheide vom 19. September 2018 als unbegründet zurückgewiesen, wobei die Beklagte nunmehr die Aufhebung auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X stützte.

Hiergegen hat die Klägerin am 8. Mai 2019 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Sie verweist darauf, dass sie das Arbeitslosengeld bis 11. April 2016 bereits zurückgezahlt habe. Darüber hinaus sei eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld nicht mehr möglich. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, dass über § 50 Abs. 2 SGB X die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X zu beachten sei, die vorliegend im Hinblick auf den Überprüfungsantrag nicht eingehalten worden sei.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Bescheide der Beklagten vom 19. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 im Hinblick auf die Aufhebung der Bewilligung vom 21. April bis 4. Mai 2016 sowie die diesbezüglichen Erstattungsforderungen aufzuheben.

Dem ist die Beklagte entgegengetreten. Die Berufung der Klägerin darauf, dass die Entscheidung nicht mehr aufgehoben werden könne, verstoße jedenfalls gegen Treu und Glauben, wenn die Klägerin zunächst gegen den Bewilligungsbescheid hinsichtlich des Beginns der Gewährung von Arbeitslosengeld klage, um nachträglich ihre Dispositionsbefugnis - Beginn des Anspruchs erst am 5. Mai 2016 - auszuüben, und sich sodann gegen die aufgrund des eigenen Klageerfolgs nach Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung geltend gemachte Forderung - Erstattung der erbrachten Leistungen bis 4. Mai 2016 - zu wenden. Sofern bereits vor Entscheidung über den Anspruch der 5. Mai 2016 als Beginn des Anspruchs festgelegt worden wäre, wäre es zu keiner Zahlung vor diesem Termin gekommen.

Mit Urteil vom 2. März 2020 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage abgewiesen.

Streitgegenständlich seien die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 19. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 hinsichtlich der Aufhebung des Arbeitslosengeldes und der Erstattungsforderung bezüglich des Zeitraums 21. April bis 4. Mai 2016, die die Klägerin mit einer isolierten Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG angreife.

Die zulässige Klage sei unbegründet. Die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 19. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 seien bezüglich des streitgegenständlichen Zeitraums rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Bewilligungsentscheidung sei vorliegend aufgrund einer Änderung der Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X für den Zeitraum 21. April bis 4. Mai 2016 aufzuheben gewesen. §§ 44, 45 Abs. 1 SGB X seien nicht einschlägig, da die Bewilligung ab 21. April 2016 durch Bescheid vom 16. März 2016, Änderungsbescheid vom 10. Mai 2016, Änderungsbescheid vom 23. Mai 2016 und Änderungsbescheid vom 1. August 2016 rechtmäßig gewesen sei.

Nach § 44 SGB X sei ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden seien.

Nach § 45 SGB X dürfe ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt habe (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig sei, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Nach § 48 SGB X solle ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung eintrete, und soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolge, der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei, nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden sei, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sei.

Nach § 330 Abs. 2 und 3 Drittes Sozialgesetzbuch (SGB III) seien Verwaltungsakte bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen aufzuheben.

Ob eine Aufhebung den Voraussetzungen der §§ 44 oder 45 SGB X oder § 48 SGB X unterliege, bestimme sich nach dem Zeitpunkt der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, sowie zwischen § 44 Abs. 1 und § 45 Abs. 1 SGB X, ob der Ausgangsverwaltungsakt begünstigend oder nicht gewesen sei. Habe die Rechtswidrigkeit bereits bei Erlass des Bewilligungsbescheids vorgelegen, seien die §§ 44, 45 SGB X aufgrund anfänglicher Rechtswidrigkeit anzuwenden. Trete die Rechtswidrigkeit aufgrund Veränderung der Verhältnisse erst nach Erlass des Bescheides ein, sei § 48 SGB X anzuwenden. Unerheblich sei, auf welche Voraussetzungen die Behörde einen Bescheid gestützt habe. Das Gericht prüfe lediglich den Verfügungssatz, die Aufhebung der Entscheidung, ohne hierbei an die genannte Rechtsgrundlage gebunden zu sein.

Zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung sei die Entscheidung der Beklagten rechtmäßig gewesen, da die Klägerin noch nicht von ihrem Recht auf Verschiebung des Beginns des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach § 137 Abs. 2 SGB III Gebrauch gemacht habe. Mangels vorheriger anderslautender Erklärung der Klägerin habe daher ihre persönliche Arbeitslosmeldung nach § 323 Abs. 1 S. 2 SGB III vom 2. Februar 2016 zum 1. März 2016 zugleich als Antrag auf Arbeitslosengeld gegolten; zum 1. März 2016 seien die weiteren Voraussetzungen des §§ 137 bis 143 SGB III erfüllt gewesen. Die Klägerin sei arbeitslos gewesen, habe sich persönlich arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt gehabt. Der Anspruch habe sodann nach § 157 Abs. 2 SGB III wegen erhaltener Urlaubsabgeltung bis einschließlich 20. April 2016 geruht. Erst mit dem Schreiben vom 12. Dezember 2016 habe die Klägerin dieses Recht geltend gemacht, dass ihr grundsätzlich nur bis zur ersten Entscheidung der Beklagten mit Bewilligungsbescheid vom 16. März 2016 zugestanden habe. Die Nichtaufklärung über dieses Recht durch die Beklagte entgegen § 14 S. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) führe nicht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung der Beklagten, sondern im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs lediglich zu einem Anspruch der betroffenen Person auf Anwendung des § 137 Abs. 2 SGB III auch nach Entscheidung über den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Ebenso scheide § 47 Abs. 1 SGB X als maßgebliche Grundlage aus, da eine Änderung der Verhältnisse eingetreten sei. Eine Änderung der Verhältnisse in tatsächlicher Hinsicht nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X sei durch die Erklärung der Klägerin, dass sie den Anspruchsbeginn auf ihren 55. Geburtstag (5. Mai 2016) verschieben wolle und den sich daraus ergebenden späteren Beginn des Arbeitslosengeldes eingetreten. Die daraus folgende Abänderung der Bewilligung durch die Bescheide vom 19. September 2018, insbesondere die Aufhebung der Entscheidung bis 4. Mai 2016 sei zugunsten der Klägerin i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X erfolgt.

Zugunsten des Betroffenen erfolge jede Änderung, durch die dieser eine rechtliche Besserstellung erfahre. Seien sowohl begünstigende als auch belastende Elemente vorhanden, erfolge eine Änderung nur dann zugunsten der betroffenen Person, wenn sie der infolge der Änderung zu erlassende Verwaltungsakt im Vergleich zu dem aufzuhebenden Verfügungssatz im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X "per saldo" begünstige (BSG Urt. vom 9. Juni 1988 - 4/1 RA 57/87). In diese Beurteilung seien alle Umstände des Einzelfalles einzubeziehen. 

Nach diesen Grundsätzen begünstige die Entscheidung der Beklagten, den Anspruchsbeginn auf den 5. Mai 2016 zu verschieben, die Klägerin gegenüber dem vorherigen Rechtszustand. Den belastenden Elementen, Aufhebung der Entscheidung vom 21. April bis 4. Mai 2016 sowie der sich daraus ergebenden Erstattungsforderungen hinsichtlich des überzahlten Arbeitslosengeldes nach § 50 Abs. 1 SGB X und der gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nach § 335 Abs. 1 SGB III stünden erhebliche Vorteile gegenüber, da sich der Gesamtanspruch der Klägerin um drei volle Monate, entsprechend 90 Kalendertagen, aufgrund der neuen Altersstufe ab 5. Mai 2016 nach § 147 Abs. 2 SGB III und der Erfüllung der Anwartschaft von 36 Kalendermonaten, verlängere (vgl. hierzu obiter dictum in BSG Urt. v. 5. September 2006 - B 7a AL 70/05 R, Rn. 21 - juris).

Etwas anderes ergebe sich zudem nicht aus dem Anerkenntnis der Beklagten im Ausgangsverfahren S 15 AL 103/17. Maßgeblich für den Inhalt eines Anerkenntnisses im gerichtlichen Verfahren sei der geltend gemachte Anspruch. Die Klägerin habe im Ausgangsverfahren einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erst ab 5. Mai 2016 entgegen der vorherigen Bewilligung ab 1. März 2016 (mit Zahlungsanspruch ab 21. April 2016) geltend gemacht und eine Abänderung der Bewilligungsentscheidung hinsichtlich des Beginns entsprechend begehrt. Dies habe die Beklagte anerkannt und auch ausgeführt. Unerheblich sei zudem, dass die Beklagte in Ausführung dieses Anerkenntnisses mehrere Bescheide erlassen habe. Es handele sich um eine einheitliche Entscheidung der Beklagten, Verschiebung des Anspruchsbeginns auf den 5. Mai 2016, die zwingend die Aufhebung der bestehenden vorherigen Bewilligungsentscheidung bedinge. Denn ohne die Aufhebung würde die vorherige Bewilligungsentscheidung, zuletzt mit Änderungsbescheid vom 1. August 2016, weiterhin Rechtsgeltung beanspruchen und der Erhöhung der Gesamtanspruchsdauer ab 5. Mai 2016 auf 540 Kalendertage aufgrund des früheren Anspruchsbeginns entgegenstehen, mithin das Begehren der Klägerin behindern.

Fristen habe die Beklagte hierbei nicht zu berücksichtigen gehabt. Insbesondere die Verweisung des § 48 Abs. 4 S. 1 SGB X auf die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X sei nach § 48 Abs. 4 S. 2 SGB X bei Fällen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X nicht anzuwenden. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X sei zudem nicht über die Regelung des § 50 Abs. 2 SGB X zu berücksichtigen. Denn es liege kein Sachverhalt des § 50 Abs. 2 SGB X vor. Diese Regelung betreffe den Fall, dass eine Behörde Leistungen ohne Bewilligungsbescheid erbringe und diese sodann zurückfordere. Dies sei vorliegend offensichtlich nicht gegeben. Eine entsprechende Anwendung aus teleologischen Gründen komme ebenso nicht in Betracht. Denn es fehle bereits an einer Regelungslücke, da eine gesetzgeberische Entscheidung zur Anwendbarkeit der Jahresfrist auf den vorliegenden Fall gegeben sei. Wie oben ausgeführt sei bei Vorliegen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X die Einhaltung der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X nach § 48 Abs. 4 S. 2 SGB X unerheblich.

Die Beklagte habe einen Anspruch auf Erstattung überzahlten Arbeitslosengeldes vom 21. April bis 4. Mai 2016 i.H.v. 786,80 €. Danach seien bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden sei. Nach bereits bis zum 20. April 2016 erfolgter Erstattung verbleibe eine überzahlte Leistung vom 21. April bis 4. Mai mit einem täglichen Leistungssatz i.H.v. 56,20 €. Gemeinsam mit der nicht streitgegenständlichen Forderung für den Zeitraum 24. bis 31. Juli 2017 (8 Tage) ergebe dies die im Bescheid vom 19. September 2018 geforderte Gesamtsumme i.H.v. 1.236,40 €.

Ob die Weigerung der Rückzahlung des überzahlten Arbeitslosengeldes zudem einen Verstoß gegen Treu und Glauben in Abwägung mit dem Fehlverhalten der Beklagten, Nichtaufklärung über die Verschiebung des Arbeitslosengeldes, darstelle, könne vorliegend aufgrund der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen dahinstehen.

Die Rückerstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.H.v. 570,19 € ergebe sich aus § 335 Abs. 1 SGB III. Diesbezüglich werde auf die zutreffende Berechnung im Schriftsatz der Beklagten vom 18. Februar 2020 verwiesen.

Gegen das dem damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18. März 2020 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. März 2020 hat die Klägerin mit Schreiben vom 4. April 2020, eingegangen beim Sozialgericht Frankfurt am Main am 8. April 2020 und beim Hessischen Landessozialgericht am 14. April 2020, Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe die Klage zu Unrecht abgewiesen. Als Rechtsgrundlage für die Bescheidrücknahme komme nicht § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X in Betracht. Die vom SG angeführte Entscheidung des BSG enthalte in diesem Punkt lediglich ein obiter dictum. Hinzu komme noch, dass das Urteil des BSG vom 5. September 2006 (B 7a AL 70/05 R) nicht zum SGB Ill ergangen sei, sondern sich noch auf das AFG beziehe. Es fehle damit an der Übertragbarkeit (so wohl auch LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 29. Juli 2010, L 1 AL 114/09). Ungeachtet dessen handele es sich bei der Aufhebung einer Leistungsbewilligung erkennbar nicht um eine "Änderung zugunsten des Betroffenen". Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass der Gewährungszeitraum verschoben werden sollte und hierdurch eine längere Leistungsgewährung erreicht werden konnte. Denn insoweit handele es sich um eine eigenständige Regelung. Dies ergebe sich nicht zuletzt daraus, dass die Beklagte im Hinblick auf den geltend gemachten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine Weitergewährung von Arbeitslosengeld im gerichtlichen Verfahren zum Aktenzeichen S 15 AL 103/17 - ohne Einschränkungen - anerkannt habe. Bereits hierdurch habe die Klägerin einen weitergehenden Anspruch erworben, ohne dass die Beklagte die ursprüngliche Leistungsgewährung aufgehoben hätte. Dass diese hierdurch rechtswidrig geworden sei, ändere nichts an der Eigenständigkeit beider Regelungen. Die Entscheidung der Beklagten hinsichtlich der teilweisen Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung begünstige die Klägerin auch nicht. Zwar habe die Klägerin einen Anspruch auf eine längere Arbeitslosengeldgewährung, doch könne dieser umgesetzt werden, ohne dass die ursprüngliche Bewilligung aufgehoben würde. Alleine, dass diese sodann rechtswidrig wäre, ändere nichts an deren Wirksamkeit (s. § 39 SGB X). Eine Verschiebung kenne das Gesetz nicht. Vielmehr bedürfe es der weitergehenden Leistungsbewilligung und der Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung, sodass beide Vorgänge keine Einheit bildeten. Dies verwässere das Sozialgericht dadurch, dass es von "verschieben" spreche. Die Weitergewährung von Arbeitslosengeld über den ursprünglichen Endzeitpunkt hinaus "bedinge" keine Aufhebung der Leistungsgewährung bis zum 4. Mai 2016. Einen solchen Automatismus kenne das Gesetz nicht, weil andernfalls keine rechtswidrigen Bescheide wirksam werden könnten. Demgemäß habe das BSG in dem vom SG angeführten Urteil vom 5. September 2006 (B 7a AL 70/05 R) selbst ausgeführt, dass "eine gesonderte Aufhebung der entsprechenden Bewilligung(en) durch die Beklagte" notwendig sei. Einen Automatismus gebe es demnach ebenso wenig, wie eine Koppelung an die Bewilligungsentscheidung. Dem SG könne auch nicht in der Auffassung gefolgt werden, zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung sei die ursprüngliche Arbeitslosengeld-Gewährung rechtmäßig gewesen, weil die Klägerin noch nicht von ihrem Recht auf Verschiebung des Beginns des Anspruchs Gebrauch gemacht habe. Denn Voraussetzung für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch sei pflichtwidriges/rechtswidriges Verhalten, vorliegend in Gestalt der unterlassenen Spontanberatung über die Gestaltungsmöglichkeit. Hierdurch müsse es zu einem Schaden bei dem SozialIeistungsberechtigten gekommen sein. lm Gesamtkontext müsse damit die ursprüngliche Leistungsgewährung als rechtswidrig angesehen werden, weil hierdurch die Anspruchsdauer der Klägerin verkürzt worden sei. Dann sei aber § 45 SGB X und nicht § 48 SGB X einschlägig. Die erstgenannte Vorschrift kenne aber keine Entsprechung zu § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X. Überdies scheitere der Anspruch der Beklagten vorliegend an der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X. Diese müsse gleichsam dann zur Anwendung kommen, wenn ein Verwaltungsakt vorliege, der - aus der Sicht des Sozialgerichts - teilweise begünstigend und teilweise belastend sei. Denn nur so würden die Rechte des Sozialversicherten umfassend gewahrt. Nicht zuletzt sei der Anspruch der Beklagten verwirkt, da diese bereits seit der Geltendmachung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vor dem Hintergrund der hierzu ergangenen Rechtsprechung durch die Klägerin im Dezember 2016 Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung bis zum 4. Mai 2016 gehabt habe, aber erst am 19. September 2019 eine Aufhebungsentscheidung getroffen habe. Angesichts eines Zeitraums der Untätigkeit von annähernd 3 Jahren könne das Zeitmoment ohne Weiteres angenommen werden. Überdies sei das Umstandsmoment zu bejahen. Die Beklagte habe nämlich durch ihre Weigerung der "Verschiebung" der Arbeitslosengeld-Gewährung durch Ablehnungsbescheid zum Überprüfungsantrag, Widerspruchsbescheid, Klageerwiderung und ihr prozessuales Verhalten mehrfach zu verstehen gegeben, dass sie von der Richtigkeit der Leistungsgewährung ausgehe, also keine Bescheidaufhebung von dieser zu erwarten sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. März 2020 sowie die Bescheide der Beklagten vom 19. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 im Hinblick auf die Aufhebung der Bewilligung vom 21. April bis 4. Mai 2016 sowie die diesbezüglichen Erstattungsforderungen aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf die ihrer Auffassung nach überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil. 

Mit Schreiben vom 8. Juli 2020 hat der Berichterstatter die Beteiligten im Hinblick auf die mögliche Vorgehensweise nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung jeweils vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 SGG eingelegt worden.

Die Berufung ist jedoch nach einstimmiger Auffassung des Senats nicht begründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich. Das Rechtsmittel kann daher durch Beschluss zurückgewiesen werden, nachdem die Beteiligten dazu gehört worden sind (§ 153 Abs. 4 SGG).

Das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) hat die Klage zu Recht und aus zutreffenden Gründen abgewiesen. Der Senat schließt sich nach eigener Überzeugung den Ausführungen des SG an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 153 Abs. 2 SGG).

Auch der Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren gibt zu einer anderen Bewertung keine Veranlassung. Bereits in seiner Entscheidung vom 5. September 2006 hat das Bundessozialgericht die Heranziehung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X in einer vergleichbaren Fallkonstellation für zutreffend erachtet (Az.: B 7a AL 70/05 R, juris Rn. 13 + 21). Dieser Auffassung schließt sich auch der erkennende Senat nach eigener Überzeugung an. Dass die angeführte Entscheidung des Bundessozialgerichts noch zu einer Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) ergangen ist, ist ohne Belang, da sich die hier maßgeblichen Fragen (Anwendung von § 44, § 45 oder § 48 SGB X) unter der zwischenzeitlichen Geltung des SGB III nicht anders stellen. Zudem hat auch die Klägerin selbst durch die Stellung ihres Überprüfungsantrages vom 12. Dezember 2016 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die ursprüngliche Leistungsbewilligung der Beklagten als für sie nicht begünstigend hält, weshalb sie auch eine – durch Verschiebung des Anspruchsbeginns – für sie günstigere Entscheidung begehrte. Dem wird vorliegend durch die Aufhebungsregelung in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X (Änderung zugunsten der Klägerin) im Ergebnis Rechnung getragen.

Sofern die Klägerin einerseits eine Verschiebung des Anspruchsbeginns begehrt und dies durch das Anerkenntnis der Beklagten im Verfahren S 16 AL 103/17 schließlich auch erreicht hat, gleichzeitig jedoch die Rückzahlung der erhaltenen Leistungen für Zeiträume „vor Anspruchsbeginn“ ablehnt, verhält sie sich jedenfalls treuwidrig und widerspricht ihrem eigenen Überprüfungsantrag vom 12. Dezember 2016, in dem es wörtlich heißt: "…Da mein Anspruch durch die wiederholten Nachmeldungen meines Arbeitgebers bis zwei Wochen vor meinen 55. Geburtstag verschoben wurde, möchte ich diese zwei Wochen auf meinen Anspruch des Arbeitslosengeldes verzichten und dieses am 5. Mai 2016 starten lassen. Die erhaltenen Leistungen für die zwei Wochen zahle ich zurück."

Dieser Antrag war letztlich Ausgangspunkt des o.a. Klageverfahrens S 16 AL 103/17, in dem die Beklagte durch Anerkenntnis der Verschiebung des Anspruchsbeginns auf den 5. Mai 2016 - mit dadurch sich für die Klägerin ergebender Verlängerung der Anspruchsdauer um drei Monate - zugestimmt hat. Diese verlängerte Leistung nunmehr in Anspruch zu nehmen, ohne sich gleichzeitig an die im Antrag vom 12. Dezember 2016 selbst gemachten schriftlichen Zusagen (Verzicht; Rückzahlung) halten zu wollen, verstößt offensichtlich gegen Treu und Glauben. Unabhängig davon hat die Klägerin dadurch auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ihr selbst schon von Anfang an sehr wohl klar gewesen ist, dass sie nicht gleichzeitig Leistungen mit spruchsbeginn ab 5. Mai 2016 beziehen und trotzdem die bis dahin erhaltenen Leistungen zusätzlich behalten kann. Sofern sich die Klägerin auf Verwirkung beruft, liegen die Voraussetzungen hierfür schon erkennbar nicht vor. Zu keiner Zeit hat die Beklagte durch ihr Verhalten den Eindruck erweckt, dass sie nach Verschiebung des Anspruchsbeginns die für den davorliegenden Zeitpunkt gewährten Leistungen nicht mehr zurückfordern würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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