Zum Vollbeweis von Erkrankungen des peripheren und zentralen Nervensystems auf Grund der Einwirkung von Pflanzenschutzmitteln im Rahmen der Berufskrankheiten Nr. 1302 und Nr. 1307
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Januar 2015 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, inwieweit eine Vielzahl von Erkrankungssymptomen des Klägers auf seine Tätigkeit als Gartenbaugehilfe mit Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln zurückzuführen und deshalb als Berufskrankheit (BK) im Sinne des § 9 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) anzuerkennen ist. Der Kläger begehrt eine BK nach der Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische), nach der Nr. 1302 (Erkrankungen durch Halogen-Kohlenwasserstoffe) und nach der Nr. 1307 (Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen) jeweils der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
Der 1969 geborene Kläger, gelernter Gärtnergehilfe, arbeitete von September 1988 bis Ende 2001 (unterbrochen durch die Bundeswehrzeit) bei verschiedenen Zierpflanzenbetrieben. Seit dem Jahr 2002 ist er nicht mehr berufstätig und lebt von Sozialhilfe. Im Rahmen seiner Beschäftigung verrichtete er auch Pflanzenschutzarbeiten. Während seiner Berufstätigkeit konnte er in der Winterzeit 2-3 Monate Urlaub nehmen und nutzte diese zu Reisen nach Südamerika, Australien, Asien, Neuseeland und Afrika, wobei er sich verschiedene Virus-Infekte zuzog.
Im Juli 2001 machte die Krankenkasse des Klägers bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch geltend. Anbei leitete sie der Beklagten die Ärztliche Anzeige des Nervenarztes Dr. C. vom 28. Juni 2001 über eine BK wegen Pestiziden zu. Darin gab der Arzt als Diagnose an:
Neuropathie, Myopathie, deutliche Leistungstörungen in Teilbereichen, deutliche Störungen der Glukose-Utilisation im PET.
Im weiteren Verlauf des Verfahrens legte der Kläger bei der Beklagten einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin - Umweltmedizin Dr. D. vom 10. Januar 2002 vor, der bei dem Kläger
MCS - Multiple Chemikaliensensitivität
diagnostiziert hatte, sowie ein ärztliches Gutachten der Arbeitsamtsärztin Dr. E. vom 4. April 2002 vor, die bei ihm diagnostiziert hatte:
Chronisches Erschöpfungssyndrom mit Empfindungsstörungen der Hände und Muskelschwäche bei chronischer Überempfindlichkeit nach langjähriger toxischer Belastung während seiner beruflichen Tätigkeit als Gärtner (Sensibilisierungen gegenüber Schimmelpilzen, Insektiziden, Holzschutzmitteln, Latexhandschuhen), blau-rote Verfärbungen beider Hände mit Hautekzemen bei Verdacht auf rheumatische Erkrankung. Schließlich reichte der Kläger einen Bericht des Dr. F. vom 19. April 2002 vor, in dem dieser
einen Verdacht auf Lupus erythematodes (L93.) äußerte.
Die Beklagte forderte ihrerseits eine Arbeitsplatz-Expositionsanalyse bei ihrem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) an. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 10. Januar 2002 auf Grundlage der Aktenvorgänge, der Ermittlungen des Technischen Aufsichtsbeamten G. vom 31. Oktober, 7. Dezember und 10. Dezember 2001 durch Befragung der Arbeitgeber des Klägers und des Klägers selbst sowie unter Betrachtung der Tätigkeitsmerkmale für vergleichbare Arbeitsplätze zu dem Ergebnis, dass der Kläger in seinem gärtnerischen Berufsleben bei Pflanzenschutzarbeiten, die er aber nur in geringem Umfange verrichtet habe, unzweifelhaft Kontakt zu verschiedenen Pflanzenschutzmitteln (PSM) gehabt habe, u. a. zu dem Insektizid Ekamet, Wirkstoffgruppe organischer Phosphorsäureester, Wirkstoff Etrimphos, Lösemittel Xylol. Im Sinne der BK Nr. 1302 sei der Kontakt zu Zedesa-Methylbromid zu nennen. Das Arbeitsverfahren, die Örtlichkeit und die geringe Häufigkeit der Anwendungen machten eine gefährdende Exposition gegenüber dem Wirkstoff jedoch nicht wahrscheinlich. Alle befragten Arbeitgeber hätten darauf hingewiesen, dass der Kläger stets die komplette Schutzausrüstung bei der Ausbringung von PSM verwendet habe. Ferner holte die Beklagte eine Auskunft des Marineamtes Wilhelmshaven vom 26. Juni 2002 ein, über die Stoffe, mit denen der Kläger während seines Wehrdienstes bei der Bundesmarine vom 1. Oktober 1990 bis 30. September 1991 in Berührung gekommen war.
Auf Wunsch des Klägers holte die Beklagte sodann ein Gutachten bei dem Internisten Nephrologie/Umweltmedizin - Prof. Dr. med. I. ein. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten vom 14. Juni 2004 bei dem Kläger:
Zustand nach Pestizidbelastung, Zustand nach Belastung durch ausgeprägte Phosphorverbindungen, Erkrankung durch Halogenkohlenwasserstoffe, Erkrankung durch organische Phosphorverbindungen, Verminderung der Abwehrlage, toxische Encephalopathie.
Daraus schlussfolgerte er, dass die BKen der Nrn. 1302, 1307 und 1317 vorliegen würden und bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 60 v.H. In seinem Gutachten bezog sich Prof. Dr. I. auf ein internistisch-rheumatologisches Fachgutachten des Priv. Doz. Dr. med. H. vom 3. März 2003. Dieser hatte bei dem Kläger folgende Diagnosen gestellt:
Oligosymptomatischer systemischer Lupus erythematodes mit niedriger Aktivität Polydipsie bei ADH- Verminderung und normaler Urinosmolarität, Autoimmunthyreoditis bei peripherer Euthyreose, subjektive Überempfindlichkeit gegen multiple chemische Reagenzien.
Abschließend holte die Beklagte eine Einschätzung des Landesgewerbearztes Prof. Dr. J. ein. In seiner Stellungnahme vom 17. Januar 2005 teilte dieser mit, dass ein Zusammenhang zwischen dem systemischen Lupus erythematodes sowie der Autoimmun-Thyreoditis einerseits und der beruflichen Pestizideinwirkung andererseits nicht bekannt sei. Darüber hinaus sei die von Prof. Dr. I. geltend gemachte multiple Chemikalienüberempfindlichkeit durch Pestizide bislang umstritten und könne daher nicht als BK anerkannt werden. Ferner seien die allermeisten Symptome durch die außerberuflich bedingten Diagnosen erklärt.
Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Februar 2005 die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nrn. 1302, 1307, 1317 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte ohne weitere Ermittlungen durch Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2005 als unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 25. Mai 2005 beim Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) Klage erhoben mit der Maßgabe, bei ihm Berufskrankheiten nach den Listennummern 1302, 1307 und 1317 anzuerkennen.
Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht am 14. Dezember 2006 den (Bio)Chemiker und Toxikologen Prof. Dr. L. zum Sachverständigen ernannt, der sein Gutachten unter dem 29. Oktober 2010 erstattete mit einem neuropsychiatrischen Zusatzgutachten von Dr. K. vom 13. Juli 2010 und unter Auswertung von medizinischen Unterlagen aus dem Rentenverfahren des Klägers gegen die Deutsche Rentenversicherung Hessen - DRV Hessen - (u. a. ein Gutachten des Neurologen/Psychiater Prof. Dr. M. vom 1. März 2007, ein neuropsychologisches Gutachten der Neuropsychologin N. vom 8. März 2007, Unterlagen aus der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Würzburg aus dem Jahr 2008). Dr. K. schloss nach seiner Untersuchung und Auswertung der Befunde das Vorliegen einer Polyneuropathie bei dem Kläger aus, die in der Zeit von 2001 bis 2007 anamnestisch dokumentierten Beschwerden und neuropsychologisch sowie neurootologisch dokumentierten Befunde seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber Ausdruck einer in dieser Zeit durchgemachten Enzephalopathie. Nebenbefundlich lägen ein motosensibles S1-Symdrom links und eine neurovegetative Labilität vor; diese krankhaften Veränderungen seien aber nicht beruflich verursacht. Prof. Dr. L. stellte bei dem Kläger eine Multisystemerkrankung fest, bei der dominierend seien:
eine chronische Müdigkeit und abnorme Erschöpfungszustände, eine Immunschwäche und erhöhte Infektanfälligkeit, eine Kopfschmerz- und Schwindelsymptomatik, ein Serotoninmangelsyndrom, Störungen des Schlaf- und Wachrhythmus, eine Chemikalien-Geruchsüberempfindlichkeit, eine raynaudartige Symptomatik, belastungsabhängige Muskel- und Gelenkschmerzen sowie eine überwiegend funktionelle Störung in Form eines Crampus-Faszikulations-Syndroms.
Die Multiorganerkrankung sei im Berufskrankheitenrecht nicht vorgesehen, erscheine jedoch aufgrund der relevanten Belastung durch Pestizide über Jahre als plausibel. Es liege eine etwa 13jährige Exposition durch zahlreiche Pestizide mit teilweise hohem neurotoxischem Potential vor. Zwar lägen keine quantitativen Expositionsdaten vor, jedoch würden die anamnestisch glaubhaft geklagten Beschwerden in dieser Zeit für eine relevante Belastung im Sinne der haftungsbegründenden Kausalität sprechen. Brommethan (ein Listenstoff nach BK Nr. 1302) und die nach BK Nr. 1307 zu erfassenden Organophosphate ebenso wie die Pyrethroide und - in geringem Umfang - auch einige neurotoxische Lösungsmittel (BK 1317) stünden in einem kausalem Zusammenhang mit dem komplexen Beschwerdespektrum des Klägers. Als berufsbedingt anzusehen seien die anamnestisch ärztlich belegbare toxische Enzephalopathie von 2001 bis etwa 2009, deren Beginn bereits Anfang der 90er Jahre anzunehmen sei, sowie das Serotoninmangelsyndrom. Der Nachweis dieser beiden berufsbedingten Erkrankungen genüge, um auch den anderen Erkrankungen des Klägers den Status einer Berufskrankheit zuzusprechen, weil deren Entstehung in gleicher Weise auf einem oxidativen und nitrosativen Stress beruhe.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein Gutachten des Direktors des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg, Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. O., Arzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Umweltmedizin, eingeholt. Da sich der Kläger geweigert hat, sich einer ambulanten Untersuchung bei Prof. Dr. O. zu unterziehen, hat dieser das Gutachten im Auftrag des Gerichts nach Aktenlage erstattet. In seinem Gutachten vom 13. Mai 2014 stellt der Sachverständige zunächst fest, dass es sich bei den von Prof. Dr. L. genannten Krankheitsbildern nur um Symptome oder Syndrome handelt, nicht aber um Diagnosen nach ICD-10. Bei einer „subjektiven Überempfindlichkeit gegen multiple chemische Reagenzien“ handele es sich nicht um eine gesicherte Diagnose. Die einzige BK-relevante Diagnose stamme von dem Nervenarzt Dr. K., der von einem „Zustand nach durchgemachter Enzephalopathie (2001-2008)“ ausgehe. Die haftungsbegründende Kausalität für diese Erkrankung durch eine adäquate Exposition gegenüber neurotoxisch wirksamen Chemikalien im Sinne der BK Nr. 1317 lasse sich jedoch aus arbeitsmedizinischer Sicht nicht feststellen. Zum einen zähle die Berufsgruppe der Gärtner nicht zu den Berufsgruppen, die ein erhöhtes Risiko für eine BK Nr. 1317 hätten. Typische Berufe mit erhöhter BK-Gefährdung seien: Spritzlackierer, Metallreiniger oder Drucker. Im Übrigen könne anhand der Ermittlungen zwar gefolgert werden, dass der Kläger Umgang mit einigen Produkten hatte, die als neurotoxisch im Sinne der BK Nr. 1317 anzusehen seien (Produkt Ekamet, das Xylol enthalten hat). Der zeitliche Umfang sei allerdings als gering zu beurteilen, da der Kläger nicht täglich alle Produkte verwendet habe. Es würden auch keine Erkenntnisse über die Höhe der Lösungsmittelexposition vorliegen. Nach dem BK-Report 2/2007 zur BK 1317 (S. 128), entwickle sich eine toxische Enzephalopathie auch meist erst nach einer Expositionsdauer von 10 Jahren und mehr. Im Übrigen sei es auch kaum vorstellbar, dass ein Patient mit einer toxischen Enzephalopathie in der Lage ist, Fernreisen in der Häufigkeit durchzuführen, wie sie der Kläger angegeben habe. Weiterhin sei aus dieser Angabe abzuleiten, dass der Kläger in einem Zeitraum von 10 Jahren für mindestens 70 Monate (24 Reisen von jeweils 3 Monaten), d.h. rund 5 bis 6 Jahre, nicht gearbeitet hat und damit nicht gefährdet war. Gegen eine Brommethan-Intoxikation im Sinne einer BK Nr. 1302 spreche die Symptomatik sowie der zeitliche Verlauf. Die Verwendung von Brommethan durch den Kläger habe 1991/92 stattgefunden. Die Krankheitssymptomatik sei aber nach den eigenen Angaben des Klägers erst 1999, d.h. rund 8 Jahre später aufgetreten. Es würden sich auch keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Vergiftung durch Organphosphate im Sinne der BK 1307 finden. Zwar habe der Kläger Umgang mit dem Produkt Etrimphos gehabt, das als einziges Pflanzenschutzmittel einen organischen Phosphorsäureester enthalten habe. Die entscheidende toxische Wirkung sei die Hemmung der Acetylcholinesterase. Diese Hemmung führe akut zu einer raschen Anhäufung des Neurotransmitters Acetylcholin an den cholinergen Synapsen. Im Bereich des peripheren Nervensystems komme es zu Speichel- und Tränenfluß, enge Pupillen, Sehstörungen, Augenschmerzen, Übelkeit, Brechreiz, Darmkoliken, Durchfällen, Bronchialsekretion, Atemnot, Hustenreiz, Muskelzuckungen. Aufgrund der Krankheitssymptomatik und des zeitlichen Verlaufs würden sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Vergiftung durch Organophosphate im Sinne der BK Nr. 1307 finden. Eine Polyneuropathie - als mögliche Langzeitfolge einer Intoxikation - sei durch die Begutachtung von Dr. K. ausgeschlossen worden.
Mit Urteil vom 20. Januar 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung der von ihm geltend gemachten Berufskrankheiten. Bezüglich der BK Nr. 1317 sei die Listenkrankheit Polyneuropathie nicht im Vollbeweis gesichert. Dr. K. habe insofern nachvollziehbar ausgeführt, dass die von Dr. C. erhobenen Befunde für die Feststellung dieser Diagnose nicht ausreichend seien, da dieser eine neurophysiologische Messung der nervlichen Funktionsstörung nicht durchgeführt habe. Die Diagnose könne nach den Ausführungen des Sachverständigen im Einklang mit dem unfallmedizinischen Schrifttum nur kumulativ auf Grund typischer klinischer Befunde und mittels neurophysiologischer Methoden gestellt werden. Angesichts dessen reichten allein die subjektiven Angaben des Klägers nicht aus. Soweit Dr. K. die Listenerkrankung Enzephalopathie festgestellt habe, komme eine Anerkennung wegen des fehlenden Kausalzusammenhangs mit den im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit verwendeten organischen Lösungsmittel oder deren Gemische nicht in Betracht. Im Gegensatz zu Prof. Dr. L. habe Prof. Dr. O. überzeugend herausgearbeitet, dass nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass der Kläger diesen Stoffen regelmäßig in ausreichender Höhe und Zeitdauer ausgesetzt gewesen ist. Auch die Anerkennung einer BK Nr. 1302, Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, scheide im Fall des Klägers aus. Nach den Feststellungen des TAD habe der Kläger während seiner beruflichen Tätigkeit als Gärtner bei der Firma P. in der Zeit vom 1. November 1991 bis zum 31. Dezember 1992 zwar zweimal ein Bodenentseuchungsmittel verwandt, welches den Listenstoff Brommethan im Sinne der BK Nr. 1302 enthielt. Nach den Feststellungen des Dr. O. sei es indes nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Enzephalopathie hier durch diesen Listenstoff hervorgerufen worden sei, denn es sei weder eine akute Intoxikation in den Jahren 1991 und 1992 noch ein zeitlicher Zusammenhang zu dem Auftreten der ersten Erkrankungsanzeichen - nach Angaben des Klägers im Jahr 1999 - feststellbar. Zudem seien die hauptsächlich dokumentierten Stoffe für eine toxische Enzephalopathie Trichloräthylen, Perchloräthylen und Dichlormethan (vgl. Schönberger u.a., a.a.O., S. 1237), nicht jedoch Brommethan. Ferner liegt die notwendige Expositionsdauer bei über fünf Jahren (Schönberger, u.a., a.a.O., S. 1237), was beim Kläger ebenfalls nicht der Fall gewesen sei. Die gegenteilige Auffassung des Prof. Dr. L. überzeuge nicht, denn dieser Sachverständige habe seine Auffassung nicht begründet und sich weder mit der kurzen Expositionsdauer des Klägers gegenüber diesem Stoff noch mit der langen Latenz bis zum Auftreten der Enzephalopathie auseinandergesetzt. Überzeugend habe Prof. Dr. O. zudem das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anerkennung der BK Nr. 1307 verneint. Zutreffend sei auch von der Beklagten die Anerkennung einer Wie-BK abgelehnt worden.
Gegen das ihm am 28. Januar 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. Februar 2015 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Er ist der Auffassung, die von ihm geltend gemachten BKen lägen vor. Mit Ausnahme der Listennummer 1317 sei es bei allen Listennummern der Gruppe 1300 ausreichend, wenn eine Erkrankung als Folge der Arbeitsplatzbelastung eingetreten sei. Bei ihm habe insbesondere ein regelmäßiger erheblicher Kontakt gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen vorgelegen, die eine toxische Enzephalopathie auslösen könnten. Er habe das Pflanzenschutzmittel „Saprol“ bei seiner Arbeit verwendet mit dem Wirkstoff Fenarimol, welches krebsfördernd sei, zudem das Pflanzenschutzmittel „Temik 10G Granulat“, ein Carbamat, welches Halogenkohlenwasserstoffverbindungen beinhalte. Da ein Arbeitnehmer in dem Gesundheitszustand rechtlich geschützt sei, in dem er sich während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit befinde, schließe eine besondere Empfindlichkeit gegenüber chemischen Stoffen keineswegs die Anerkennung einer berufsbedingten Erkrankung aus, vielmehr sei diese zusätzlich zu berücksichtigen. Die im Klageantrag nicht enthaltene Quasi-Berufskrankheit, die die Beklagte erstmals in ihrem Widerspruchsbescheid genannt habe, sei nicht Streitgegenstand.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Januar 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2005 aufzuheben und festzustellen, dass bei ihm die Berufskrankheiten der Nrn. 1317, 1302 und 1307 der Anlage 1 der BKV vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und verweist auf eine beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. Q., Diplom-Chemiker, Facharzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, vom 25. November 2013.
Der Senat hat eine ergänzende arbeitsmedizinisch-toxikologische Stellungnahme von Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. O. vom 26. September 2016 eingeholt und mit den Beteiligten am 8. August 2017 einen Erörterungstermin durchgeführt. Der Senat hat weitere Ermittlungen hinsichtlich der von dem Kläger geltend gemachten Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen durch den TAD der Beklagten angeregt auf der Basis des BK-Reportes 2/2007 vor Ort, in Anwesenheit des Klägers, der betreffenden Arbeitgeber und etwaiger noch lebender Zeugen. Die Beklagte hat die Stellungnahmen „Arbeitsplatzexposition“ vom 3. August 2018 und vom 22. November 2018 vorgelegt zur „BK-Nummer: 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe“. Weiterhin hat der Senat ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Univ.-Prof. Dr. med. R., Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsklinikum Aachen vom 25. August 2021 eingeholt mit einem neuropsychologischem Zusatzgutachten des Diplom-Psycho-logen PD Dr. S. vom 9. März 2021. Der Neuropsychologe hat bei dem Kläger Aufmerksamkeitsbeeinträchtigungen festgestellt, die indes nicht durchgängig seien, sondern vor allem visuelle Einfachreaktionen sowie die qualitativen Leistungen bei komplexeren Aufmerksamkeitstests betreffen würden. Eine eindeutige Aussage zur Ätiologie dieser Beeinträchtigungen könne nicht gemacht werden. Vielmehr kämen mit gleicher Wahrscheinlichkeit neurotoxische Belastungen (sofern diese von arbeitsmedizinischer Seite bestätigt werden) als auch mögliche nicht-organische Ursachen in Betracht (Serotoninmangelsyndrom, Hypochondrie, Somatisierungsstörung). Der Sachverständige Prof. Dr. R. hat ausgeführt, aktuell könne kein Krankheitsbild identifiziert werden, welches sich einer Berufskrankheit zuordnen ließe. Auch eine Enzephalopathie lasse sich retrospektiv nicht im Vollbeweis sichern. Die bei dem Kläger von Dr. S. diagnostizierten Defizite des Klägers könnten zwar eine Berufskrankheit bei entsprechender Exposition sein, jedoch mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch bedingt sein durch die anderen im Raum stehenden Diagnosen (wie MCS, Serotoninmangelsyndrom, Somatisierungsstörung). Wegen weiterer Einzelheiten hinsichtlich des Inhalts der eingeholten Gutachten wird auf die Gerichtsakte (Band III) verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Senat einverstanden erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand sowie zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte (Band I-III mit Unterlagen aus der Rentenakte des Klägers, u. a. ein Gutachten von Prof. Dr. M. vom 1. März 2007 sowie einen Bericht der Neurologischen Universitätsklinik Würzburg aus dem Jahr 2009) sowie auf die Beklagtenakte verwiesen, die zum Verfahren beigezogen worden ist.
Entscheidungsgründe
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. Januar 2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2005 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat auch nach den weiteren Ermittlungen im Berufungsverfahren keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens einer Berufskrankheit nach den Nrn. 1317, 1302, 1307 der Anlage 1 zur BKV.
Gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als Berufskrankheiten bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den nach den §§ 2, 3 begründenden Tätigkeit erleiden (Satz 1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind und sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen o. ä. auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 15. September 2011 - B 2 U 25/10 R - juris; Urteil vom 2. April 2009 - B 1 U 30/07 R - = BSGE 103, 45; BSGE 103, 59).
Der Verordnungsgeber hat die BK Nr. 1317 wie folgt bezeichnet: „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“.
Die in der Beschreibung zur BK Nr.1317 aufgeführten Listenerkrankungen Polyneuropathie und Enzephalopathie sind hier nicht im Vollbeweis gesichert.
Für den Vollbeweis ist eine absolute Sicherheit nicht zu erzielen. Erforderlich ist aber eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wonach kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen vorgenannter Tatbestandsmerkmale zweifelt (BSGE 96, 291, 293; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage, § 128 Rn. 3b). Es muss ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 103, 99, 104).
Eine Polyneuropathie, bei der es sich um eine (generalisierte) Erkrankung des peripheren Nervensystems handelt, ist bei dem Kläger nicht nachgewiesen. Der Senat stützt sich für diese Feststellung wie das Sozialgericht auf die Feststellungen von Dr. K., die diese Diagnose anhand der ihr vorliegenden neurologischen, klinischen und neurophysiologischen Befunde des Gutachters Prof. Dr. M. im Rentenverfahren des Klägers gegen die DRV Hessen (Gutachten vom 1. März 2007), der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum Würzburg (Arztbrief an Dr. C. vom 23. Juli 2008) sowie auf Grund der eigenen neurologischen Untersuchung ausgeschlossen hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat insoweit auf die zutreffende Würdigung in den Gründen des erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Der zuletzt im Verfahren gehörte Sachverständige Prof. Dr. R. hat diese Feststellungen nochmals bestätigt.
Auch die in der BK Nr. 1317 aufgeführte weitere Listenerkrankung Enzephalopathie ist zur vollen richterlichen Überzeugung des Senats weder aktuell noch für die Vergangenheit nachgewiesen.
Als Enzephalopathie bezeichnet man nichtentzündliche Erkrankungen oder Schädigungen des Gehirns unterschiedlicher Genese. Es handelt sich streng genommen nicht um eine Diagnose, sondern um einen Oberbegriff für Strukturschädigungen und Funktionsstörungen des Gehirns. Unter einer toxischen Enzephalopathie versteht man ein Krankheitsbild, das Folge einer direkten oder indirekten Schädigung des Gehirns oder von Teilen des Gehirns durch exogen aufgenommene oder im Stoffwechsel entstandene neurotoxisch wirkende Stoffe ist. Das Krankheitsbild unterscheidet sich in den wesentlichen Symptomen nicht von anderen Enzephalopathieformen. Kernsymptome sind: verminderte Konzentrationsfähigkeit, Merkschwäche, Schwierigkeit beim Erfassen und Behalten von Informationen, Antriebs- und Affektstörungen mit Nachlassen von Initiativen, mit erhöhter Reizbarkeit, Verstimmungszuständen und Veränderungen der Primärpersönlichkeit sowie eine außergewöhnliche Ermüdbarkeit oder rasche Erschöpfbarkeit. Da psychische Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung häufig vorkommen und organische Störungen in der Regel eine multifaktorielle Ätiologie aufweisen, ist eine adäquate Differentialdiagnose von besonderer Bedeutung. Hierbei ist eine Abgrenzung zu anderen Erkrankungen vor allem auf neuropsychiatrischem und internistischem Fachgebiet erforderlich. Anzuführen sind hier u.a. affektive Störungen (früher: endogene Depressionen), Angststörungen und phobische Störungen, Reaktionen und Belastungsstörungen und somatoforme Störungen (BK-Report 1/2018, S. 82). Zu den Diagnosekriterien der Enzephalopathie gehören als objektive Symptome und Befunde der Nachweis typischer Kernsymptome, die nicht auf andere Ursachen zurückgeführt werden können, typische kognitive Leistungsdefizite, typische Zeichen von organisch bedingten affektiven Störungen und der Nachweis von Tremor, Ataxie und Koordinationsstörungen. An bildgebenden Verfahren für einen Nachweis kommen eine kraniale Computertomographie (CCT) oder eine MRT in Betracht (BK-Report 1/2018, S. 84 f.).
Dr. K. sieht in ihrem Gutachten vom 13. Juli 2010 zwar zum Zeitpunkt ihrer eigenen Untersuchung (2008) die Diagnose Enzephalopathie nicht mehr für gegeben an; kognitive Leistungseinschränkungen ließen sich neuropsychologisch nicht mehr nachweisen, der entsprechende Befund sei unauffällig, auch der organneurologische Befund zeige keine cerebralen Defizite. Die Neurologische Universitätsklinik Würzburg habe 2009 auch eine Erkrankung des zentralen Nervensystems ausgeschlossen.
Dr. K. nimmt indes auf Grund der anamnestisch dokumentierten Beschwerden des Klägers sowie der neuropsychologisch sowie neurootologisch dokumentierten Befunde in den Akten den Zustand nach durchgemachter Enzephalopathie (2001 – 2007/2008) an. Aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. O. in seinem späteren Gutachten vom 13. Mai 2014 geht nicht klar hervor, ob er schon das Krankheitsbild einer Enzephalopathie als solches für nicht vollbewiesen hält oder ob nach seiner Auffassung die Anerkennung der BK Nr. 1317 erst, aber jedenfalls, an dem Fehlen der haftungsbegründenden Kausalität scheitert, d. h. an dem fehlenden Zusammenhang der Erkrankung mit gefährdenden Stoffen am Arbeitsplatz. Überzeugend für den Senat hat indes Prof. Dr. R. unter Berücksichtigung der Ergebnisse des neuropsychologischen Zusatzgutachters des PD Dr. phil. S. festgestellt, dass sich die unspezifischen Beschwerden des Klägers weder in der Vergangenheit noch gegenwärtig eindeutig der Diagnose Enzephalopathie zuordnen lassen. Nach PD Dr. phil. S. ist der von ihm erhobene neuropsychologische Befund (nicht durchgängige Aufmerksamkeitsbeeinträchtigungen) im Wesentlichen konsistent mit den Vorbefunden aus den Jahren 2007 und 2001. Diese Aufmerksamkeitsstörungen können aber mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch auf das von Vorgutachtern teilweise angenommene mögliche MCS-Syndrom zurückzuführen sein und gehen zudem mit den hier in den Vorbefunden gestellten Diagnosen eines Serotoninmangelsyndroms als auch einer Somatisierungsstörung einher (Dr. M. hat im März 2007 eine „Somatisierungsstörung mit schwerer hypochondrischer Fehlhaltung“ diagnostiziert). Die Ausführungen des Psychologen sind für den Senat schlüssig und nachvollziehbar, zumal sie dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen, wonach gerade wegen der unspezifischen Symptomatik eine Abgrenzung u. a. zu somatoformen Störungen erforderlich ist (BK-Report 1/2018, S. 82; Schönberger/Mehrtens/Valentin 9. Auflage 2017, S. 266).
Prof. Dr. R. legt zudem und insoweit in Übereinstimmung mit Dr. K. dar, dass die bei dem Kläger am 21. Mai 2001 durchgeführte Positronen-Emissions-Tomographie des ZNS (PET), die u. a. Grundlage für die Feststellungen des Dr. C. ist, als Diagnostik nicht anerkannt und der Befund auch nicht spezifisch für eine Enzephalopathie ist. Prof. Dr. M. hat im Übrigen in seinem Gutachten im Rentenverfahren vom 1. März 2007 ebenso wie später die Ärzte der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Würzburg festgestellt, der unauffällige kernspintomografische Befund, der eine zuverlässige Abbildung der morphologischen Struktur des Gehirns bietet, ergibt keinerlei Hinweise auf eine entzündliche, toxische oder anderweitig bedingte Schädigung des zentralen Nervensystems. Mit Prof. Dr. R. sieht der Senat weder retrospektiv noch aktuell die Diagnose Enzephalopathie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für bewiesen an.
Der Senat weist darauf hin, dass selbst wenn die Listenerkrankung Enzephalopathie hier im Vollbeweis gesichert wäre, eine Anerkennung auch deshalb nicht in Betracht käme, weil diese nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die beruflichen Einwirkungen durch Lösungsmittel (hier nach den Ermittlungen des TAD das Lösemittel Xylol, das in dem verwendeten Produkt Ekamet enthalten ist) zurückgeführt werden könnte.
Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d. h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.) und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 -, Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite 630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris).
Schon der naturwissenschaftliche Zusammenhang (1. Prüfungsstufe) zwischen (unterstellter) Erkrankung und der beruflichen Exposition mit organischen Lösungsmitteln bzw. deren Gemische ist hier nicht hinreichend wahrscheinlich. Für diese Feststellung stützt sich der Senat ebenso wie das Sozialgericht auf die überzeugenden Darlegungen des Prof. Dr. O. und verweist hinsichtlich der Würdigung auf die zutreffenden Gründe des erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG). Entgegen der Auffassung des Klägers entsprechen die von dem Sachverständigen abgewogenen Argumente (nach wie vor) dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Argumente für eine berufliche Ursache sind u. a. hohe Expositionen, eine lange Expositionsdauer, bei Enzephalopathie in der Regel mehr als zehn Jahre, Ausschluss bekannter außerberuflicher Ursachen (BK-Report 2/2007 BK 1317, S. 128; BK-Report 1/2018 BK 1317, S. 90; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 266). Alle diese Kriterien sind hier nicht erfüllt.
Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK Nr. 1302 der Anlage 1 der BKV sind hier nicht gegeben.
Der Verordnungsgeber hat in der BK Nr. 1302 bezeichnet „Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe“. Auch hier fehlt es bereits schon an einer im Vollbeweis vorliegenden Erkrankung, die diesem Tatbestand zuzuordnen ist und jedenfalls an dem Zusammenhang mit einer Noxe dieses BK Tatbestandes.
Bei der BK Nr. 1302 handelt es sich um einen sogenannten „offenen“ BK-Tatbestand, d.h. um eine Berufskrankheit, in deren Beschreibung der Verordnungsgeber entweder die Noxe oder wie vorliegend das Krankheitsbild offengelassen hat (siehe dazu Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), Stand: 04/2021, E § 9 SGB VII, S. 24). Dies führt jedoch nicht dazu, dass bereits die - ggf. auch nur sehr geringfügige - Aufnahme der in den Berufskrankheiten angegebenen Stoffe Krankheitswert hat. Vielmehr sollen auch die offenen Berufskrankheiten bestimmte Krankheitsbilder erfassen, für die die medizinische Wissenschaft die Voraussetzungen für die Berufskrankheiten-reife - generelle Geeignetheit und Gruppentypik im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII - herausgearbeitet hat. Die Krankheitsbilder sind zwar nicht in den offenen BK-Tatbeständen, aber in den hierzu erlassenen amtlichen Merkblättern und bei neueren BK-Tatbeständen zusätzlich in den wissenschaftlichen Begründungen aufgeführt (Mehrtens/Brandenburg, BKV a.a.O.). Die Merkblätter enthalten zwar keine verbindlichen Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen noch sind sie antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Sie sind jedoch als Interpretationshilfe und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 - B 2 U 17/15 R - juris).
Als mögliche Krankheitsbilder durch die Einwirkung eines Halogenkohlenwasserstoffes stehen nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand akute und/oder chronische Schädigungen verschiedener Körperorgane im Vordergrund. Hierzu gehören das zentrale Nervensystem (toxische Enzephalopathie), das periphere Nervensystem (Neuropathien, vor allem der Hirnnerven), Schädigungen der Leber, Nieren und anderer parenchymatöser Organe, des Herzens und des Kreislaufs, des Blutes, der Atemwege und der Lungen sowie auch Hautveränderungen (lokale Infektionen und Ekzeme). Darüber hinaus können verschiedene Halogenkohlenwasserstoffe Krebserkrankungen verursachen (vgl. Merkblatt für die ärztliche Untersuchung, Bek. des BMA v. 29. März 1985, BArbBl. 1985 H. 6 S. 55 in: Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), M 1302, S. 1 ff., und die Wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 1302 - Bek. d. BMAS v. 1. Juli 2013 – IV a 4-45222-1302 ebenfalls in: Mehrtens/Brandenburg, a.a.O., S. 11f.; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 1308 f.). Die von dem Kläger angegebenen Beschwerden legen Schädigungen des zentralen Nervensystems oder Neuropathien nahe. Wie bereits zuvor zu der BK der BK Nr. 1317 ausgeführt, sind aber gerade solche Schädigungen nach den dafür maßgeblichen und hier durchgeführten neurologischen, neuropsychologischen, neurophysiologischen und klinischen Untersuchungen ausgeschlossen bzw. nicht nachgewiesen.
Mit der offenen Formulierung von BK-Tatbeständen besteht grundsätzlich die Möglichkeit, weitere Krankheitsbilder in die Anerkennungspraxis einzubeziehen, wenn entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse nach Inkrafttreten des BK-Tatbestandes gewonnen werden. Auch bei diesen später hinzukommenden Krankheitsbildern muss es sich dabei aber um solche handeln, die über die bloße Inkorporation der Noxe hinausgehen. Es bedarf neben der Einwirkung eines in einem BK-Tatbestand beschriebenen schädigenden Stoffes zusätzlich der Feststellung von Symptomen oder einwirkungstypischen biophysikalischen oder pathologischen Veränderungen, die nach den Umständen des Einzelfalls mit Wahrscheinlichkeit eine Wirkungsreaktion auf die Expositionsaufnahme darstellen (vgl. Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), E § 9 SGB VII, S. 24). Bezüglich der von Prof. Dr. I. gestellten Diagnosen wie der „subjektiven Überempfindlichkeit gegen multiple chemische Reagenzien“ oder der „Multisystemerkrankung“ und der „chronischen Müdigkeit“ durch Prof. Dr. L. und Dr. C. sind derartige Erkenntnisse nicht ersichtlich. Im Übrigen liegen diese Krankheitsbilder als Diagnosen nicht im Vollbeweis vor. Sowohl Prof. Dr. O. als auch Prof. Dr. R. haben darauf hingewiesen, dass es sich bei der Diagnose „subjektive Überempfindlichkeit gegen verschiedene chemische Reagenzien“ bzw. Multiple Chemical Sensitivity (MCS) nicht um eine gesicherte Diagnose bzw. hier nur um den Verdacht auf eine MCS handelt. Dr. Q. hat in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme zudem nachvollziehbar dargelegt, dass der bei dem Kläger vorliegende Serotoninmangel die geschilderte Müdigkeit erkläre, es indes keinerlei Erkenntnisse der Wissenschaft gebe, dass ein Serotoninmangel durch Pflanzenschutzmittel ausgelöst werden könne (Stellungnahme vom 25. November 2013).
Auch bezüglich der BK 1302 gilt zudem, dass selbst dann, wenn hier eine entsprechende Erkrankung wie eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems nachgewiesen wäre, der Zusammenhang mit den Einwirkungen am Arbeitsplatz nicht hinreichend wahrscheinlich wäre.
Als für den betreffenden BK-Tatbestand relevante Noxe kommt im vorliegenden Fall dabei nur Brommethan (Synonym: Methylbromid) in Betracht. Der Kontakt des Klägers mit weiteren Halogenkohlenwasserstoffen ist nicht nachgewiesen. Die von dem Senat veranlassten weiteren Ermittlungen des TAD haben ergeben, dass bezüglich des von dem Kläger angeführten Pflanzenschutzmittels „Saprol“ nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob das von dem Kläger verwendete Mittel den Halogenwasserstoff Fenarimol enthalten hat; denn – so der TAD - dieser Wirkstoff ist nicht in allen Pflanzenschutzmitteln mit dem Namen „Saprol“ enthalten. Bei dem weiteren von dem Kläger verwendeten Pflanzenschutzmittel „Temik 10G Granulat“ handelt es sich überhaupt nicht um ein Halogenkohlenwasserstoffmolekül und damit nicht um ein für die BK Nr. 1302 relevantes Mittel (s. dazu insgesamt die Stellungnahme Arbeitsplatzexposition - BK-Nummer 1302 „Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe“ TAB Sühler vom 22. November 2018).
Prof. Dr. O. hat für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass hier Brommethan bzw. Methylbromid für eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensytems nicht verantwortlich sein kann. Weder Symptomatik noch zeitlicher Verlauf stimmen mit der Annahme einer Brommethan-Intoxikation überein, denn die Erkrankung hat sich nach der Sozialanamnese im Gutachten von Prof. Dr. I. erst acht Jahre nach dem zweimaligen Kontakt 1991/1992 manifestiert. Zudem haben die Beschwerden nach Expositionsende zugenommen. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen im Übrigen auf die zutreffende Würdigung der Feststellungen des Prof. Dr. O. in den Gründen des erstinstanzlichen Urteils. Der zuletzt gehörte Sachverständige Prof. Dr. R. hat darauf hingewiesen, dass der Kläger auf Grund seiner verzögerten körperlichen und geistigen Entwicklung erst ein Jahr später eingeschult wurde. Es sei daher unklar, ob die Beschwerdesymptomatik nicht schon im Kindesalter bestanden und nur noch nicht diagnostiziert worden sei. Im Übrigen sieht dieser Sachversständige ebenso wie Prof. Dr. O. den zeitlichen Verlauf der Beschwerdesymptomatik (nach Angaben des Klägers fortdauernde Beschwerden nach Expositionsende 2001) als untypisch für toxische Schädigungen des zentralen oder peripheren Nervensystems an. Die Argumente von Prof. Dr. O. und Prof. Dr. R. entsprechen dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Seite 266, 267) und überzeugen den Senat. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Kläger auch nicht der nach wissenschaftlichen Erkenntnisstand (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.) notwendigen Expositionsdauer von über fünf Jahren ausgesetzt gewesen ist.
Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK Nr. 1307 nicht vor. Diese Berufskrankheit ist bezeichnet als „Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen“. Ebenso wie bei der BK Nr. 1302 handelt es sich um einen „offenen“ BK-Tatbestand, bei dem das Krankheitsbild vom Verordnungsgeber offengelassen worden ist. Auch bzgl. dieser BK fehlt es schon am Vollbeweis eines nach wissenschaftlichen Erkenntnisstand im Hinblick auf die Noxen geeigneten Krankheitsbildes. Der Senat stützt sich für diese Feststellung wie das Sozialgericht auf die überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. O. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten ausgeführt, eine berufliche Gefährdung wäre nur durch den Umgang mit dem Produkt Etrimphos möglich, das als einziges Pflanzenschutzmittel einen organischen Phosphorsäureester enthalten hat. Die entscheidende toxische Wirkung sei die Hemmung der Acetylcholinesterase. Die Hemmung bewirke im Bereich des peripheren Nervensystems eine bestimmte Symptomatik (Speichel-und Tränenfluss, enge Pupillen, Sehstörungen, Augenschmerzen, Übelkeit, Darmkoliken, Durchfälle, Bronchialsekretion, Atemnot, Hustenreiz, Muskelzuckungen). Aufgrund der geschilderten Krankheitssymptomatik, des zeitlichen Verlaufs sowie anhand der Ausführungen im Gutachten von Prof. Dr. I. finden sich nach Prof. Dr. O. aber keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Vergiftung durch Organphosphate im Sinne der BK Nr. 1307. Als weitere mögliche Krankheitsbilder kommen nach Prof. Dr. O. Polyneuropathien, chronische zentralnervöse Störungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems in Betracht, die aber wie oben zur BK Nr. 1317 erörtert im vorliegenden Fall ausgeschlossen bzw. nicht nachgewiesen sind. Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. O. überzeugen den Senat, sie entsprechen dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu möglichen durch diese Noxen hervorgerufene Erkrankungen (vgl. Mehrtens/Brandenburg a.a.O., M 1307 Anmerkungen S. 6 Rn. 2; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 1315; S1-Leitlinie „Arbeiten unter Einwirkung von organischen Phosphorverbindungen“, Stand: 07/2014, AWMF-Register Nr. 002/022).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.