1. Bei der Auslegung des Begriffs des „anderen angemessenen Maßstabs“ i.S.d. § 40 Abs. 1 S. 2 KVLG sind nach dem Sinn und Zweck des KVLG die unternehmerische Gewinnchance (der Wirtschaftswert der Kultur) einerseits bzw. das zur Gewinnerzielung einzusetzende unternehmerische Risiko (der Arbeitsbedarf) andererseits, also betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte zugrunde zu legen.
2. Körnerfenchel entspricht hinsichtlich seines Wirtschaftswerts einerseits, seines Arbeitsbedarfs andererseits nicht dem Gemüsefenchel oder entsprechenden Sonderkulturen, sondern typischen Mähdruschfrüchten wie dem Winterweizen.
3. Bestehen nach dem unbestrittenen Tatsachenvortrag eines Beteiligten keine substantiellen Zweifel der Kammer hinsichtlich der Tatsachengrundlage, muss sich die Kammer nicht zu einer Beweiserhebung gedrängt sehen.
Der Bescheid der Beklagten vom 14.12.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.04.2017 wird aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, den Beitrag des Klägers für das Jahr 2016 unter der Maßgabe neu zu berechnen, dass Körnerfenchel als Mähdruschfrucht zu berücksichtigen ist. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat 50 % der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Im Übrigen trägt der Kläger seine außergerichtlichen Kosten selbst.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Beiträge des Klägers zur Landwirtschaftlichen Krankenkasse in den Jahren 2016 und 2017, insbesondere darum in welche Kulturart Körnerfenchel einzuordnen ist und infolge dessen mit welchem Faktor Anbauflächen mit Körnerfenchel bei der Berechnung des korrigierten Flächenwerts zu berücksichtigen sind.
Der 1960 geborene Kläger ist seit 1986 pflichtversichertes Mitglied in der Landwirtschaftlichen Krankenkasse. Im Jahr 2016 baute er auf einer Teilfläche seines Betriebs von 21,05 Hektar und im Jahr 2017 auf 0,97 Hektar Körnerfenchel an. Im Gegensatz zu Gemüsefenchel wird bei Körnerfenchel nicht die Knolle verwendet, sondern die Samen bspw. bei der Herstellung von Tees. Ebenfalls im Gegensatz zu Gemüsefenchel wird Körnerfenchel nicht gepflanzt und in händischer Arbeit geerntet, sondern ausgesät, einmal gedüngt, einmal bewässert und schließlich mittels Mähdrescher geerntet. Anbau und Ernte entsprechen eher Getreidesorten wie Winterweizen als Gemüsesorten oder Kräutern.
Mit Bescheiden vom 14. Dezember 2016 und vom 4. Januar 2017 setzte die Beklagte den Beitrag des Klägers zur Landwirtschaften Krankenkasse fest. Hierbei berücksichtigte sie Anbaufläche des Körnerfenchels als „Industriegemüse mit vollmechanischer Ernte“ und legte daher bei der Berechnung des korrigierten Flächenwerts einen Faktor von 3 zugrunde.
Mit Schreiben vom 29. Dezember 2016 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 14. Dezember 2016 Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 11. Januar 2017 legte er gegen den Bescheid vom 4. Januar 2017 Widerspruch ein.
Die nicht weiter begründeten Widersprüche des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2017 zurück. Körnerfenchel sei zurecht als „Industriegemüse mit vollmechanischer Ernte“ und nicht als Mähdruschfrucht berücksichtigt worden. Bei den Berechnungsfaktoren handele es sich um auf gutachterlicher Basis ermittelte Durchschnittswerte, die bei den sogenannten Sonderkulturen eine Abweichung von den ebenfalls durchschnittlichen Ertragsverhältnissen bei rein landwirtschaftlichen Nutzflächen, wie zum Beispiel Mähdrusch, darstellen. Bei der Ermittlung der Multiplikatoren werde auch dem Umstand Rechnung getragen, dass die tatsächlichen durchschnittlichen Relationen der Produktivität und des Einkommens in der Fläche zum Teil erheblich vom tatsächlichen Einkommen bei bestimmten Produktionsverfahren abweichen könnten. Maßgeblich sei das potentielle, durchschnittlich erzielbare Einkommen.
Hiergegen hat der Kläger am 10. Mai 2017 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Er meint, die Zuordnung von Körnerfenchel zur Kulturart „Industriegemüse mit vollmechanischer Ernte“ sei fehlerhaft. Körnerfenchel sei nach seinen Ertragschancen eher mit Zuckerrüben vergleichbar, die mit dem Multiplikator 1 versehen seien. Hinsichtlich seiner Anbauart sei Körnerfenchel als Mähdruschfrucht und damit mit dem Faktor 1 zu berücksichtigen.
Der Kläger beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 14. Dezember 2016 und vom 4. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, neue Beitragsbescheide mit der Maßgabe zu erlassen, dass Körnerfenchel als Mähdruschfrucht bei der Beitragsbemessung zu berücksichtigen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bezieht sich zur Klageerwiderung auf ihre Verwaltungsentscheidungen. Sie meint, es handele sich bei der Zuordnung zu den Kulturarten um eine abstrakte Zuordnung, die im Einzelfall Unschärfen enthalten könne. Körnerfenchel sei nach seiner Verwendungsart ein Arzneimittel, weil er unter anderem in Tees eingesetzt werde. Die Verwendung des Faktors 3 sei daher nach den gutachterlichen Feststellungen korrekt. Die Beklagte trägt ferner vor, dass sich jedenfalls im Jahr 2017 keine Beitragsveränderung für den Kläger ergäbe, selbst wenn Körnerfenchel als Mähdruschfrucht angesehen werde, weil die Anbaufläche in diesem Jahr sehr gering gewesen sei.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nur teilweise zulässig und soweit sie zulässig ist auch begründet.
I.
Bezogen auf den Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2017 ist die Klage nicht zulässig. Der Beitrag des Klägers wurde für das Jahr 2017 jedenfalls im Ergebnis richtig berechnet, weshalb der Kläger durch den Bescheid nicht beschwert ist. Unabhängig davon, ob die Anbaufläche des Körnerfenchels von 0,97 Hektar im Jahr 2017 mit dem Faktor 1 oder mit dem Faktor 3 berücksichtigt wird, ergibt sich hinsichtlich des Klägers jeweils die Beitragsklasse 8. Unter Berücksichtigung des Faktors 3 beträgt der korrigierte Flächenwert des Klägers vom 1. Januar 2017 bis zum 14. Mai 2017 33.977,85 €, in der Zeit vom 15. Mai 2017 bis zum 31. Dezember 2017 34.662,58 €; unter Berücksichtigung des Faktors 1 dagegen 33.912,41 € bzw. 34.598,02 €. Die Kammer nimmt insoweit Bezug auf die unbestrittenen Vergleichsberechnungen der Beklagten vom 1. Juli 2021. Die Beitragsklasse 8 ist anhand der Beitragstabelle der Beklagten für das Jahr 2017 für korrigierte Flächenwerte von 32.400,00 € bis 37.800,00 € anzunehmen, woraus sich ein Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von monatlich 235,50 € berechnet.
II.
Soweit der Kläger den Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2017 angreift, ist die Klage zulässig und begründet. Der Beitragsbescheid ist rechtswidrig und der Kläger ist durch den Bescheid beschwert. Der Kläger war für das Jahr 2016 nicht wie geschehen in die Beitragsklassen 11 bzw. 8 einzuordnen, sondern in die Beitragsklassen 10 bzw. 7.
Der fehlerhaften Einstufung liegt die Berücksichtigung der Anbaufläche des Körnerfenchels als „Industriegemüse mit vollmechanischer Ernte“ zugrunde. Richtigerweise hätte die Beklagte die Anbaufläche des Körnerfenchels als „Mähdruschfrucht“ berücksichtigen müssen. Der Faktor zur Berechnung des korrigierten Flächenwerts hätte für diese Anbaufläche daher 1 und nicht 3 betragen müssen. Hinsichtlich der Berechnung im Einzelnen nimmt die Kammer Bezug auf die unbestrittene Vergleichsberechnung der Beklagten vom 1. Juli 2021.
Der Kläger ist gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) pflichtversichert in der Krankenversicherung der Landwirte. Rechtsgrundlage für die Beitragsberechnung sind die §§ 39 Abs. 1 Nr. 1, 40 Abs. 1 KVLG. Danach werden die Beiträge bei versicherungspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmen hinsichtlich des Einkommens aus der Land- und Forstwirtschaft nach Beitragsklassen festgesetzt. Die Satzung bestimmt die Beitragsklassen für die versicherungspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmer nach dem Wirtschaftswert, dem Arbeitsbedarf oder einem anderen angemessenen Maßstab.
Gem. § 131 Abs. 4 der maßgeblichen Satzung der Beklagten ist der Flächenwert bei „Obst- und Feldgemüse im Freiland mit mechanischer Ernte“ mit einem Multiplikator von 3 zu vervielfältigen.
Die Kammer ist gestützt auf die nicht bestrittene, substantiierte Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass Körnerfenchel nicht unter den Begriff des „Obst- und Feldgemüses mit mechanischer Ernte“ zu subsumieren ist. Bei der Zuordnung des Körnerfenchels zu dieser Sonderkultur ist die Auslegung des Begriffs des „Obst- und Feldgemüses mit mechanischer Ernte“ kommt es nach Auffassung der Kammer im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Beklagten nicht auf die Art und Weise der Verwendung der Kultur – hier des Körnerfenchels als Arzneimittel – an, sondern maßgeblichen sind die vom KVLG vorgegebenen Maßstäbe.
Das KVLG nennt als Maßstab für die Bestimmung der Beitragsklassen den Wirtschaftswert und den Arbeitsbedarf, sowie andere angemessene Maßstäbe, § 40 Abs. 1 Satz 2 KVLG. Die Art und Weise der Verwendung eine Kultur – hier die Nutzung als Arzneimittel in Tees ist weder dem Begriff des Wirtschaftswert noch dem Begriff des Arbeitsbedarfs zuzuordnen. Allenfalls könnte deshalb die Zuordnung zum „Feldgemüse“ aufgrund eines „anderen angemessenen Maßstabs“ erfolgen. Bei der Auslegung des Begriffs des „anderen angemessenen Maßstabs“ ist aber wiederum der Sinn und Zweck des KVLG zu beachten, der sich seinerseits in den vorgenannten Begriffen „Wirtschaftswert“ und „Arbeitsbedarf“ manifestiert. Diese beiden Begriffe stehen letzten für die unternehmerische Gewinnchance (den Wirtschaftswert der Kultur) bzw. das zur Gewinnerzielung einzusetzende unternehmerische Risiko (den Arbeitsbedarf). Letztlich liegen also der Zuordnung zu einer Beitragsklasse betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte zugrunde. Dies ist auch zweckmäßig, weil sich aus diesen Gesichtspunkten letztlich die potentielle Wirtschaftskraft des Landwirts ergibt, die sich ihrerseits in der Höhe seiner monatlichen Beiträge widerspiegelt.
Die Art und Weise der Verwendung einer Kultur hat dagegen für sich genommen keine Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft des landwirtschaftlichen Unternehmens, sondern sie ist nur ein Faktor für die Gewinnerzielung, wenn die Art und Weise der Verwendung einen besonders hohen Wirtschaftswert darzustellen vermag.
Dies ist zur Überzeugung der Kammer gestützt auf das Ergebnis der mündlichen Verhandlung in Bezug auf den Wirtschaftswert von Körnerfenchel gerade nicht der Fall. Der Kläger hat dort schlüssig und unwidersprochen geschildert, dass Körnerfenchel hinsichtlich seines Wirtschaftswerts einerseits, seines Arbeitsbedarfs andererseits nicht dem Gemüsefenchel oder entsprechenden Sonderkulturen entspricht, sondern typischen Mähdruschfrüchten wie dem Winterweizen. Dementsprechend war der Körnerfenchel in Auslegung der Satzung der Beklagten auch nicht den Sonderkulturen im Sinne eines Feldgemüses zuzuordnen, sondern wie eine Mähdruschfrucht – entsprechend mit dem Faktor 1 – zu behandeln. Eine andere Zuordnung ergibt sich insbesondere nicht aus den gutachterlichen Feststellungen, die der Satzung der Beklagten zugrunde lagen. Aus diesen ergibt sich nur die Bewertung der jeweiligen Sonderkulturen – hier des Feldgemüses mit mechanischer Ernte – mit dem Faktor 3. Welche konkreten Kulturen aber als Feldgemüse zählen ist gutachterlich nicht festgestellt.
Da die Beklagte dem nachvollziehbaren Vortrag des Klägers hinsichtlich des Anbaus und der Ertragschancen von Körnerfenchel vergleichbar Zuckerrüben nicht entgegengetreten ist, musste sich die Kammer nicht gedrängt sehen, hierüber Beweis zu erheben. Es bestehen keine substantiellen Zweifel an der diesbezüglichen, auf dem Vortrag des Klägers basierenden Tatsachengrundlage (BeckOGK/Müller, 1.5.2021, SGG § 103 Rn. 34).
Zutreffend ist die Rechtsauffassung der Beklagten, dass bei der Auslegung der Satzungsnormen und der von ihr verwendeten Begriffe wie bei Massenverwaltungen im Allgemeinen mit Typisierungen und Pauschalisierungen gearbeitet werden darf und muss. Dies gilt jedoch nicht für die Auslegung der zur Typisierung genutzten Begriffe. Diese Begriffe sind bei allen Rechtsnormen hinsichtlich ihres Wortlauts, hinsichtlich ihrer Systematik, ihrer Entstehungsgeschichte und ihres Sinn und Zwecks auszulegen und im konkreten Einzelfall zur Anwendung zu bringen. Die Satzungsautonomie der Beklagten wird hierdurch nicht berührt (vgl. SG Gießen, Urteil vom 31. Januar 2018 – S 5 KR 198/15).
Der Klage war daher für das Jahr 2016 stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, weil durch die Auslegungsmethode der in der Satzung der Beklagten verwendeten Klassifikationen eine Vielzahl von Einzelfällen betroffen sein dürfte, die über den Fall des Klägers und die Kultur Körnerfenchel hinausreichen.