S 3 U 251/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 251/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 189/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für eine durchgeführte Psychotherapie des Klägers infolge eines anerkannten Arbeitsunfalls v. 22.09.2009.

Der im Jahr 1968 geborene Kläger war als Toningenieur beim Hessischen Rundfunk beschäftigt. Mittlerweile steht er im Bezug von Rente wegen Erwerbsminderung.

Am 22.09.2009 pumpte er gemeinsam mit einem Kollegen mittels einer Standfahrradpumpe ein Kamerastativ auf. Der Kollege pumpte, der Kläger stand einen Meter entfernt davon und beobachtete das Manometer. Dabei platzte der Schlauch der Pumpe mit lautem Knall. Der Kläger wandte in dieser Zeit seine linke Körperseite der Schallquelle zu.

Er suchte daraufhin unmittelbar den HNO-Arzt Dr. C. auf. Dieser stellte fest, dass die Gehörgänge und Trommelfelle intakt waren, der Kläger jedoch unter einer pantonalen Innenohrschwerhörigkeit beidseitig sowie Ohrgeräuschen litt. Er stellte die Diagnosen Lärmtrauma beidseitig und Tinnitus aurium beidseitig. Es wurde eine Behandlung des Klägers u.a. mit Infusionen und Druckkammertherapie eingeleitet. In den folgenden Wochen wurden von Dr. C. zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene tonaudiometrische Messungen durchgeführt. In seinem Zwischenbericht v. 25.11.2009 berichtete Dr. C., der Patient leide noch sehr unter dem Tinnitusgeräusch, das Ergebnis der Tonaudiometrie sei „etwas verbessert“. Er legte dazu ein tonaudiometrisches Messprotokoll v. 11.11.2009 vor, auf dem eine Normalisierung des Tieftongehörs erkennbar war sowie eine Hochtonsenke links deutlicher, rechts fast nicht vorhanden.

Die Beklagte versuchte die Situation am Ort des Geschehens nachzustellen, um die Lautstärke und Dauer des Geräuschereignisses festzustellen. In der Folge wurde die Anerkennung eines Arbeitsunfalls durch Bescheid v. 22.12.2009 abgelehnt, da weder ein Explosions- noch ein Knalltrauma nachgewiesen seien. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob man Klage beim Sozialgericht Darmstadt (Az. S 3 U 124/10). 

Am 23.03.2010 wurde eine weitere tonaudiometrische Messung beim behandelnden HNO-Arzt Dr. D. durchgeführt, die nunmehr wieder eine weit fortgeschrittene, etwa mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit beider Seiten zeigte. Aus den nachfolgenden Messungen ergibt sich eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens über die nächsten Monate.

Am 26.07.2010 fand im HNO-Bereich der Universitätsklinik Frankfurt/Main eine Operation statt, bei der eine Tympanoplastik Typ III mit Ambossinterposition (Lösung einer Verwachsung von Hammer und Amboss, Rekonstrukion mit einer Plastik) durchgeführt wurde. Trotz einer operativen Revision am 08.02.2011 trat aber keine durchgreifende Besserung des Hörvermögens ein.    

Im Klageverfahren S 3 U 124/10 wurde dann ein HNO-ärztliches Gutachten der Fr. Dr. E. v. 09.10.2013 eingeholt, welche die Diagnosen einer kombinierten Schallleitungs-/Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseitig sowie eines dekompensierten Tinnitus aurium beidseitig stellte. Sie stufte das Geräuschereignis dabei als Explosionstrauma ein. Die Lärmeinwirkung sei hierzu geeignet gewesen, die Schwerhörigkeit habe sich im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Exposition entwickelt, es liege eine kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit vor (bei der OP an der Universitätsklinik habe sich eine Dislokation der Gehörknöchelchenkette gezeigt) und die Tonschwellenkurven seien typisch. In der Folge wurde die Beklagte durch Urteil v. 13.05.2014 dazu verurteilt, einen Arbeitsunfall anzuerkennen. Das Gericht ging dabei von einem Explosionstrauma aus. Im sich anschließenden Berufungsverfahren schlossen die Beteiligten schließlich am 19.07.2016 einen gerichtlichen Vergleich, wonach die Beklagte einen Arbeitsunfall mit vorübergehender Vertäubung als Gesundheitserstschaden anerkannte. 

Die Beklagte veranlasste daraufhin ein HNO-ärztliches Gutachten des Prof. Dr. F. v. 09.02.2017. Dieser kam zu dem Ergebnis, Unfallfolge sei lediglich eine vorübergehende Vertäubung gewesen. Aus den vorliegenden Berichten über die audiometrischen Untersuchungen ergebe sich, dass bereits wenige Tage nach dem Unfall auf beiden Seiten wieder ein normales Hörvermögen vorgelegen habe - mit Ausnahme einer schon nachweislich vorher bestehenden C4-Senke links mit Tinnitus. Die spätere Verschlechterung des Hörvermögens und des Tinnitus seien nicht auf das Ereignis zurückzuführen

Der ebenfalls beauftragte Psychiater Gutachter Prof. Dr. G. stellte in seinem Gutachten v. 24.10.2017 fest, der Kläger leide unter einer mittelgradigen depressiven Episode mit ausgeprägt regressivem Verhalten auf dem Boden einer selbstunsicher-zwangshaften Persönlichkeit. Das psychische Erkrankungsbild könnte jedoch nur dann unfallbedingt sein, wenn die aktuellen Beeinträchtigungen des Gehörs auf den Unfall zurückgingen. Dies sei jedoch nach dem Gutachten des Prof. Dr. F. nicht der Fall.

Der Kläger hatte zuvor bereits am 08.01.2010 eine Verhaltenstherapie bei der Psychotherapeutin H. (heute: H.-J.) begonnen. Bei der Praxis H.-J. handelt es sich um eine reine Privatpraxis. Die Kosten für die Therapie (100,55 € pro Sitzung à 50 min) übernahm der Kläger privat. Erstmals am 30.08.2010 hatte er diesbezügliche Abrechnungen der Frau H. bei der Beklagten eingereicht. An seine Krankenkasse hatte er sich zuvor wegen der Therapie nicht gewandt.

Infolge der Anerkennung eines Arbeitsunfalls im Rahmen des Vergleiches vor dem Hessischen Landessozialgerichts erstattet die Beklagte dann teilweise die angefallenen Kosten. Mit Schreiben v. 19.03.2015 teilte sie dem Kläger mit, es könnten für die Therapie lediglich Kosten i.H.v. 20.045,98 € erstattet werden. Es seien nur Kosten i.H.v. 64,42 € pro Sitzung übernahmefähig, da dies in der UV-GOÄ als Höchstsatz festgelegt sei. Sie wies in dem Schreiben zugleich darauf hin, dass die Zahlung unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Rückforderung erfolge.

Mit Widerspruch v. 24.03.2015 machte der Kläger geltend, die Beklagte müsse in entsprechender Anwendung von § 13 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) die tatsächlich angefallenen Kosten übernehmen, da sie die Anerkennung des Arbeitsunfalls zu Unrecht abgelehnt habe.

Die Beklagte verwies daraufhin mit Schreiben v. 28.07.2015 auf einen Beschluss des Verwaltungsausschusses „Rechtsfragen der Unfallversicherung“, der das von ihr praktizierte Vorgehen decke. Eine weitergehende Erstattung sei nicht möglich.

Der Kläger übersandte daraufhin an die Beklagte eine Klageschrift zur Weiterleitung an das zuständige Sozialgericht. Die Beklagte wies durch Bescheid v. 20.08.2015 den Widerspruch gegen den Bescheid v. 19.03.2015 förmlich zurück. Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V analog lägen nicht vor, da der Kläger sich vor Inanspruchnahme der Therapieleistungen nicht an seine Krankenkasse gewandt habe. Diese sei nach Ablehnung der Anerkennung des Arbeitsunfalls zuständiger Kostenträger gewesen.

Die Beklagte hat die Klageschrift am 24.08.2015 an das Sozialgericht Darmstadt weitergeleitet.

Das Gericht hat im Parallelrechtsstreit S 3 U 64/18 ein HNO-ärztliches Gutachten des Prof. Dr. K. v. 05.11.2018 eingeholt. Dieser stellte die Diagnose einer rechts mittel- bis hochgradigen, links an Taubheit grenzenden Innenohrschwerhörigkeit mit beidseitig belästigenden Ohrgeräuschen. Der Befund, wie er in den ersten vier Wochen nach Unfall vorgelegen habe, sei unfallbedingt. Die weitere Zunahme sei dann jedoch auf eine genetisch bedingte  Schwerhörigkeit zurückzuführen und nicht unfallbedingt. Es sei nach anfänglich annähernder Normalisierung des Hörvermögens eine weitere unfallbedingte Progression absolut ausgeschlossen. Dies widerspreche sämtlichen biologischen Kenntnissen von Heilungsvorgängen im menschlichen Körper. Auch sei bei einem Knalltrauma keine Verschlechterung nach mehr als einem Jahr mehr zu erwarten, dies liege aber hier vor. Eine degenerative genetische Schwerhörigkeit müsse hingegen nicht familiär gehäuft auftreten und könne auch plötzlich zunehmen. Der Tinnitus sei auf dieselbe Ursache wie die Schwerhörigkeit zurückzuführen, da die Ohrgeräusche in dem besonders betroffenen Frequenzbereich lägen, also ebenfalls nicht unfallbedingt. 
 
Der Kläger trägt nunmehr zum vorliegenden Verfahren vor, die tatsächlichen Kosten seiner Psychotherapie seien zu erstatten.  In § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V sei ausdrücklich geregelt, die Kosten seien bei zu Unrecht abgelehnter Leistung in entstandener Höhe zu erstatten. Es könne auch nicht darauf ankommen, ob nunmehr im Parallelverfahren S 3 U 64/18 die Anerkennung der psychischen Beeinträchtigungen als Unfallfolgen abgelehnt werde. Die Beklagte sei jedenfalls durch die teilweise Erstattung der Therapiekosten zuständig geworden.

Er beantragt,

die Bescheide vom 19.03.2015 und 28.07.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger bislang nicht übernommene Heilbehandlungskosten für den Zeitraum 16.01.2010 bis 28.08.2014 in Höhe von € 10.253,05 zu übernehmen. 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.


Sie beruft sich auf die in den Bescheiden gegebene Begründung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte ergänzend verwiesen. 


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Bescheide vom 19.03.2015 und 28.07.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2015 sind im Ergebnis rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf weitere Erstattung von Kosten für die Verhaltenstherapie.

In der gesetzlichen Unfallversicherung gilt im Grundsatz § 13 Abs. 3 SGB V entsprechend. Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese danach von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Den zuständigen Unfallversicherungsträger trifft demnach in vergleichbaren Situationen des sog. Systemversagens die gleiche Pflicht.

Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen jedoch hier nicht vor. Offenbleiben kann hierbei die aufgeworfene Frage, ob vom Versicherten verlangt werden kann, trotz Ablehnung der Anerkennung eines Arbeitsunfalls noch die Übernahme von konkreten Heilbehandlungskosten beim Versicherungsträger zu beantragen. Denn vorliegend fehlt es jedenfalls an einer Kausalität der Ablehnungsentscheidung der Beklagten für die Kostenentstehung. Der Kläger hatte von vornherein keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Heilbehandlungsleistungen in Form der Verhaltenstherapie, da seine psychischen Beeinträchtigungen keine Unfallfolgen sind.

Hinsichtlich der Frage des Unfallzusammenhangs der psychischen Beeinträchtigungen des Klägers wird auf die ausführliche Begründung des Urteils im Parallelverfahren S 3 U 64/18 Bezug genommen.

Das Gericht kann weiter die Auffassung der Klägerseite, die Beklagte sei durch die teilweise Erstattung der Kosten für die Psychotherapie leistungszuständig geworden, nicht nachvollziehen. Eine derartige Regelung, wonach ein unzuständiger Leistungsträger durch eine (rechtswidrige) Leistung weitergehende Leistungsansprüche begründet, ist im Gesetz nicht vorhanden. Zudem hat vorliegend die Beklagte sämtliche Leistungen ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Rückforderung erbracht. Zu beachten ist hier, dass diese vorläufige Erstattung sogar erst erfolgte, nachdem die Beklagte zuvor erfolglos Vollstreckungsschutz hinsichtlich des sozialgerichtlichen Urteils v. 13.05.2014 im Verfahren S 3 U 124/10, mit dem sie zunächst zur Anerkennung des Arbeitsunfalls verurteilt worden war, geltend gemacht hatte. Der vorläufige Charakter der Leistungserbringung wurde damit hier überdeutlich.

Eine Erstattung von (weiteren) Therapiekosten durch die Beklagte hat daher hier nicht zu erfolgen.

Das Gericht hat hier von einer Beiladung der Krankenkasse des Klägers nach § 75 Abs. 2 2. Alt Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgesehen. Ein Anspruch gegen diese nach § 13 Abs. 3 SGB V kommt offensichtlich nicht in Betracht. Der Kläger hat vor Inanspruchnahme der Leistungen weder eine Entscheidung der Krankenkasse herbeigeführt, noch handelte es sich um unaufschiebbare Leistungen. Eine Übernahme der für die Behandlung bei Fr. H.-J. entstandenen Kosten durch die Krankenkasse wäre zudem nicht zulässig gewesen, da diese offenbar über keine Kassenzulassung verfügt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang. 

Das zulässige Rechtsmittel der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG.

Rechtskraft
Aus
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