I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. März 2017 abgeändert und der Bescheid des Beklagen vom 15. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 insoweit aufgehoben, als dem Kläger der Nachteilsausgleich H entzogen wurde.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist derzeit noch streitig, ob der Beklagte dem Kläger zu Recht das Merkzeichens H (Hilflosigkeit) entzogen hat.
Der Beklagte hatte bei dem am 13. April 1995 geborenen Kläger mit Bescheid vom 17. Oktober 1995 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt und ihm die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt. Dabei war er von einer „geistigen und körperlichen Behinderung (Prader-Willi-Syndrom)“ ausgegangen.
Im Rahmen einer Nachprüfung durch den Beklagten im Januar 2013 teilte die Mutter des Klägers mit Schreiben vom 1. Februar 2013 mit, der Kläger werde im kommenden Schulhalbjahr zum Sommer 2013 die Schule mit einem Lernhilfeabschluss (berufsorientierter Abschluss) beenden und fügte ärztliche Berichte des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Essen, Prof. Dr. F. u. a. vom 10. Februar 2011, 12. August 2011, 13. Februar 2012 und 21. August 2012 bei, ein Zeugnis der G-Schule A-Stadt für das Schuljahr 2011/2012 und ein Datenblatt 2012/2013 „Förderschwerpunkte und Maßnahmen“, in dem u. a. ein unkontrolliertes Essverhalten des Klägers erwähnt wird.
Mit Schreiben vom 17. Mai 2013 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 70 und Entziehung der Merkzeichen G, B und H an, da nach dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Auswertung der Befundunterlagen wesentliche Entwicklungsfortschritte vorlägen. Die Mutter des Klägers legte ein MDK-Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 12. April 2013 vor, wonach Pflegebedürftigkeit des Klägers unterhalb der Pflegestufe I angenommen wurde. Allerdings war danach die Alltagskompetenz des Klägers in erhöhtem Maße eingeschränkt. Aufgrund der festgestellten Auffälligkeiten wurde regelmäßig und auf Dauer ein Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf bejaht. Ferner reichte die Mutter des Klägers einen ärztlichen Bericht des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Essen, Prof. Dr. F. u. a. vom 2. Mai 2013 zu den Akten und führte mit Schreiben vom 26. Juni 2013 aus, dass der Kläger, der in einer Einrichtung der J. lebt, aufgrund seiner syndromspezifischen Behinderungen einen erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung habe. Er benötige Unterstützung für den ganzen Tag, um das Gewichtsmanagement, Verhaltensmanagement und Krisenmanagement zu gewährleisten. Erst nach vielen Trainingseinheiten könne er seinen Schulweg selbstständig zu Fuß bewältigen. Er führe ein einfaches Handy mit eingespeicherten Nummern mit sich und sobald er mit der Orientierung Schwierigkeiten habe, melde er sich bei ihr. Die partielle Nebenniereninsuffizienz bedinge eine verminderte Immunabwehr. Weiter leide der Kläger unter Stimmungsschwankungen, impulsivem Verhalten mit Starrköpfigkeit und Wutanfällen. Auf Veränderungen reagiere er mit großen Unsicherheiten und Stimmungsschwankungen, momentan erprobe er eine WfbM-Wohnkombination mit dem Besuch einer Werkstatt für behinderte Menschen, mit engmaschiger 24-Stunden-Betreuung.
Mit Bescheid vom 15. August 2013 setzte der Beklagte bei dem Kläger den GdB auf 80 herab und entzog ihm die Merkzeichen G, B und H. Dabei berücksichtigte er die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen: Geistige und körperliche Behinderung (Prader-Willi-Syndrom), Zöliakie. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, nach Auswertung der Unterlagen würden wesentliche Entwicklungsfortschritte beschrieben. Eine erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr bzw. Orientierungsstörungen würden nicht mehr beschrieben. Es werde zwar Hilfe bei einzelnen Verrichtungen im täglichen Leben benötigt, dies genüge jedoch nicht, um Hilflosigkeit auf Dauer zu begründen.
Der Kläger legte hiergegen am 29. August 2013 Widerspruch ein und reichte den Beschluss des Amtsgerichts Gießen, Betreuungsgericht, vom 15. August 2013 zu den Akten, wonach seine Eltern zu Betreuern für die Aufgabenkreise Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge sowie Vertretung gegenüber Behörden und Einrichtungen der Behindertenhilfe bestimmt wurden. Des Weiteren legte der Kläger eine Bescheinigung der Wohneinrichtung J-Diakonie, J-Stadt, vom 2. Oktober 2013, eine ärztliche Bescheinigung des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Essen, Dr. H., vom 7. Oktober 2013 und einen Schulbericht der G-Schule vom 8. Oktober 2013 vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 2014 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 31. Januar 2014 Klage bei dem Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) erhoben und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, er leide neben dem Prader-Willi-Syndrom an einer Zöliakie. Das Wortzeugnis der Schule stelle seine Defizite nicht zutreffend dar. Demgegenüber stelle der Schulbericht die tatsächlichen verhaltenstypischen Besonderheiten dar. Ein großes Problem im täglichen Umgang seien die Essensfixierungen. Er habe innerhalb von Juli 2012 bis Juli 2013 10 kg zugenommen (94,8 kg bis 105 kg bei einem Längenwachstum von 187,9 cm bis 191 cm). Aufgrund seines syndromspezifischen abnormen Essverhaltens und der bestehenden Zöliakie benötige er auf Dauer ständige Assistenz. Das emotionale Verhalten habe sich keineswegs deutlich verbessert. Die Schwierigkeiten in unsicheren Situationen, in denen von außen nicht genügend Struktur gewährt werde, hätten sich im Vergleich zu früheren Jahren eher noch verstärkt. Beim unbegleiteten Zurücklegen von Wegen in nicht bekannter Umgebung sei er desorientiert und neige stark zu unkontrolliertem Verhalten. Der Kläger hat sich u. a. auf ein Gutachten der Agentur für Arbeit Gießen, Medizinaldirektorin Dr. K., vom 22. November 2012, ein psychologisches Gutachten der Agentur für Arbeit Gießen, Dipl.-Psychologin L., vom 24. April 2013 sowie eine Stellungnahme des Fachdienstes des LWV Hessen über die Erstermittlung des Bedarfs in der individuellen Lebensgestaltung im Bereich Wohnen vom 18. September 2013 gestützt, welche das Sozialgericht beigezogen hat. Der Kläger hat einen ärztlichen Bericht der Medizinischen Klinik/Endokrinologie des UKGM Gießen vom 26. August 2014 zur Akte gereicht, die Fortschreibung des individuellen Eingliederungsplans - Berufliche Bildung - der Einrichtung (J.) vom 25. August 2014 sowie das amtsärztliche Gutachten hinsichtlich des Betreuungsvorganges vom 11. Mai 2015.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein Gutachten bei dem ärztlichen Leiter der Vitos Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz Heppenheim, Dr. M., vom 22. April 2016 eingeholt. Dem Gutachten waren diverse Anlagen beigefügt, u. a. ein psychologischer Bericht zur Intelligenztestung vom 29. April 2015, ein Entwicklungsbericht Wohnen vom 4. August 2015, eine gutachterliche Stellungnahme des Fachdienstes des LWV zur Ermittlung des Bedarfs im Bereich „Wohnen“ vom 21. Dezember 2015, ein ärztlicher Bericht des UKGM, Medizinische Klinik und Poliklinik III, Schwerpunkte Endokrinologie und Diabetologie vom 9. Oktober 2015, ein auf Veranlassung des Sachverständigen von der Einrichtung erstelltes Pflegeprotokoll vom Februar 2016 sowie ein psychologischer Befundbericht vom 5. Februar 2016. Der Sachverständige hat für die aktuell bestehenden Teilhabebeeinträchtigungen einen GdB von 70 veranschlagt, es sei eine wesentliche Änderung im Sinne einer Besserung eingetreten. Er hat jedoch das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen G und H weiter bejaht. Einer ständigen Begleitung (Merkzeichen B) bedürfe der Kläger nicht mehr.
Der Kläger hat zudem ein amtsärztliches Gutachten im Betreuungsverfahren vom 6. April 2016 zu den Akten gereicht. Der Beklagte hat Stellungnahmen seines versorgungsärztlichen Dienstes vom 20. Juli 2016 und 11. November 2016 vorgelegt.
Mit Urteil vom 30. März 2017 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger weiterhin das Merkzeichen G festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der angegriffene Bescheid des Beklagten sei lediglich insoweit abzuändern, als der Kläger Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G habe, im Übrigen seien die Feststellungen des Beklagten nicht zu beanstanden. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 80 oder weitere Anerkennung der Nachteilsausgleiche B und H, weil in den maßgeblichen gesundheitlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verbesserung nachgewiesen sei. Insoweit werde auf das Sachverständigengutachten des Dr. M. vom 22. April 2016 Bezug genommen. Der Kläger habe Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G. Aufgrund des Prader-Willi-Syndroms liege eine derart gravierende Störung der Orientierungsfähigkeit vor, dass die Voraussetzungen der Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - Teil D Kap. 1 f) erfüllt seien. Nach den Vorgaben der VersMedV könne auch bei einem GdB unter 80 für eine geistige Behinderung eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht kommen. Dies sei hier der Fall, weil der Kläger allein auf fremden Wegen keinerlei Orientierung habe und sich dort nicht ohne fremde Hilfe zurechtfinde. Er erfülle demgegenüber nicht mehr die Voraussetzung für das Merkzeichen B. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei der Kläger weder physisch noch psychisch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen, auch seien Begleitpersonen als Hilfen zum Ausgleich der Orientierungsstörungen nur bei fremden nicht eingeübten Wegen erforderlich. Der Kläger erfülle auch nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H, er sei nicht hilflos. Aufgrund seines Alters seien insoweit nicht mehr VersMedV A Ziffer 5 d) bb) anzuwenden, sondern die Beurteilung richtet sich nach den Voraussetzungen des Teil A Kap. 4. Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H nach Teil A Kap. 4. lägen nach Auffassung des Sozialgerichts nicht vor. Nach § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG sei eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfe. Diese Voraussetzungen seien nach § 33b Abs. 6 Satz 4 EStG auch dann erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 3 genannten Verrichtungen erforderlich sei oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden müsse, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich sei. Der Begriff der Hilflosigkeit werde durch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze weiter konkretisiert, vgl. Teil A Kap. 4. Der Umfang der notwendigen Hilfe bei den häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen müsse erheblich sein. Dies sei der Fall, wenn die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt werde. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig seien und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorgenommen würden, genügten nicht. Das Bundessozialgericht sehe grundsätzlich eine Erheblichkeit des Hilfebedarfs für die erforderlichen Betreuungsleistungen erst als erfüllt an, wenn der Zeitaufwand mindestens zwei Stunden täglich erreiche (Hinweis auf Urteil des BSG vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 1/02 R). Da die Begriffe der Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit nicht deckungsgleich seien, nehme das BSG eine Erheblichkeit auch bei einem täglichen Hilfebedarf zwischen 1 und 2 Stunden an, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege besonders hoch sei. Dies sei der Fall, wenn behinderungsbedingt ständige Aufsicht erforderlich sei. Die Voraussetzungen nach Teil A Nr. 4 VersMedV lägen bei dem Kläger nicht vor. Der Kläger sei in der Lage, die Verrichtungen wie z. B. Waschen, Anziehen, Verrichten der Notdurft, Nahrungsaufnahme selbstständig durchzuführen. Es sei somit Hilfe nicht in erheblichem Umfang bei diesen häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen erforderlich. Darüber hinaus sei er ausreichend kommunikations- und orientierungsfähig, so dass er zur Gestaltung seiner sozialen Interaktionen nicht wesentlicher Unterstützung bedürfe, auch wenn das Sozialgericht nicht verkenne, dass von Zeit zu Zeit ein steuerndes Eingreifen durch die Einrichtung erfolge. Es sei jedoch nicht erkennbar, dass wegen völliger Antriebslosigkeit eine andauernde Aufforderung erforderlich wäre. Das Merkzeichen H sei in der Regel bei Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen zuzuerkennen, wenn diese Behinderungen allein einen GdS von 100 bedingten, bei dem Kläger sei aber lediglich ein GdB von maximal 80 für das Prader-Willi-Syndrom einzuschätzen. Auch die Hilfeleistung, die bei dem Kläger zur Vermeidung einer gesundheitsgefährdenden Nahrungsaufnahme erforderlich sei, erfülle nicht die Voraussetzungen, um Hilflosigkeit zu begründen. Der Kläger sei aktuell nicht massiv adipös, so dass eine unkontrollierte Nahrungsaufnahme nicht zu einem akut lebensbedrohlichen Zustand führen würde. Darüber hinaus sei er in der Einrichtung, in der er lebe, an regelmäßige Nahrungsaufnahme in Form von „zugeteilten“ Mengen zu festgelegten Zeiten gebunden, so dass eine zusätzliche Hilfeleistung hier anders als etwa bei der Versorgung mit Nahrung an einem offenen Buffet nicht ersichtlich sei. Nach den Angaben im Gutachten sei der Kläger durch die Regelmäßigkeit der 7 Mahlzeiten sowie die sich im Tagesverlauf anschließenden Tätigkeiten in der WfB auch in gewisser Weise „beruhigt“, so dass kein regelmäßiges, ungezügeltes Suchen nach Nahrung über 24 Stunden erfolge. Da insoweit keine tatsächliche Hilfeleistung im Sinne einer individuell auf den Kläger abgestellten Überwachungsleistung der Einrichtung erfolge, könne eine solche auch nicht hypothetisch berücksichtigt werden. Das Sozialgericht sehe zwar die von der Klägerseite geschilderte Gefahr, dass dieser in seiner Freizeit die Möglichkeit habe, sich zusätzliche Nahrung zu beschaffen. Offenbar mache er hiervon jedoch nicht in einem Umfang Gebrauch, dass eine „Rund um die Uhr“-Überwachung zur Abwendung akuter gesundheitlicher Gefährdungen erforderlich sei. Nur die könnte nach dem Wortlaut der VersMedV („Die ständige Bereitschaft ist z. B. anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist“) eine so wesentliche Hilfeleistung sein, dass das Merkzeichen H hierdurch begründet werden könnte.
Gegen das ihm am 8. Mai 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. Juni 2017 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Mit der Berufung erstrebt er nur noch die Beibehaltung des Nachteilsausgleichs H. Zur Begründung hat er insbesondere ausgeführt, dass nach der BSG-Rechtsprechung eine das Merkzeichen H rechtfertigende Erheblichkeit auch bei einem täglichen Hilfebedarf zwischen 1 und 2 Stunden vorliege, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Betreuung besonders hoch sei. Dies sei nach dem Sachverständigengutachten auf S. 197 ff. der Fall. Der Kläger sei noch und auf Dauer bei der Nahrungsaufnahme auf ständige Überwachung angewiesen (3 x d 50 Min. tägl., und bei der Körperpflege bis 6 x tägl. (10 min/d) und bei der Mobilität, witterungsbed. Ankleiden (6 min. 2xd). Gerade die umfassende bis ständige Überwachung der Nahrungsaufnahme und ihrer Begleitumstände sei aus Sicht des Sachverständigen so aufwändig, dass deren Umfang erheblich sei. In Würdigung des Gesamtaufwands der vorzuhaltenden Überwachung, die auch andere Verrichtungsbereiche umfasse, liege ein besonderer Aufwand vor. Damit habe sich das Gericht nicht auseinandergesetzt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. März 2017 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 15. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 insoweit aufzuheben, als ihm der Nachteilsausgleich H entzogen wurde.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 2019 die Mutter des Klägers zum Betreuungsaufwand bei dem Kläger angehört, insofern wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten sowie des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten hatte die Berichterstatterin als Einzelrichterin über die Berufung des Klägers zu entscheiden (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die zulässige Berufung, die von dem Kläger auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Entziehung des Nachteilsausgleichs H beschränkt worden ist, ist auch begründet.
Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. März 2017 und der Bescheid des Beklagten vom 15. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, als ihm das Merkzeichen H entzogen worden ist, und waren daher in diesem Umfang aufzuheben.
Der Beklagte war nicht berechtigt, dem Kläger mit den angefochtenen Bescheiden den Nachteilsausgleich H zu entziehen. In den Verhältnissen, die für den Erlass des Ausgangsbescheids vom 17. Oktober 1995 maßgeblich waren, ist jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 - vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/15 R - noch keine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X - dahingehend eingetreten, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens H nicht mehr vorlagen. Dies beruht zur Überzeugung des Senats auf der Gesamtwürdigung der aktenkundigen (Befund-)Unterlagen, ärztlichen und psychologischen Äußerungen sowie den Ausführungen des Sachverständigengutachtens des Dr. M. vom 22. April 2016.
Als Rechtsgrundlagen für die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens H nach Vollendung des 18. Lebensjahrs des Klägers sind § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden Fassung vom 20. Juni 2011 in Verbindung mit § 33b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) heranzuziehen (konkretisiert durch Teil A Nr. 4 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV). Danach ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Abs. 6 Sätze 3 und 4 EStG). Die Bereiche der bei dem Hilfebedarf zu berücksichtigenden Verrichtungen sind die von der Pflegeversicherung nach § 14 Abs. 4 SGB IX erfassten Bereiche der Grundpflege, zusätzlich Verrichtungen in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregungen und der Kommunikation, nicht hingegen Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist in diesem Sinne nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Allerdings ist nicht bereits bei einem Überschreiten der Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen, vielmehr ist grundsätzlich erst ein täglicher Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden hinreichend erheblich. Dabei ist nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen, vielmehr kommt auch den weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere deren wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zu. Dieser wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen bestimmt; er ist gerade im Blick auf die Zahl der Verrichtungen bzw. auf eine ungünstige zeitliche Verteilung der Hilfeleistungen von Bedeutung (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2005 - B 9a SB 1/05 R - juris Rdnr. 17 ff. und Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 1/02 R - juris Rdnr. 16, 18).
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entziehung des Merkzeichens H (Erlass des Widerspruchsbescheids vom 5. Januar 2014) noch keine so weitgehende Stabilisierung des Gesundheitszustands des Klägers (und damit des Überwachungs- und Betreuungsaufwands) eingetreten war, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens H nach den o. g. Voraussetzungen nicht (mehr) erfüllt waren. Der Kläger befand sich im Januar 2014 erst knapp 5 Monate in der spezifisch betreuten Wohngruppe mit ständiger Überwachung und Regulation der Nahrungsaufnahme und hohen Strukturierungs- und Fördermöglichkeiten auch anderer Lebensbereiche. Erst im Laufe des ersten halben Jahres in der Einrichtung hat der Kläger deutlich an Gewicht abgenommen (nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. M. 15,8 kg).
Zwar wurde im Pflegegutachten des MDK vom 12. April 2013 ein Pflegebedarf unterhalb der Stufe I nach den Maßstäben der gesetzlichen Pflegeversicherung zum damaligen Zeitpunkt angenommen (Zeitbedarf für Körperpflege 3 Min./Tag, kein Zeitbedarf für Ernährung, Zeitbedarf für Mobilität 5 Min./Tag). Allerdings konnte damals ein allgemeiner Aufsichtsbedarf zur Motivation und Kontrolle eines Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen bei der Bemessung des Pflegebedarfs in der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2008, B 3 P 23/08 B). Dass ein solcher Aufsichtsbedarf bei dem Kläger in dem für das Merkzeichen H erforderlichen zeitlich erheblichem Umfang bestand, lässt sich aus Sicht des Senats insbesondere dem Pflegegutachten des MDK vom 12. April 2013 sowie der Stellungnahme des Fachdienstes des LWV Hessen über die Erstermittlung des Bedarfs in der individuellen Lebensgestaltung im Bereich Wohnen vom 18. September 2013 entnehmen. Nach dem Pflegegutachten war die Alltagskompetenz des Klägers aufgrund der festgestellten Auffälligkeiten in erhöhtem Maße eingeschränkt. Als auffällig beim Kläger wurden beschrieben: Antrieb/Beschäftigung, Stimmung, Gedächtnis, Wahrnehmung und Denken, Kommunikation/Sprache, situatives Anpassen, soziale Bereiche des Lebens wahrnehmen. Aufgrund dessen sowie des Verkennens oder Verursachens gefährdender Situationen, Störungen höherer Hirnfunktionen und der Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren, bejahte der MDK regelmäßig und auf Dauer einen Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand des Klägers (S. 5 und 6 des Gutachtens). Damit in Übereinstimmung ist auch der Sachverständige Dr. M. davon ausgegangen, dass bei dem Kläger seit Geburt und auf Dauer eine zentrale Hirnfunktionsstörung mit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen und erheblichem Betreuungsaufwand besteht.
In der Stellungnahme des Fachdienstes des LWV vom 18. September 2013 wurde insbesondere in den Bereichen der individuellen Basisversorgung (Ernährung, Körperpflege, Aufstehen/Zubettgehen, Baden/Duschen, Anziehen/Ausziehen), Gestaltung sozialer Beziehungen, Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, Kommunikation und Orientierung, Emotionale und psychische Entwicklung, Gesundheitsförderung und -erhaltung ein Hilfebedarf für zahlreiche Verrichtungen/Tätigkeiten entweder in Form von Beratung/Assistenz/Hilfestellung oder Anleitung/teilweise stellvertretende Ausführung bejaht. Beim Aktivitätsprofil des Klägers wurde angegeben, dass er die meisten Verrichtungen/Tätigkeiten in den Bedarfsbereichen nur mit Schwierigkeiten selbst wahrnehmen könne. Hinsichtlich eines gesundheitsfördernden Lebensstils (Kenntnisse über gesunde Ernährung, körperliches Training/Bewegung, Vermeidung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen) wurde eine umfassende Hilfestellung, intensive Anleitung und Begleitung auch zur Vermeidung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen für erforderlich erachtet. Nach den dortigen Ausführungen war der Kläger erst in Ansätzen in der Lage, sein Essverhalten zu steuern. Der Fachdienst des LWV sah insgesamt einen mittleren Hilfebedarf (Hilfebedarfsstufe 3) für gegeben. Zwar kann diesen Äußerungen nicht der konkrete zeitliche Umfang für die Hilfeleistungen entnommen werden. Nachdem aber der Sachverständige Dr. M. noch für das Jahr 2016 von einem umfassenden bis ständigen Überwachungserfordernis insbesondere bezüglich der Nahrungsaufnahme ausgegangen ist (bei Zugrundelegung von sonstigen Hilfestellungen im Umfang von knapp 100 Minuten und damit etwas unter 2 Stunden nach dem von ihm veranlassten Pflegeprotokoll), kann erst recht im Januar 2014 bei noch fehlender Stabilisierung des Gesundheitszustands des Klägers insbesondere hinsichtlich des Essverhaltens ein erheblicher Hilfebedarf im Sinne des Nachteilsausgleichs H angenommen werden. Hierzu hat der Sachverständige Dr. M. ausgeführt, dass der Kläger vor Eintritt in die Einrichtung über einen längeren Zeitraum beständig an Gewicht zugenommen hat, wenngleich keine extreme Adipositas erreicht worden war. Insoweit ist vor allem auf einen Hilfebedarf in Form von Überwachung und Bereitschaft zur Hilfeleistung abzustellen, um Gesundheitsschäden/-gefährdungen bei dem Kläger zu verhindern, der nach § 33b Abs. 6 Sätze 3 und 4 EStG, Teil A 4 b der Anlage zu § 2 VersMedV für die Beurteilung des Hilfebedarfs mit zu berücksichtigen ist. Dass dieser Hilfebedarf jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 gegeben war, lässt sich zusätzlich den Ausführungen der Mutter des Klägers über die erforderliche engmaschige praktisch ganztägige Betreuung des Klägers als Mitglied einer Wohngruppe von behinderten Menschen mit Prader-Willi-Syndrom in der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 2019 entnehmen (s. Sitzungsprotokoll).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.