L 1 KR 195/20

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 8 KR 204/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 195/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. Juni 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 8. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kosten für das Therapie-Tandem Pino Steps der Firma E. in Höhe von 5.453,70 € zu erstatten.

Im Übrigen wird die Klage zurückgewiesen.

Die Beklagte hat 60 % der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu tragen.        

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten sich um die Kostenübernahme für ein Therapie-Tandem.

Der 2008 geborene Kläger kam zusammen mit seiner Zwillingsschwester als Frühgeborenes zur Welt. Er leidet an einer Schwerstbehinderung mit einem VP-Shunt sowie einer spastischen, unilateralen infantile Cerebralparese GMFCS Stufe 3 links. Bei dem Kläger sind ein Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen B, aG und H festgestellt. Er besuchte die F-Schule in F-Stadt mit den Förderschwerpunkten „geistige Entwicklung“ und „körperlich motorische Entwicklung“. Neben der wöchentlichen Physiotherapie nimmt er außerschulisch am Schwimm- und Turnunterricht sowie am Therapie-Reiten teil.

Die Zwillingsschwester des Klägers ist mit einem Therapie-Dreirad der Firma E., Modell Trix ausgestattet. Die Beklagte hatte diese Hilfsmittelversorgung anerkannt, nachdem der Sachverständige Dr. H. in einem Rechtsstreit der Schwester und der Beklagten vor dem Sozialgericht Darmstadt (S 8 KR 202/18) in seinem Gutachten nach Hausbesuch vom 06.01.2020 die medizinische Notwendigkeit festgestellt hatte.

Der Kläger beantragte am 10.10.2017 die Übernahme der Kosten für ein nach seinen Bedürfnissen eingerichtetes Therapie-Tandem der Firma E., Modell Pino Steps unter Vorlage der ärztlichen Verordnung dafür vom 06.09.2017. Dem Antrag war der Arztbericht des Universitätsklinikums Würzburg vom 11.08.2017 beigefügt, der auf beständig weitere Fortschritte des Klägers seit der Shunt-Revision hinwies; der Kläger bewege den Rollstuhl, in dem er sitze, selbstständig fort; an der Hand könne er kurze Gehstrecken mit spastischer Cerebralparese bewältigen und nutze einen Posterior Walker. Dem ebenfalls dem Antrag beigefügten Probefahrtbericht des Fahrradgeschäfts vom 14.09.2017 war zu entnehmen, dass ein Therapie-Dreirad nicht in Betracht komme, da der Kläger die Gefahren im Straßenverkehr nicht einschätzen könne. Da der Rollstuhl auf dem Anhänger mitgeführt werden müsse, sei ein Hilfsantrieb erforderlich. Das Fahren auf dem Therapietandem stelle für den Kläger die Möglichkeit dar, seinem starken Bewegungsdrang nachzukommen. Neben dem Aufbautraining der Muskulatur, der Verbesserung des Gangbildes, der Motorik, des Gleichgewichtes, der Koordination und einer Stärkung des Allgemeinbefindens soll das Therapie-Tandem dem Kläger auch eine altersgemäße Mobilität ermöglichen. Der beigefügte Kostenvoranschlag betrug 11.998,70 €. 

Die Beklagte beauftragte mit Schreiben vom 10.10.2017 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Begutachtung und teilte dem Kläger mit, dass eine Entscheidung bis zum 14.11.2017 erfolgen werde. In seinem Gutachten vom 25.10.2017 konnte der MDK die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung nicht nachvollziehen. Bei dem Versicherten würde es sich um ein Kind handeln, das rollstuhlpflichtig und mit Orthesen versorgt sei. Laut Unterlagen seien koordinierte Bewegungen der Extremitäten nicht möglich; das Kind sei nicht in der Lage, das Fahrrad zu beherrschen, Gefahrensituationen zu erkennen und adäquat zu handeln. Diese Fähigkeiten müssten ohne Anwesenheit oder Hilfe von Erwachsenen abgerufen werden können. Andernfalls sei das Grundbedürfnis der Teilnahme an der Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses nicht realisierbar. In dem weiteren Gutachten vom 05.01.2018 blieb der MDK bei dieser Einschätzung.

Die Beklagte lehnte den Antrag daraufhin mit Bescheid vom 08.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2018 ab. Ein Co-Pilot Tandem sei grundsätzlich kein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand. Es sei nicht zur Sicherung der ärztlichen Behandlung notwendig. Zwar sei regelmäßiges Fahrradfahren geeignet, den Gesundheitszustand zu stärken. Gesundheitsfördernde körperliche Betätigungen würden aber in den Bereich der Eigenverantwortung des Versicherten fallen. 

Dagegen hat der Kläger am 06.04.2018 Klage zum Sozialgericht Darmstadt erhoben. Im Klageverfahren hat sich der Kläger das streitgegenständliche Tandem zum Preis von 11.397,80 € selbst beschafft (Rechnung vom 28.09.2018). Die Beihilfestelle des Vaters des Klägers hat sich mit einem Betrag in Höhe von 2.234,10 € an den Kosten beteiligt auf der Grundlage des Gutachtens des Gesundheitsamtes der Stadt Frankfurt am Main, wonach das Therapie-Tandem auf Grund der bei dem Kläger bestehenden Einschränkungen medizinisch notwendig sei. 

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht Darmstadt die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.06.2020 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger weder aus dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung noch aus dem Recht der Sozialhilfe ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Therapie-Tandem zustehe.
Der Kläger habe keinen Anspruch nach § 13 Abs. 3 i.V.m. §§ 27, 33 Sozialgesetzbuch (SGB) V. Das Therapie-Tandem sei nicht erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung, insbesondere von Krankengymnastik und Ergotherapie, zu sichern. Es handele sich allenfalls um therapeutische Nebeneffekte, die kostengünstiger und gezielter mit Krankengymnastik zu erreichen seien. Eine fachgerechte Krankengymnastik könne regelmäßiger, gezielter und vielseitiger die angestrebte Verbesserung der körperlichen und seelischen Verfassung eines Behinderten erreichen (vgl. BSG, Beschluss vom 27.07.2006, B 3 KR 11/06 B).
Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Kostenerstattung zum Ausgleich einer bereits bestehenden Behinderung. Die aktive Bewegung außer Haus sei dabei als grundlegendes allgemeines Bedürfnis der Lebensbetätigung einzustufen. Bei der Bestimmung der „Bewegungsfreiheit“ sei dabei auf diejenigen Entfernungen abzustellen, die ein Gesunder regelmäßig zu Fuß zurücklege. Dabei sei auf die Fähigkeit abzustellen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien.
Vorliegend sei das streitgegenständliche Hilfsmittel zunächst nicht dazu gedacht, den Nahbereich der Wohnung zu erschließen. Vielmehr gehe es dem Kläger ausweislich seines Antrags darum, Familienausflüge zu ermöglichen sowie der Integration in den Kreis gleichaltriger Freunde beim Fahrradfahren. Dem Kläger sei es ausweislich des Zeugnisses für das Schuljahr 2018/2019 möglich, von seiner Schule zur F-Schule zu laufen. Die Beklagte habe unbestritten darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine Wegstrecke von 300 Metern handele. Damit könne sich der Kläger durch die bereits vorhandenen Hilfsmittel (Rollstuhl und Rollator) den Nahbereich erschließen, sodass er dafür nicht auf die Versorgung mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel angewiesen sei.
Die entwicklungsbedingt notwendige Integration des Klägers im Kreise Gleichaltriger könne insoweit ein Grundbedürfnis darstellen. Jedoch sei ein Therapie-Tandem zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher und damit zur Integration in Gruppen Gleichaltriger nicht geeignet, denn die Anwesenheit einer Begleitperson werde von Jugendlichen bei ihren Aktivitäten, mit denen sie gerade Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Erwachsenen beweisen wollten, üblicherweise nicht akzeptiert (BSG, Urteil vom 21.11.2002, Az.: B 3 KR 8/02 R).
Der Kläger habe auch keinen Anspruch nach §§ 53, 54 SGB XII in der Fassung vom 23.12.2016, gültig für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis 31.12.2018 (SGB XII, im Weiteren a. F.) i. V. m. §§ 26 ff., 55 ff. SGB IX in der Fassung vom 19.06.2001, gültig ab dem 01.07.2001 bis zum 31.12.2017. Soweit der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gehe, seien diese Leistungen abhängig von der jeweiligen Bedürftigkeit des Antragsberechtigten sowie der in § 19 Abs. 3 SGB XII genannten Personen. Anhaltspunkte dafür, dass die im SGB XII genannten Einkommensgrenzen durch das Einkommen des Klägers und seiner Eltern unterschritten werden, seien nicht ersichtlich. 

Gegen den ihm am 08.06.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 07.07.2020 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben.

Der Kläger vertritt die Auffassung, dass das Therapie-Tandem unter den besonderen Umständen des Einzelfalls erforderlich sei, um Therapieziele zu verfolgen, ihn zur Therapie zu motivieren und ihn gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester an Familienaktivitäten im ländlichen Umfeld teilhaben zu lassen. Er meint, dass er einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte habe auf diejenigen Anschaffungskosten, die nicht durch die Beihilfezahlung abgedeckt seien.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. Juni 2020 und den Bescheid der Beklagten vom 8. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die restlichen Kosten für das Therapie-Tandem Pino Steps der Firma E. in Höhe von 9.163,70 € zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Revision zuzulassen.

Die Beklagte sieht ihre Rechtsauffassung durch die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt. Die Beklagte meint, das begehrte Therapie-Tandem verbessere die Mobilität der Eltern und nicht die des Klägers, zumal dieser bereits mit einem Aktivrollstuhl, dynamischen Fußgelenksorthesen und einem Rollator zum Ausgleich der Behinderung versorgt sei. Zudem hat die Beklagte das sozialmedizinische Gutachten des MDK vom 16.03.2021 vorgelegt und die Auffassung vertreten, dass eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bestehe.

Der Senat hat das fachneurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten von Dr. H. vom 01.02.2021 nebst ergänzender Stellungnahme vom 01.04.2021 eingeholt. Dieser hat nach persönlicher Untersuchung bei dem Kläger schwere Folgen einer perinatal erworbenen Hirnschädigung mit globaler geistiger und körperlicher Entwicklungsstörung in Form eines schweren organischen Psychosyndroms und mittelgradigen Intelligenzmangel festgestellt. Nach persönlicher Besichtigung des Hilfsmittels im Haushalt des Klägers hat der Sachverständige ausgeführt, dass das Hilfsmittel die komplexe Behinderung des Klägers teilweise ausgleichen könne, indem es ihm, neben der therapeutischen Funktion, in der sozialen Teilhabe im Rahmen der Familie und des Freundeskreises nachweislich erheblich diene. Das Therapie-Tandem sei ein mit viel Bedacht und Sachkenntnis eingepasstes Teil eines physio-, ergo- und sozialtherapeutischen Gesamtkonzepts für die Versorgung des Klägers im Rahmen einer außergewöhnlich durch die schwere Mehrfachbehinderung von Zwillingskindern betroffenen Familie. Das Therapie-Tandem ermögliche es dem Kläger innerhalb seiner sehr eingeschränkten Möglichkeiten, dem Radfahren jugendlicher Menschen ähnliche und in der Wirkung vergleichbare Bedingungen zu erfüllen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

Das Sozialgericht Darmstadt hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.06.2020 zu Unrecht vollumfänglich abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 08.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2018 ist teilweise rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Kostenerstattung für das streitgegenständliche Hilfsmittel „Pino Steps“ in Höhe von 5.453,70 €. Darüber hinaus besteht kein Kostenerstattungsanspruch; insoweit hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V. Danach sind, wenn eine Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Die Sachleistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Versorgung ihrer Versicherten mit Hilfsmitteln bestimmt sich nach § 33 SGB V. Der ursprüngliche Sachleistungsanspruch wandelt sich dann in einen Kostenerstattungsanspruch um (vgl. BSG Urteil vom 11.5.2017, B 3 KR 30/15 R).

Rechtsgrundlage für die ursprünglich vom Kläger begehrte Hilfsmittelversorgung ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (Var. 1), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (Var. 2) oder eine Behinderung auszugleichen (Var. 3), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Zur Überzeugung des Senats ergibt sich für den Kläger vorliegend der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V i.V.m. § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V. Das von ihm selbst beschaffte Therapie-Tandem „Pino Steps“ ist erforderlich, um seine allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens nach Erschließung des Nahbereichs der Wohnung und nach entwicklungsbedingt notwendiger Integration im Kreis Gleichaltriger und der Familie zu befriedigen.

Ein Hilfsmittel dient als Leistung zur medizinischen Rehabilitation dem „Ausgleich einer Behinderung" im Sinne dieser Vorschrift, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dient. Leistungen zum Zweck des Behinderungsausgleichs sind nicht unbegrenzt von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen. Ihre originäre Leistungszuständigkeit bemisst sich vielmehr nach dem Zweck des Hilfsmittels, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dient.

Für den Versorgungsumfang, insbesondere Qualität, Quantität und Diversität, kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an. Es besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung (vgl. BSG Urteil vom 15.03.2018, B 3 KR 4/16 R, m.w.N.).

Als ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens ist das Erschließen eines körperlichen Freiraums und in Bezug auf Bewegungsmöglichkeiten das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung von Versicherten mit einem Hilfsmittel anerkannt. Maßgebend für den von der GKV insoweit zu gewährleistenden Behinderungsausgleich ist grundsätzlich der Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreicht. In den Nahbereich einbezogen ist zumindest der Raum, in dem die üblichen Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt werden. Hierzu gehören nach einem abstrakten Maßstab die allgemeinen Versorgungswege (Einkauf, Post, Bank) ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege (Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken) und auch elementare Freizeitwege (vgl. BSG a.a.O.).
Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich darf das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Grundrecht und objektive Wertentscheidung in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen ist, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann. Hinzu kommt ggf. die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX i.V.m. § 33 SGB I) volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist das streitgegenständliche Therapie-Tandem geeignet, dem Wunsch des Klägers nach erheblicher Verbesserung der Mobilität im Nahbereich zu entsprechen. Mit diesem Hilfsmittel ist es ihm möglich, sich durch eigene körperliche Bewegung den Nahbereich zu erschließen. Er kann auf dem Therapie-Tandem mittreten und dadurch mit eigener Muskelkraft (gemeinsam mit dem Tandem-Partner) allgemeine Versorgungswege, z.B. zum Milchholen auf dem Bauernhof, ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege zu Ärzten und Therapeuten zurücklegen. Dabei stützt sich der Senat auf die glaubhafte und nachvollziehbare Darstellung des Vaters des Klägers, der eben diesen Einsatzzweck des Hilfsmittels bestätigt hat. 

Ein anderes ebenso geeignetes Hilfsmittel im Sinne von § 33 SGB V, das diesem Ziel des Behinderungsausgleichs gleichwertig entsprechen würde, ist für den Senat nicht ersichtlich. Das Verweisen auf die Benutzung eines Schieberollstuhls oder von Orthesen scheidet für die oben genannten Wege, die sich noch im Nahbereich befinden, aus. Es sind gerade die beschriebenen Gebrauchsvorteile das Therapie-Tandems in Gestalt eines aktiven Mitwirkens an der Erschließung des Nahbereichs im Vergleich zu einem nur passiven Transportiert-Werden mittels Schieberollstuhl und Auto der Eltern, die das streitgegenständliche Hilfsmittel als in diesem Einzelfall für den Behinderungsausgleich deutlich besser geeignet machen.

Als ein weiteres allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens sieht der Senat die entwicklungsbedingt notwendige Integration des Klägers im Kreis Gleichaltriger und der Familie an. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Kindern und Jugendlichen ein Anspruch auf Hilfsmittelversorgung besteht, sofern der Versicherte auf Grund seiner Behinderung nicht oder allenfalls nur sehr einschränkt am üblichen Leben seiner Altersgruppe teilnehmen kann, sodass ihm dadurch die Isolation droht. Die entwicklungsbedingt notwendige Integration des Klägers im Kreis etwa gleichaltriger Kinder, wozu auch Geschwister zählen, kann insoweit ein Grundbedürfnis darstellen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 16. April 1998; B 3 KR 9/97 R).

Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit darin, dass der Kläger eine Zwillingsschwester hat, die aufgrund ihrer Behinderung mit einem Hilfsmittel (Therapie-Dreirad) versorgt und sich damit im Kreis anderer Kinder und Familienmitglieder bewegen kann. Es besteht insoweit ein Grundbedürfnis für den Kläger, an den Unternehmungen draußen mit den Therapie-Rädern gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester, Freunden und Eltern teilzunehmen und seine Integration ohne somatische und psychosoziale Zurückstellung sicherzustellen. Darauf hat auch der Sachverständige Dr. H. überzeugend hingewiesen.

Dass bei dieser Integration des Klägers immer auch ein erwachsener Tandem-Partner anwesend ist, steht vorliegend der Geeignetheit des Hilfsmittels für die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses nicht im Wege. Da auch die Zwillingsschwester behinderungsbedingt der ständigen Beaufsichtigung eines Elternteils bedarf – auch wenn sie alleine ihr Therapie-Dreirad bedienen kann – wird die Anwesenheit eines Erwachsenen von ihr, den anderen Familienangehörigen und Gleichaltrigen akzeptiert (vgl. dazu BSG, Urteil vom 21.11.2002, B 3 KR 8/02 R).

Der Kläger wäre ohne das Therapie-Tandem von diesem Teil des Zusammenseins mit Gleichaltrigen, insbesondere mit seiner Schwester, ausgeschlossen. Dieser Teil des Gemeinschaftslebens hat für den Kläger und seine Familie eine besondere Bedeutung. Ein ebenso geeignetes Hilfsmittel für die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses ist nicht ersichtlich. Offensichtlich kommen dafür insbesondere kein Schieberollstuhl oder Orthesen in Betracht. Durch die individuelle Spezialversorgung mit dem „Pino Steps“ werden zudem der physiotherapeutische (Förderung der Fitness in Unterstützung der krankengymnastischen und ergotherapeutischen Anwendungen), neuropsychologische (Erschließung des Raumgefühls und der Koordination) und sozialtherapeutische (Einbindung in den familiären und Freundeskreis) Aspekt der medizinischen Rehabilitation des Klägers unterstützt, wie der Sachverständige Dr. H. überzeugend ausgeführt hat.

Die von dem Kläger selbst beschaffte Ausführung des Therapie-Tandems „Pino Steps“ überschreitet jedoch im Hinblick auf die gewählte Schaltung und den eingebauten Elektromotor das Maß des Notwendigen. Diese Mehrkosten in Höhe von 3.710,00 Euro hat der Kläger daher nach § 33 Abs. 1 Satz 6 SGB V a.F. (entspricht § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V i.d.F. des Terminservice- und Versorgungsgesetzes vom 6.5.2019, BGBl I 646) selbst zu tragen.

Für den Senat ist nicht ersichtlich, dass der Kläger auf die gewählte G. 14-Gang Nabenschaltung angewiesen ist, um den o.g. Behinderungsausgleich zu erreichen. Es handelt sich dabei bekanntlich um die Luxusausführung einer Fahrradschaltung. Die vom Hersteller E. als Standardausstattung vorgesehene Shimano Deore 30-Gang Kettenschaltung ist als ausreichend anzusehen. Der Preisunterschied zwischen G-Schaltung (1.650,00 Euro) und Shimano-Schaltung (530,00 Euro) beträgt 1.120,00 Euro.

Auch fehlt die Notwenigkeit für eine Ausstattung des Therapie-Tandems mit einem Elektromotor. Laut Hersteller-Angaben auf der homepage (www.xxxxxx.com) kommt das Pino Steps „auch im normalen Tandem-Betrieb (…) leicht über den Berg“. Für den hier vorzunehmenden Behinderungsausgleich bezüglich der Grundbedürfnisse Mobilität im Sinne der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung und der Integration des jugendlichen Klägers in den Kreis Gleichaltriger reicht ein normaler Tandem-Betrieb aus. Es müssen dafür keine weiten Strecken oder steilen Berge mit dem Therapietandem zurückgelegt werden, die nur mit Motorunterstützung möglich wären. Das gilt auch dann, wenn für die Tandemfahrten im Nahbereich ein Rollstuhl auf einem Anhänger gezogen wird. Das Ermöglichen von ausgedehnten Familienradtouren an Sonntagen, über die der Vater des Klägers berichtet hat und für die ein Motor ggf. notwendig sein könnte, gehört nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. auch BSG, Urteil vom 12.08.2009, B 3 KR 11/08 R). Die Preisdifferenz des Grundmodells mit E-Motor (6.290,00 Euro) zum Grundmodell ohne Motor (3.700 Euro) beträgt 2.590,00 Euro.

Leistungsausschlüsse stehen der Kostenerstattung für das selbstbeschaffte Therapie-Tandem nicht entgegen. Es handelt sich bei diesem Hilfsmittel, das speziell für die Fortbewegung behinderter Menschen mit verantwortlicher Begleitperson entwickelt und nach Maßgabe der klägerspezifischen behinderungsbedingten Bedürfnisse aufgebaut wurde, nicht um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V. Auch nach § 34 Abs. 4 SGB V oder durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ist eine Hilfsmittelversorgung hier nicht ausgeschlossen.

Die Kostenerstattung reduziert sich vorliegend um den Betrag, den der Kläger über die Beihilfestelle seines Vaters erhalten hat; insoweit sind dem Kläger keine Kosten entstanden, vgl. § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V. Insgesamt errechnet sich damit ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte in Höhe von (Rechnungsbetrag 11.397,80 Euro – Beihilfe 2.234,10 Euro – Mehrkosten 3.710,00 Euro =) 5.453,70 Euro.

Soweit der Kläger über den Betrag von 5.453,70 Euro hinaus eine Kostenerstattung beantrag hat, war die Klage aus den o.g. Gründen abzuweisen und die Berufung dagegen insoweit zurückzuweisen.

Da sich der Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung gegen die Beklagte nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ergibt (s.o.), bedarf es keiner weiteren Prüfung der Anspruchsgrundlagen aus dem Eingliederungshilferecht (§§ 53 ff. SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung) unter dem Gesichtspunkt einer aufgedrängten Zuständigkeit (§ 14 SGB IX a.F.). Auf die insoweit notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG des als erstattungspflichtig in Betracht kommenden Trägers der Sozialhilfe konnte deshalb verzichtet werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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