L 9 AS 158/21 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 86/21 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 158/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zum Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II wegen der Kosten von FFP2-Masken

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 19. März 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1. Die am 30. März 2021 beim Sozialgericht Gießen eingegangene Beschwerde mit dem zuletzt gestellten sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 19. März 2021 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Beschaffung von FFP2-Masken in Höhe von 80,00 Euro für den Zeitraum 1. März 2021 bis 13. April 2021, in Höhe von 128,00 Euro für den Zeitraum 14. April bis 30. April 2021 und in Höhe von 256,00 Euro für Mai 2021 zu gewähren,

ist zulässig, aber unbegründet.

a) Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht nach §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen, obwohl zuletzt ein Betrag begehrt wird, der 750,00 Euro nicht übersteigt. Denn maßgeblich ist insofern der Wert bei Eingang der Beschwerde. Zu diesem Zeitpunkt haben die Antragsteller Leistungen von mehr als 750,00 Euro geltend gemacht.

b) Die Beschwerde ist aber unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. 

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung   ZPO  ). 

aa) Es liegt bereits kein Anordnungsanspruch vor. 

Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes wegen der Kosten für die Beschaffung von FFP2-Masken nach §§ 19 ff., 7 ff., 21 Abs. 6 SGB II (i. V. m. § 40 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III -, § 48 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -).

Nach § 21 Abs. 6 Satz 1, 1. Hs. SGB II wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2). 

(1) Der geltend gemachte Bedarf ist bereits kein im Einzelfall vorliegender besonderer Bedarf. 

Ausreichend hierfür ist nämlich nicht, dass es bei der dem Regelbedarfsermittlungsgesetz vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I 2020, 2855) zugrundeliegenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 noch keinen Bedarf an FFP2-Masken gab (so aber SG München, Beschluss vom 10. März 2021, S 46 369/21 ER, juris, Rn. 17). Prägend für den besonderen Bedarf ist vielmehr, dass eine andere, weitergehende Bedarfslage vorliegt als bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen; es muss sich also um einen Mehrbedarf im Verhältnis zum „normalen“ Regelbedarf handeln (BSG, Urteil vom 29. April 2015, B 14 AS 8/14 R, juris, Rn. 28). Das Tatbestandsmerkmal des besonderen Bedarfs ist deshalb nicht erfüllt, wenn der Bedarf typischerweise bei Leistungsbeziehern nach dem SGB II auftritt; die Härteklausel des § 21 Abs. 6 SGB II dient nicht dazu, einen für unzureichend erachteten Regelbedarf generell aufzustocken (S. Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik (Hrsg.), SGB II, 4. Aufl. 2017, § 21 Rn. 67). Weil es sich um einen besonderen Bedarf im Einzelfall handeln muss, löst eine möglicherweise nicht ausreichende Abdeckung des Regelbedarfs keinen besonderen Bedarf aus, denn der unzureichende Regelbedarf trifft dann alle Leistungsberechtigten gleichmäßig (von Boetticher, in: Münder/Geiger (Hrsg.), SGB II, Lehr- und Praxiskommentar, 7. Aufl. 2021, § 21 Rn. 35).

Vorliegend ist allerdings nicht ersichtlich, dass die Antragsteller einen besonderen Bedarf an FFP2-Masken hätten, der über den Bedarf aller SGB II–Bezieher oder – soweit die Antragsteller zu 2. bis 4. betroffen sind – auch nur über den Bedarf anderer Schüler, etwa in anderen Bundesländern (vgl. dazu BSG, Urteil vom 8. Mai 2019, B 14 AS 13/18 R, juris, Rn. 17), hinausginge. Die Antragsteller sind zumindest nicht verpflichtet, eine solche Maske zu tragen, da in Hessen OP-Masken - bis auf hier nicht betroffene Bereiche - ausreichend sind. Dies gilt auch für die von den Antragstellern zu 2. bis 4. (in Hessen) besuchte Schule. 

(2) Der geltend gemachte Bedarf an FFP2-Masken ist auch nicht unabweisbar.

(a) Der Bedarf weicht bereits nicht seiner Höhe nach erheblich vom Durchschnittbedarf ab, § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II. Gründe, warum die Antragsteller mehr oder teurere Masken als andere Leistungsberechtigte nach dem SGB II benötigen würden, sind nicht glaubhaft gemacht worden. Auch im Rahmen des Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 6 SGB II muss der Leistungsberechtigte außerdem prinzipiell die kostengünstigste und zumutbare Variante der Bedarfsdeckung wählen (BSG, Urteil vom 18. November 2014, B 4 AS 4/14 R, juris, Rn. 23). 

(b) Eine Unabweisbarkeit setzt ferner voraus, dass die Deckung des Bedarfes zur Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich ist (vgl. BSG, Urteil vom 20. November 2020, B 14 AS 23/20 R, juris, Rn. 20; von Boetticher, in: Münder/Geiger (Hrsg.), SGB II, Lehr- und Praxiskommentar, 7. Aufl. 2021, § 21 Rn. 36). Es kann hier aber dahinstehen, ob es sich bei dem Bedarf an FFP2-Masken überhaupt um einen existenziellen Bedarf handelt (ablehnend z. B. jurisPK-SGB II 5. Aufl./Groth, § 70 Rn. 15, Stand: 19.04.2021). Angesichts der Möglichkeit der Wiederverwendung von FFP-2 Masken (siehe dazu https://www.fh-muenster.de/gesundheit/downloads/forschung/ffp2/02_ffp2mo25022021_einzelseiten.pdf) und dem inzwischen gesunkenen Preis für diese Masken (unter 1,00 Euro/Stück) ist jedenfalls nicht erkennbar, dass das menschenwürdige Existenzminimum nicht gesichert werden kann oder das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) eine Mehrbedarfsbewilligung erfordert. 

(c) Ob die Antragsteller nach § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II zur Ausschöpfung aller Einsparpotentiale (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1, 3, 4/09, juris, Rn. 208) auch auf ein „Umschichten“, also Einsparungen in anderen Bereichen (z. B. Freizeit, Unterhaltung und Kultur, Verkehr, andere Waren und Dienstleistungen, Beherbergungs- und Gaststättendienstleitungen), verwiesen werden können (so z. B. SG Darmstadt, Beschluss vom 23. März 2021, S 9 AS 151/21 ER, juris, Rn. 38; SG Frankfurt a. M., Beschluss vom 9. März 2021, S 9 AS 157/21 ER, juris, Rn. 24) oder ob dieser Gedanke ausscheidet, weil der Bedarf an FFP2-Masken bereits dem Grunde nach nicht vom Regelbedarf erfasst ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, B 14 AS 30/13 R, juris, Rn. 25), mag hier dahinstehen.  

(3) Einem Anspruch des Antragstellers zu 1. nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II steht auch § 70 SGB II (mit Wirkung zum 1. April 2021 neu gefasst durch Art. 1 des Gesetzes vom 10. März 2021, BGBl. I 2021, 335 – Sozialschutz-Paket III) entgegen, nach dem Leistungsberechtigte, die für den Monat Mai 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben und deren Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet, im Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis 30. Juni 2021 zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehrbedarfsaufwendungen eine Einmalzahlung von 150,00 Euro erhalten. Die Norm soll insbesondere Belastungen durch die Versorgung mit Hygieneartikeln, auch FFP2-Masken, teilweise ausgleichen (vgl. BT-Drs. 19/26542, S. 19; jurisPK-SGB II 5. Aufl./Groth, § 70 Rn. 11, Stand: 19.04.2021). Damit wird der Bedarf auf anderen Weise gedeckt. Die Antragsteller zu 2. bis 4. erhalten nach § 66 Abs. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) für den Monat Mai 2021 einen anrechnungsfreien Einmalbetrag von ebenfalls jeweils 150,00 Euro.

b) Es liegt auch kein Anordnungsgrund vor.

Den Antragstellern ist zuzumuten, das geschützte Erwerbseinkommen des Antragstellers zu 1. in Höhe von 100,00 Euro monatlich einstweilen zur Befriedigung des geltend gemachten Bedarfes einzusetzen (vgl. z. B. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21. Juli 2020, L 7 AS 1014/20 B ER, juris, Rn. 9). Dieser Betrag ist auch ausreichend, um für jede Person der Bedarfsgemeinschaft monatlich 25 Masken zu erwerben. Außerdem obliegt es dem Antragsteller zu 1., den ihm gewährten Mehrbedarf wegen Alleinerziehung in Höhe vom 160,56 Euro monatlich einstweilen einzusetzen (in diesem Sinne bereits SG München, Beschluss vom 10. März 2021, S 46 AS 369/21 B ER, juris, Rn. 36).
 
2. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

3. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 73a Abs. 1 SGG, § 114 Abs. 1 ZPO. Hinreichende Erfolgsaussichten der Beschwerde liegen nicht vor.

4. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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