L 1 VE 4/20

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 VE 13/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 4/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zur Beurteilung einer kPTBS nach der ICD-11 bereits vor deren Inkrafttreten 

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 19. Dezember 2019 sowie der Bescheid des Beklagten vom 8. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2017 aufgehoben.

Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Absenkung des bei der Klägerin festgestellten Grades der Schädigungsfolgen (GdS) streitig.

Die 1969 geborene Klägerin wurde von ihrem 7. bis zu ihrem 14. Lebensjahr wiederholt Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Stiefgroßvater.

Am 14.03.2012 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Infolge des sexuellen Missbrauchs leide sie unter seelischen und gynäkologischen Gesundheitsschäden, Rückenbeschwerden und seit ihrer Kindheit unter Darmbeschwerden beim Toilettengang. Insgesamt bestünde bei ihr eine psychische Störung. Ihre alltägliche Lebensqualität sei beeinträchtigt. 

Der Beklagte zog einen Bericht des Ergotherapeuten C. vom 18.06.2014 sowie die Unterlagen der Wicker-Klinik Bad Wildungen bei (Reha-Maßnahme vom 10.08.2012 bis 24.08.2012). Sodann veranlasste der Beklagte ein Gutachten bei dem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. D. Dieser führte in seinem Gutachten vom 17.09.2014 aus, dass bei der Klägerin eine Traumafolgestörung infolge des sexuellen Missbrauchs vorliege. Vor dem sexuellen Missbrauch habe es keine psychischen Vorerkrankungen mit Einfluss auf das Schadensereignis gegeben. Nachträglich seien keine schädigungsunabhängigen Faktoren von Einfluss auf die Traumafolgestörung eingetreten. Die Traumafolgestörung sei ab der Antragstellung im März 2012 mit einem GdS von 30 zu bewerten. In der Untersuchung vom 11.09.2014 habe die Klägerin über Probleme mit männlichen Personen, namentlich, wenn diese sich im fortgeschrittenen Alter befänden und von Statur und Gestik oder Stimme dem inzwischen verstorbenen Großvater entsprächen, berichtet. Erinnerungsbilder träten einmal pro Woche an bestimmte Szenen mit dem Großvater auf, ähnliche Erscheinungen könnten auch nachts in Wachphasen auftreten. Ferner sei ab dem 6. Lebensjahr eine Dunkelangst und Angst in engen Räumen aufgetreten. Um das 16. Lebensjahr habe die Klägerin eine Höhenangst entwickelt und Ängste vor dem Alleinsein. Der Anblick von Pferden, die seinerzeit auf dem Reiterhof des Großvaters immer präsent gewesen seien, könnten Flashbacks hervorrufen. Es bestehe eine Abneigung gegen Körperkontakt und Geschlechtsverkehr, der deshalb nur zwei- bis dreimal im Jahr stattfinde. Die Klägerin habe über eine täglich auftretende Ein- und Durchschlafstörung seit der Kindheit berichtet. Außerdem bestehe eine übermäßige Schreckhaftigkeit. Die Prognose erscheine unter Fortsetzung der gegenwärtigen Therapie günstig.

Mit Bescheid vom 09.10.2014 anerkannte der Beklagte bei der Klägerin als Folge der Gewalttat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und bewertete diese ab dem 01.03.2012 gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einem GdS von 30.

Im Jahr 2015 leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Er zog den Entlassungsbericht des Klinikzentrums Lindenallee (Psychosomatik, Orthopädie, Neurologie) vom 09.03.2015 bei (stationäre Behandlung vom 02.02.2015 bis zum 21.02.2015). Darin werden als Rehabilitationsdiagnosen aufgeführt: Komplexe PTBS (F43.8), chronische Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren (F45.41), Lumbalsyndrom, Meniskopathie links. Die Klägerin habe sich insgesamt nur sehr begrenzt auf das Therapiesetting einlassen können. Im Sinne einer ersten Selbststabilisierung und psychoedukativen Lernens habe sie jedoch von den therapeutischen Angeboten profitieren können. Entsprechend der formulierten psychotherapeutischen Behandlungsziele sei es im Verlauf des stationären Aufenthaltes insgesamt zu einer ersten Verbesserung der Symptomatik gekommen. Dies habe sich in einer vorsichtigen Beziehungsaufnahme und einer Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gezeigt. Zu dieser Verbesserung der Symptomatik habe insbesondere die Vermittlung eines angemessenen Krankheitsverständnisses und die Vermittlung von Stabilisierungstechniken zur Emotionsregulation und -kontrolle geführt. Die Klägerin habe die Reha dann jedoch impulsiv und ohne Regulationsmöglichkeiten abgebrochen. Der Beklagte zog einen aktuellen Befund des Ergotherapeuten C. vom 27.10.2015 bei. Dieser berichtete von einem im Allgemeinen erfreulichen Verlauf mit zunehmend positiver Prognose. In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 11.12.2015 führte Dr. E. aus, dass sich aus den vorliegenden Befundunterlagen eine nachhaltige Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Klägerin nicht erkennen lasse, so dass gegenwärtig eine erneute fachärztliche Begutachtung nicht indiziert sei. Er empfahl, die Nachuntersuchung noch einmal um ein Jahr zu verschieben.

Am 12.09.2016 beantragte die Klägerin eine Neufeststellung. Die PTBS habe sich verschlimmert. Außerdem sei eine Fibromyalgie hinzugetreten. Der Beklagte holte einen Befundbericht bei der Hausärztin Dr. F. vom 28.10.2016 ein, die auch einen ärztlichen Bericht der AMEOS Klinik Neustadt Ostsee übersandte (akutpsychiatrische Behandlung vom 16.06.2016 bis 20.06.2016). Die Klägerin habe von sozialem Rückzug berichtet, Selbstverletzungen oder Suizidgedanken jedoch verneint. Allerdings habe die Klägerin bereits nach dem Wochenende ihren Entlassungswunsch geäußert, da sie ihre körperlichen Beeinträchtigungen wie die Fibromyalgie und Schmerzen im Vordergrund stehend ansehe und ein akut-psychiatrisches Krankenhaus ihr nicht in dem Umfang physikalische Therapie anbieten könne, wie sie es benötige. Daraufhin sei sie bereits am 20.06.2016 gegen ärztlichen Rat entlassen worden. 

Sodann beauftragte der Beklagte die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. mit der Erstellung eines Nachgutachtens. Dr. G. führte unter dem 26.01.2017 aus, dass die Klägerin während der Reha in Bad Schalbach Stabilisierungstechniken zur Emotionsregulation und -kontrolle habe erlernen können, die ihr im sozialen Umgang eine höhere Kompetenz und Akzeptanz verliehen. Im Vergleich zum Bescheid vom 09.10.2014 sei es zu keiner wesentlichen Verbesserung gekommen, da die Erlebnis- und Gestaltfähigkeit weiter in gleichem Maße durch die Verschiebung der Wesensgrundlage beeinträchtigt sei. Alpträume bestünden fort, die Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit sei unverändert beeinträchtigt. Ein Gesamt-GdS sei angemessen, welcher das besondere berufliche Betroffensein gemäß § 30 Abs. 2 BVG beinhalte. Auf Nachfrage des Beklagten führte Dr. G. am 08.02.2017 aus, dass seit der letzten Stellungnahme durch Dr. E. wesentliche Symptome der PTBS in den Hintergrund getreten und psychische Symptome aufgrund schädigungsunabhängiger Ereignisse und Erlebnisse in den Vordergrund gerückt seien. Hierdurch sei es zu einer ausscherenden, nicht mehr durch das schädigende Ereignis hervorgerufenen Symptomatik gekommen, welche die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wesentlich mit beeinflusst habe. Als Symptome der PTBS lägen noch Schlafstörungen mit seltenen Alpträumen und eine Einschränkung der sexuellen Erlebnisfähigkeit vor. Diese Symptomatik sei mit einem GdS von 20 zu bewerten.

Aufgrund eines Antrages der Klägerin auf Heilbehandlung nach § 10 Abs. 1 BVG holte der Beklagte eine Stellungnahme der Medizinaldirektorin H. ein. Diese stellte unter dem 20.03.2017 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin fest, dass eine PTBS als Schädigungsfolge vorliege, die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren hingegen nicht schädigungsbedingt sei. 

Mit Bescheid vom 08.05.2017 hob der Beklagte nach Anhörung der Klägerin den Bescheid vom 09.10.2014 mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 48 Abs. 1 SGB Sozialgesetzbuch (SGB) X auf. Die PTBS liege nunmehr nur noch als PTBS (Teilsymptomatik) vor, die mit einem GdS von 20 zu bewerten sei. Weitere Schädigungsfolgen lägen nicht vor. Der Anspruch auf Grundrente ende mit Ablauf des Monats Juni 2017. 

Den hiergegen mit Schreiben vom 12.05.2017 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2017 unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen von Dr. G. als unbegründet zurück. 

Am 08.06.2017 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Kassel erhoben. Es liege weiterhin ein GdS von 30 vor. 

Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt bei: Hausärztin Dr. F. vom 18.08.2017, Dipl.-Psychologen und Psychoanalytikers und Psychotherapeuten D., Ergotherapeut C. vom 03.08.2017, Psychologin J. vom 14.08.2017, Kliniken Essen-Mitte vom 06.05.2017 (stationär vom 25.04.2017 bis zum 06.05.2017) und Vitos Klinik Kurhessen vom 14.08.2017 (einmalige Vorstellung am 23.03.2017). Die Klägerin hat einen Entlassungsbericht der Curtius Klinik vom 05.10.2017 über die stationäre Behandlung vom 01.09.2017 bis 05.10.2017 vorgelegt. 

Dr. G. hat unter dem 01.09.2017 ausgeführt, dass durch Einbeziehung des besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG sich der GdS um 10 auf einen Gesamt-GdS von 30 erhöht. Unter dem 27.09.2017 hat sie zu den eingeholten Befunden Stellung bezogen und an ihren Feststellungen zur Bewertung der schädigungsabhängigen Folgen festgehalten.

Sodann hat das Sozialgericht ein Gutachten bei der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K. eingeholt. Diese hat nach Untersuchung der Klägerin am 19.12.2018 unter dem 10.01.2019 ausgeführt, dass seit der Begutachtung durch Prof. Dr. D. die Klägerin zahlreiche familiäre Belastungen in Gestalt von Konflikten und Beziehungsabbrüchen mit beiden Söhnen, Schwiegertöchtern, Enkeln sowie mit ihrem Vater erlebt habe. Vor dem Hintergrund dieser, die Probandin emotional sehr belastenden Ereignisse sei die jetzt zu beobachtende Beschwerdesymptomatik primär mit den aktuellen Belastungen in Verbindung zu bringen, so dass als Schädigungsfolge nur noch die Teilsymptomatik einer PTBS bestehe. Die noch von Prof. Dr. D. geschilderte Schreckhaftigkeit habe die Klägerin nicht berichtet. Die Schlafstörungen seien nicht mehr eindeutig mit den sexuellen Traumatisierungen in Verbindung zu bringen. Es liege weiterhin ein Vermeidungsverhalten vor, das sich überwiegend in einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit äußere. Die berichteten Alpträume seien nur noch in geringerem Umfang direkt dem sexuellen Missbrauch zuzuordnen. Die Klägerin habe über Flashbacks berichtet, die in Zusammenhang mit der gutachterlichen Untersuchung aufträten. Die teilremittierte PTBS sei mit einem GdS von 20 zu bewerten. 

In der ergänzenden Stellungnahme vom 27.04.2019 hat die Sachverständigen K. an ihrer Einschätzung festgehalten und ergänzend ausgeführt, dass ein besonderes berufliches Betroffensein nicht vorliegt.

Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie aufgrund der Schädigung nicht in der Lage gewesen sei, mit Männern zusammenzuarbeiten. Deshalb habe sie Arbeitsstellen aufgeben müssen. Ihre Ausbildung habe sie aufgrund ihres Ausbilders abgebrochen, da sie unter Angststörungen litt. Aufgrund des Nichterkennens und der Nichtbehandlung der Traumatisierung sei sie nicht in der Lage, entsprechende Berufstätigkeiten auszuüben. Die seinerzeitigen Darmbeschwerden aufgrund der Vergewaltigungen hätten der Klägerin seinerzeit große Schwierigkeiten bei Tätigkeiten mit Heben, Stehen und langes Sitzen bereitet. 

Mit Urteil vom 19.12.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens sei der Beklagte berechtigt, für die Schädigungsfolge PTBS unter gleichzeitiger Änderung derer Bezeichnung den GdS auf 20 mit Wirkung ab dem 01.06.2017 festzusetzen. Die hierfür erforderliche wesentliche Änderung der Verhältnisse in Gestalt einer entsprechenden Veränderung des durch Bescheid vom 09.10.2014 nach Art und Umfang anerkannten Leidens könne festgestellt werden. Streitgegenständlich sei die mit Bescheid vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017 getroffene Entscheidung des Beklagten, den GdS der Klägerin von 30 auf 20 herabzusetzen. Die Frage, ob die Herabsetzung rechtmäßig ist, beurteile sich bei einer solchen Anfechtungsklage nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (Bayerisches LSG, Urteil vom 13.07.2015, L 15 SB 16/14). Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X sei, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung eintrete, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der GdS sei nach § 30 Abs. 1 BVG nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt seien, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Nach § 30 Abs. 1 S. 2 BVG sei der GdS nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS werde vom höheren Zehnergrad mitumfasst. Nach § 30 Abs. 1 S. 3 BVG seien vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gelte ein Zeitraum von bis zu sechs Monaten. Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung habe das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Ermächtigung des bis zum 30.06.2011 geltenden § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX, § 1 Abs. 1 VfG-KOV, § 30 Abs. 17 BVG nach § 2 S. 1 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl, I 2412) in den „versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ (Anlage zu § 2 der VersMedV) die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdS festgelegt, die fortlaufend auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt würden (§ 2 S. 2 VersMedV). Die „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ ersetzten die bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (letzte Ausgabe 2008) und stellten eine verbindliche Rechtsquelle für die Feststellung einer Schädigungsfolge und des GdS dar (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/8 R). Gemäß § 30 Abs. 2 BVG sei der GdS höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen seien, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt worden sei oder noch ausgeübt werde. Das sei insbesondere der Fall, wenn 1. auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden könne, 2. zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt werde oder nachweisbar angestrebte Beruf erreicht worden sei, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert seien, oder 3. die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert habe. 

Unstreitig sei, dass die Klägerin im Alter von 7 bis 14 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Großvater geworden sei. Zur Überzeugung des Gerichts stehe jedoch fest, dass sich hieraus nur noch eine PTBS in Teilsymptomatik zurückführen lasse, die mit einem GdS von 20 zu bewerten sei. Das Sozialgericht folge insofern den Ausführungen der bereits im Verwaltungsverfahren beauftragten Sachverständigen Dr. G. in ihren Gutachten vom 26.01.2017 bzw. 08.02.2017 und den Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen K. in ihrem Gutachten vom 10.01.2019 sowie ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 27.04.2019. Der Sachverständige Prof. Dr. D. habe in seinem Gutachten vom 17.09.2014 ausgeführt, dass die Klägerin über Probleme mit männlichen Personen, namentlich, wenn diese sich im fortgeschrittenen Alter befänden und von Statur und Gestik oder Stimme dem inzwischen verstorbenen Großvater entsprächen, berichtet habe. Erinnerungsbilder träten auf, zum Zeitpunkt der Begutachtung habe sie einmal pro Woche bestimmte Szenen mit dem Großvater erinnert, ähnliche Erscheinungen seien auch nachts in Wachphasen aufgetreten. Ferner seien ab dem 6. Lebensjahr eine Dunkelangst und Angst in engen Räumen aufgetreten, weshalb die Klägerin auch schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren könne. Dies habe bereits in der Schulbuszeit begonnen. Um das 16. Lebensjahr herum habe die Klägerin noch eine Höhenangst und Ängste vor dem Alleinsein entwickelt. Der Anblick von Pferden, die seinerzeit auf dem Reiterhof des Großvaters immer präsent gewesen seien, könnten Flashbacks hervorrufen. Bezüglich ihrer Sexualität habe sich die Klägerin von ihrem Ex-Ehemann benutzt gefühlt, ihre zweite Ehe habe sie harmonischer beurteilt, ständig vorhanden seien aber eine Abneigung vor Körperkontakt und Geschlechtsverkehr, der deshalb nur zwei- bis dreimal im Jahr stattfinde. Die Klägerin habe weiter über täglich auftretende Ein- und Durchschlafstörungen seit der Kindheit berichtet, meistens sei der Schlaf zweimal für einen Toilettengang unterbrochen, mit anschließenden Wachphasen bis zu einer Stunde, verbunden mit nächtlichen Schweißausbrüchen und innerer Unruhe seit Kindestagen. Die Klägerin habe auch von übermäßiger Schreckhaftigkeit berichtet, z.B. beim Knarren der Treppe oder beim Klappern einer Tür. Ab dem 8. Lebensjahr seien zunehmend auch Gewitterängste aufgetreten. Bereits bei der Nachbegutachtung im Verwaltungsverfahren durch Dr. G. habe die Klägerin angegeben, dass sich seit der Untersuchung bei Prof. Dr. D. einiges bei ihr getan habe. Sie habe nur noch ihren Ehemann. Der Vater, Bruder und ihre Söhne hätten sich abgewandt, da sie ihr Recht auf „Nein zu sagen“ wahrgenommen habe, wie sie es in der psychosomatischen Rehabilitation 2015 gelernt habe. Nach wie vor habe die Klägerin angegeben, unter Schlafstörungen zu leiden. Ängste konzentrierten sich nunmehr insbesondere auf ihre Enkelkinder, da ihre Schwiegertochter psychisch krank sei und derzeit keiner Therapie zugänglich. Das Kind sei zwei- oder dreimal gestürzt, einmal vom Wickeltisch, einmal aus dem Hochstuhl und einmal aus dem Bett. Sie habe ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gekündigt, damit sie aus der Wohnung ausziehen. Dr. G. habe darauf hingewiesen, dass es durch die rehabilitative psychosomatische Behandlung vom 02.02.2015 bis 21.02.2015 in Bad Schwalbach zu einer deutlichen Verbesserung der psychischen Symptome gekommen sei, die sich in einer vorsichtigen Beziehungsaufnahme, einer Steigerung der Selbstachtung und einem besseren angemessenen Krankheitsverständnis gezeigt habe. Die Klägerin habe Stabilisierungstechniken zur Emotionsregulation und -kontrolle erlernt, die ihr im sozialen Umgang eine höhere Kompetenz und Akzeptanz verliehen hätten. Die Sachverständige habe ausgeführt, dass es im Vergleich zum Bescheid vom 09.10.2014 zu keiner wesentlichen Verbesserung bei der Klägerin gekommen sei, dass jedoch eine Verschiebung der Wesensgrundlage eingetreten sei. Ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne von § 30 Abs. 2 BVG sei gegeben. In ihrer klarstellenden Stellungnahme vom 08.02.2017 habe Dr. G. darauf hingewiesen, dass als Symptome der PTBS noch Schlafstörungen mit seltenen Alpträumen und eine Einschränkung der sexuellen Erlebnisfähigkeit vorlägen, die als Teilsymptomatik einer PTBS allerdings nur noch mit einem GdS von 20 zu bewerten seien. Zu diesem Ergebnis sei auch die gerichtliche Sachverständige K. in ihrem Gutachten vom 10.01.2019 gekommen. Seit der Begutachtung durch Prof. Dr. D. habe die Klägerin zahlreiche familiäre Belastungen in Gestalt von Konflikten und Beziehungsabbrüchen mit beiden Söhnen, Schwiegertöchtern, Enkeln sowie mit ihrem Vater erlebt. Vor dem Hintergrund dieser die Probandin emotional sehr belastenden Ereignisse sei die jetzt zu beobachtende Beschwerdesymptomatik primär mit den aktuellen Belastungen in Verbindung zu bringen. Die Sachverständige habe ausgeführt, dass sich die Klägerin mehreren stationären Behandlungen unterzogen habe, von denen sie auch partiell habe profitieren können. Insbesondere durch die ambulante Psychotherapie habe sich der Klägerin die Möglichkeit eröffnet, sich sowohl mit den Traumafolgen als auch mit den überaus problematischen Primärbeziehungen und den aktuellen Konflikten auseinanderzusetzen. Die im Rahmen der Untersuchung durch Prof. Dr. D. geschilderte übermäßige Schreckhaftigkeit sei aktuell nicht mehr berichtet worden. Die weiterhin beklagten Schlafstörungen seien nicht mehr eindeutig mit den sexuellen Traumatisierungen der Kindheit und Jugend in Verbindung zu bringen, sondern ließen sich auf dem Boden einer depressiven Vulnerabilität (vor dem Hintergrund einer pathologischen Primärsozialisation) als Reaktion auf die aktuellen Konflikte verstehen. Es bestehe weiterhin ein Vermeidungsverhalten, das sich überwiegend in einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit äußere. Es werde auch weiterhin über Alpträume berichtet, die jedoch nur noch im geringen Umfang direktem sexuellen Missbrauch zugeordnet werden könnten sowie über Flashbacks, die im Zusammenhang mit der gutachterlichen Untersuchung aufgetreten seien. Der schädigungsbedingte Anteil sei bei der Klägerin deshalb nur noch mit einem GdS von 20 zu bewerten. Das Gericht sei zu der Überzeugung gelangt, dass der Einschätzung der Sachverständigen in vollem Umfang zu folgen ist. Darüber hinaus liege auch kein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG bei der Klägerin vor. Die Ausführungen von Dr. G. in ihrem Gutachten vom 26.01.2017 bzw. ihrer Stellungnahme vom 01.09.2017 seien nicht nachvollziehbar. Die Sachverständige K. habe insofern in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 27.04.2019 ihre Ausführungen im Gutachten vom 19.12.2018 vertieft und ausgeführt, dass die Klägerin ihre Erzieherausbildung nicht habe abschließen können, weil sie ein Kind bekommen habe. Sie habe eine Ausbildung zur Fußpflegerin absolviert, habe diese Tätigkeit jedoch nach einer Unterleibsoperation nicht fortsetzen können. Nach einer Umschulung zur Sozialversicherungsangestellten sei die Klägerin bei der AOK tätig gewesen. Diese Arbeit sei durch einen Auflösungsvertrag beendet worden, nachdem die Klägerin an einem Speicheldrüsentumor operiert worden sei, mit dem danach verordneten Hörgerät nicht zurechtgekommen sei und deshalb nicht mehr bei der Hotline habe arbeiten können, wo sie zuvor eingesetzt worden sei. Auch Dr. L. habe in dem 2012 erstellten Gutachten im Rentenverfahren ausgeführt, dass die Klägerin bis zum Jahr 2000 privat und beruflich gut integriert gewesen sei, was auch der jetzigen Darstellung entsprochen habe. Der Speicheldrüsentumor 2002, Arbeitsplatzkonflikte, zunehmende Eheprobleme mit einer Trennung 2008 hätten dann zu einer Einbuße der Leistungsfähigkeit geführt. Die berufliche Anamnese habe keine Hinweise für das Vorliegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins durch die Schädigungsfolgen geliefert. Vor diesem Hintergrund sei die erstmals im Gutachten von Dr. G. im Januar 2017 erfolgte Annahme eines besonderen beruflichen Betroffenseins nicht nachvollziehbar. 

Die Klägerin hat gegen das ihr am 22.01.2020 zugestellte Urteil am 17.02.2020 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Auf Antrag der Klägerin hat der Senat gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten von Dr. M. (Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapeutische Medizin, Sportmedizin, MHBA EMDR, Psychotraumatologie, ärztlicher Direktor des Reha-Zentrums Bad Dürrheim, Klinik Hüttenbühl der Deutschen Rentenversicherung) eingeholt. Dieser hat in seinem psychosomatisch-psychotherapeutischen Gutachten vom 21.09.2020 ausgeführt, dass bei der Klägerin eine komplexe Traumafolgestörung mit struktureller Dissoziation der Persönlichkeit vorliege (ICD 10 F43.1 und F44.81). Folgestörungen der traumatischen Erfahrungen seien: Affektive Störungen, derzeit mittelgradige depressive Episode, rezidivierend (F33.1), Angsterkrankung (F40.2) sowie somatoforme Störungen des oberen und unteren Gastrointestinalsystems (F45.31 und 45.32), somatoforme Schmerzstörung, Essstörungen (F50.4) und sexuelle Störungen (F65.5 und F66.9).
Bei der Klägerin habe am 09.10.2014 eine komplexe PTBS (kPTBS) vorgelegen (und liege immer noch vor) mit tiefgreifender Störung der Selbstorganisation, der Emotionsregulation, der Integration mit den typischen affektiven, sensomotorischen, interpersonellen und sozialen Folgen, die als „histrionische Persönlichkeit“, „Fibromyalgie“ u.ä. fehlgedeutet worden seien bzw. würden. Die Depression sei die häufigste Traumafolgestörung insbesondere, wenn - wie bei der Klägerin - primäre Bindungspersonen gleichzeitig Täter seien und der Bedrohung über Jahre nicht zu entkommen sei. Dass Dissoziation, Gefühlsphobie und Ignoranz als traumatypische psychologische Mechanismen aufrechterhalten werden müssten, entspreche der Logik der traumatischen Beziehungsdynamik und sei das Gegenteil von (Teil-)Remissionen oder gar Heilungsvorgängen. Alle wesentlichen Schädigungsfolgen hätten sich nicht verändert und entsprächen den syndromalen Kriterien der kPTBS: Störungen der Affektregulation (emotionale Instabilität, Ängste und Phobien, depressive Verstimmungen, Numbing, Wiedererinnerungen, Alpträume, Konstriktion, Vermeidung), anhaltende Gefühle der Wertlosigkeit, dauernde Alarmbereitschaft und Verteidigungsbereitschaft, häufige Gefühle von Schuld und Versagen bezogen auf das anhaltende Ausgeliefertsein, die Wehrlosigkeit als Kind und Jugendliche, die fortgesetzten Attacken der Täterfamilie. Kompensatorische emotional getönte Übertragungen würden von Behandler und Gutachtern als histrionische Persönlichkeitsstörung oder Akzentuierung interpretiert, ohne das die Diagnosekriterien erfüllt wären. Störung der Beziehungsgestaltung zu dem ersten Mann, wiederkehrende Konflikte mit den Söhnen und Schwiegertöchtern. Die unter Fibromyalgie und somatoforme Schmerzstörung laufenden positiven und negativen somatoformen Dissoziationen, also körperlichem Wiedererleben der schmerzhaften Vergewaltigungserfahrungen. Die wesentlichen psychischen Traumafolgen seien Folgen der kPTBS. Eine leichte Verbesserung sei lediglich in der sozialen Integration (2014) zu erkennen. Bezogen auf die Kernsymptomatik der kPTBS sei keine substantielle Besserung eingetreten. Der GdS sei mit 40 zu bewerten. 
Hinsichtlich der kPTBS hat Dr. M. auf eine Veröffentlichung von Prof. Dr. Dr. N. in „Der medizinische Sachverständige“ xx/2020 verwiesen. Dieser habe zur kPTBS ausgeführt, dass erstmals in der ICD-10 Klassifikation als neue Diagnose die „anhaltende Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung" (F62.0) eingeführt worden sei. Als Beispiele der Extrembelastung seien Erlebnisse in einem Konzentrationslager, Folter, Katastrophen sowie andauernde lebensbedrohliche Situation genannt worden. Annähernd gleichzeitig sei von Herman der Begriff der komplexen PTBS (kPTBS) für Folgen anhaltender, wiederholter Traumatisierungen geprägt worden, wobei hier als Belastungskriterium auf Gewalt und sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend abgehoben worden sei, was in der ICD-10 Definition nicht enthalten sei. Im DSM 5 seien zwar einzelne Symptome einer kPTBS in den Kriterien D-E genannt worden, die Diagnose als solches sei jedoch nicht aufgeführt worden. Dies ändere sich nunmehr in der zukünftigen ICD-11. Nachdem dieses Klassifikationssystem in Deutschland bislang nicht maßgeblich sei, stünden derzeit im Rahmen von Begutachtungen für die Kodierung als annähernd vergleichbare Diagnosen lediglich die genannte F62.0 bzw. die F43.8 (sonstige Reaktion auf schwere Belastung) der ICD-10-Klassifikation zur Verfügung. Die Autoren der AWMF-Leitlinie würden aber empfehlen, die Ereignis- und Symptomkonstellationen, welche die Kriterien der kPTBS gemäß der aktuellen Fassung der ICD-11 erfüllten, im Gutachten mit einem entsprechenden Hinweis zu erwähnen und in die Beurteilung bereits mit einzubeziehen.

Die Klägerin hat vorgetragen, dass aufgrund des Gutachtens von Dr. M. eine kPTBS belegt sei, die einen GdS von 40 seit Antragstellung begründe. Die Begutachtung im Entschädigungsrecht habe sich nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu richten. Die ICD-11-Kriterien seien im Mai 2019 von der WHO verabschiedet worden. Sie seien jedoch schon lange ein Bestandteil der wissenschaftlichen Debatte über die möglichen Verbesserungen bei der Diagnose von Krankheitsbildern und deren Ursachen. Aufgrund der weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes habe die Klägerin in der Zeit vom 20.07.2021 bis 17.08.2021 eine traumapsychosomatische Reha absolviert. Mit Schreiben vom 08.06.2021 hat die Klägerin zudem geschildert, wie sich das Verfahren und insbesondere das Verhalten des Beklagten auf sie auswirkten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 19.12.2019 sowie den Bescheid des Beklagten vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017 aufzuheben. 

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. 

Dr. G. hat in ihrer Stellungnahme vom 28.10.2020 zum Gutachten von Dr. M. ausgeführt, dass ein Missbrauch durch Freunde der Mutter der Klägerin nicht belegt seien. Die von ihm beschriebenen außergewöhnlichen Ressourcen der Klägerin widersprächen seiner Schweregradeinschätzung der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltsfähigkeit. Eine Dissoziation der Persönlichkeit liege nach den bisherigen Gutachten und ärztlichen Befunden nicht vor. Die teilweise beschriebenen dissoziativen Symptome seien in der Teilsymptomatik der PTBS subsummiert. 

Mit dem gerichtlichen Vergleichsvorschlag vom 07.01.2021 (Aufhebung des Bescheides vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017, GdS 30 und Überprüfung im Jahr 2024) hat sich die Klägerin einverstanden erklärt. Der Beklagte hat auf die Stellungnahme von Dr. G. vom 13.01.2021 verwiesen. Diese hat ausgeführt, dass nach den neuen ICD-11-Kriterien es sich bei der Klägerin um eine kPTBS bzw. Teilsymptomatik einer kPTBS handele, die mit einem höheren GdS bewertet werde, so dass die mit dem Vergleichsvorschlag erfolgte Bewertung eines GdS mit 30 korrekt sei. Unter Bezugnahme hierauf sowie auf die Verfügung des RP Darmstadt vom 16.12.2020 (VI 61.1.1 – 54n 06-130 – 54n 16, Bl. 309 der Gerichtsakte) und das Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 23.06.2020 (Va2-55021-6) hat der Beklagte sich bereit erklärt, ab Juni 2020 einen GdS von 30 bei der Klägerin anzuerkennen. Die zeitliche Verzögerung zwischen dem Rundschreiben des BMAS und der Verfügung des RP Gießen solle für die Klägerin unschädlich sein. Allerdings seien die ICD-11-Kriterien in der Versorgungsverwaltung vor Juni 2020 weder bekannt noch anzuwenden gewesen. Die mit Bescheid vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017 getroffene Entscheidung sei daher korrekt.

Dr. G. hat in ihrer Stellungnahme vom 21.04.2021 ausgeführt, dass die Schmerzstörung nicht schädigungsbedingt sei. Die Höherbewertung der Gesundheitsstörung sei Folge der Anwendung der ICD-11-Kriterien, in welcher die sexuelle Erlebnisfähigkeitsstörung bzw. Beziehungsstörung in der Bewertung einen stärkeren Eingang finde. Dr. M. weise auf die geänderten Bewertungskriterien und Diskrepanzen zwischen ICD-10 und ICD-11 bzw. DSM-5 hin, so dass ab diesem Zeitpunkt (Gutachten vom September 2020) frühestens der Bewertungsmaßstab geändert werden solle.  

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG

Die zulässige Berufung ist begründet. 

Der Bescheid des Beklagten vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen für die Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 09.10.2014 gemäß § 48 Abs. 1 SGB X liegen nicht vor. Die Klage ist daher begründet, so dass der Bescheid vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017 sowie das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts aufzuheben sind. 

Ob sich die PTBS verschlimmert hat, ein Fibromyalgie hinzugetreten ist und der GdS mehr als 30 betrage, ist hingegen nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Die Klägerin hat zwar im Verwaltungsverfahren eine entsprechende Neufeststellung beantragt. Streitgegenstand des Klageverfahren ist lediglich die Aufhebung des Bescheides vom 08.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2017.

Wesentliche Änderungen im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X, die die erfolgte Aufhebung des Bescheides vom 09.10.2014 rechtfertigen könnten, sind nicht eingetreten.

Der Senat folgt den überzeugenden Ausführungen von Dr. M., dass bei der Klägerin eine PTBS in Form einer kPTBS vorliegt und auch bereits im Juli 2017 vorgelegen hat, die durchgehend (mindestens) einen GdS von 30 begründet. Hinsichtlich der Zeit ab Juni 2020 wird dies auch von dem Beklagten so bewertet, wie aus dem Schreiben vom 29.01.2021 hervorgeht.

Der Sachverständige Dr. M. hat überzeugend dargelegt, dass bei der Klägerin durchgehend von dem Vollbild einer PTBS (in der Form einer kPTBS) auszugehen ist und keine Teilremission eingetreten ist. Die Feststellung des Beklagten, dass lediglich eine Teilsymptomatik einer PTBS vorliege, ist unzutreffend. Bei der Klägerin hat die frühkindliche, sexuelle Missbrauchserfahrung, die über Jahre andauerte, zu einer kPTBS geführt. Wichtigster Aspekt chronischer Traumatisierung ist die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit, so der Sachverständige. „Während die meisten Menschen mit liebevollen Bindungserfahrungen die Chance haben zu integrierten Persönlichkeiten aufzuwachsen, ist die strukturelle Dissoziation das Ergebnis kompensatorischer biologisch verankerter Reaktionen im Säugetiergehirn, die dazu beitragen, dass Menschen auch widrigste physische und psychische Bedingungen überleben können; allerdings nicht als integrierte Persönlichkeiten. Die Forschung beschreibt hier die prototypische Aufspaltung in anscheinend normale Persönlichkeit (der Begriff wurde vom britischen Militärpsychiater Myers 1940 für kriegstraumatisierte Soldaten entwickelt) und emotionale Persönlichkeitsanteile, die prototypisch für Kontrolle, d.h. Täterimitation stehen, sowie in den Prototyp der fragilen emotionalen Persönlichkeitsanteile. Letztere tragen als Opferanteile die Wucht der Taterfahrungen und -handlungen als belastete Teile der Persönlichkeit (Schmerzen, Ängste und Phobien). Diese Prototypen sind bei Frau A. ausgeprägt zu beobachten und haben eine eigene subjektive Erlebnisperspektive“, so der Sachverständige Dr. M.

Auch das Klinikzentrum Lindenallee hat eine kPTBS (F43.8) als Rehabilitationsdiagnosen aufgeführt (Entlassungsbericht vom 09.03.2015 nach stationärer Behandlung vom 02.02.2015 bis zum 21.02.2015). Soweit die Sachverständige K. die kPTBS als keine gravierendere, sondern eine unspezifische Diagnose bezeichnet, hat Dr. M. für den Senat überzeugend ausgeführt, dass dies nicht der Forschung der letzten 15 Jahre in den Bereichen Neurobiologie sowie Stress- und Traumfolgen entspricht. 

Die Begutachtung im Sozialen Entschädigungsrecht hat sich grundsätzlich nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu richten. Für die gerichtliche Beweiswürdigung ist ebenfalls der aktuelle medizinische Erkenntnisstand zugrunde zu legen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 21.03.2013, B 3 KR 2/12 R). Dies ist in der Regel die Auffassung der Mehrheit der im jeweiligen Fragenbereich veröffentlichenden Wissenschaftler/Fachkundigen des betreffenden Fachgebietes (BSG, Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Aufl., § 128 Rn. 7c). Einer Änderung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist Rechnung zu tragen (Bieresborn, SGb 2016, 310 (315); Keller, a.a.O.). 

Vorliegend ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die ICD-11-Kriterien hinsichtlich der PTBS bzw. kPTBS jedenfalls seit Juni 2020 als aktueller Stand der Wissenschaft anzuwenden sind. Von dem Beklagten wird jedoch bestritten, dass dies bereits zum Zeitpunkt des streitigen Bescheides im Jahr 2017 der Fall gewesen sei, da die ICD-11-Kriterien in der Versorgungsverwaltung vor Juni 2020 nicht bekannt gewesen seien.

Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, ist für die Beurteilung einer reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) maßgeblich, ob der Herabsetzungsbescheid bei seinem Erlass der Sach- und Rechtslage entsprochen hat. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (BSG, Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96, juris Rn. 14; Bayerisches LSG, Urteil vom 13.07.2015, L 15 SB 16/14). Dies gilt für Änderungen der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse. Bei einer Änderung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht wird eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse angenommen, die Rechtswirkung allein für die Zukunft entfaltet (vgl. Schütze in: Schütze, SGB X, Kommentar, 9. Aufl., § 48 Rn. 14 mwN). Bei der Anwendung von antizipierten Sachverständigengutachten und Konsensempfehlungen muss das Gericht jedoch überprüfen, ob diese (noch) dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen (Bieresborn, a.a.O.). 

Eine Änderung der Anhaltspunkte bzw. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist vorliegend hinsichtlich der Beurteilung der PTBS bzw. der kPTBS nicht eingetreten. Vielmehr hat sich (lediglich) der Stand der Wissenschaft zur Diagnosestellung der (komplexen) PTBS in der hier maßgeblichen Zeit geändert.

Nach der Überzeugung des Senats galt bereits zum Zeitpunkt des streitigen Bescheides, dass sich die Diagnose einer kPTBS in der klinischen Psychiatrie durchgesetzt hat und ein breiter fachlicher Konsens vorgelegen hat. Dies entspricht letztendlich auch der Auffassung des BMAS in dem Rundschreiben vom 23.06.2020. Darin wird festgestellt, dass das Rundschreiben vom 02.12.2008 zur PTBS veraltet sei. Bei der Anwendung sei daher zu beachten, dass hinsichtlich des aktuellen Stands der Wissenschaft die ICD-11 beachtenswert sei. Sie sei zwar als Klassifikations- und Diagnosesystem noch nicht verbindlich, enthalte aber gleichwohl gebündelt den aktuellen, international anerkannten wissenschaftlichen Stand der Klassifikation von Gesundheitsstörungen einschließlich der Diagnosekriterien psychischer Störungen, darunter auch den für die PTBS. Auch sei das A2-Kriterium des DSM IV-TR (intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen als Reaktion auf das Ereignis) kein Diagnosekriterium mehr. Entgegen dem Rundschreiben vom 02.12.2008 werde nach ICD-11 eine bestimmte Anzahl von Symptomen aus den einzelnen Symptomclustern nicht gefordert. Die Diagnose einer kPTBS habe sich in den letzten Jahren in der klinischen Psychiatrie durchgesetzt und sei für die Begutachtung im Rahmen des Sozialen Entschädigungsrechts von Relevanz (Bl. 310 ff. der Gerichtsakte). Ferner verweist das BMAS auf die aktuellen Leitlinien der AWMF, insbesondere der S3-Leitlinie PTBS (Upgrading von S2- zu S3-Leitlinie zwischen 2005 und 2011, Erstveröffentlichung 08/2011, überarbeitet: 04/2019) sowie die S2k-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen (erstmals publiziert 2012, überarbeitet und 12/2019 als AWMF-Registernummer 051-029 publiziert). 

Die ICD-10 hingegen stammt in ihren wesentlichen Aspekten bereits aus dem Jahre 1992 und repräsentiert damit nicht mehr zwingend den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand (s. N., Die neuen Diagnosekriterien nach DSM-5 und ICD-11 bei der Begutachtung psychischer Schädigungsfolgen, MedSach 2020, S. 116). Die kPTBS, die in der ICD-10 noch nicht aufgeführt wird, ist aufgrund der langjährigen Forschung nunmehr explizit in die ICD-11 aufgenommen worden (hierzu N., a.a.O., mit Verweis auf Herman, Complex PTSD: A syndrome in survivors of prolonged and repeated trauma. Journal of traumatic Stress 1992, 377 ff.; s.a. Fabra, MedSach 2020, 107 ff. mit Verweis auf Sack, Diagnostische und klinische Aspekte der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, Der Nebenarzt 2004, 451 ff.).

Schließlich ist festzustellen, dass im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung nicht auf die Kenntnis der Versorgungsverwaltung über den aktuellen Stand der Wissenschaft abzustellen ist. 

Bei dieser Sach- und Rechtslage ist nicht entscheidungsrelevant, ob ein besonderes berufliches Betroffensein gemäß § 30 Abs. 2 BVG bei der Klägerin vorliegt. Ergänzend wird jedoch darauf hingewiesen, dass der Beklagte weder in dem angegriffenen Bescheid noch in dem Bescheid vom 09.10.2014 Feststellungen hierzu getroffen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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