Die jahrelange Untätigkeit der Behörde nach einem erklärten Leistungsverzicht kann zur Verwirkung einer endgültigen belastenden Festsetzung und eines Erstattungsanspruch führen.
I. Auf die Berufung der Kläger werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 2. Mai 2019 und die Bescheide vom 7. März 2017 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2017 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, für April 2012 endgültige Leistungen nach dem SGB II für die Klägerin zu 1. i.H.v. 869,20 € und für den Kläger zu 2. i.H.v. 540,00 € festzusetzen.
II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Instanzen zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die endgültige Festsetzung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) für den Monat April 2012.
Die in den Jahren 1954 und 1950 geborenen, verheirateten Kläger standen im Jahr 2011 im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die Klägerin zu 1) betrieb ein Gewerbe „Import und Export von Möbeln, Metall etc.“. Der Kläger zu 2) war geringfügig im Unternehmen angestellt. Nach Meinung der Kläger genügte der Gewinn seinerzeit nicht, um den Lebensunterhalt sicherzustellen.
Aufgrund eines Fortzahlungsantrag der Kläger vom 28. November 2011 (Bl. 241 VA) bewilligte die Beklagte für die Zeit ab dem 1. Dezember 2011 den Klägern durch Bescheid vom 12. Dezember 2011 vorläufig Leistungen für den Zeitraum 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012 in Höhe von 1.555,20 € für Dezember 2011 und 1.409,20 € monatlich für Januar bis Mai 2021 (Bl. 271 VA, vollständiger Bescheid mit Berechnungsbogen, Bl. 37-41 L 6 AS 268/19). Hierbei wurde zunächst nur ein Einkommen i.H.v. 200 € monatlich zugrunde gelegt. Die Beklagte wies darauf hin, dass die Festsetzung zunächst vorläufig sei und eine abschließende Entscheidung erst möglich sei, wenn die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben im Bewilligungszeitraum festständen. Ggf. zu viel gezahlte Leistungen müssten dann erstattet werden. Die abschließenden Angaben sollten auf einem bestimmten Formular gemacht werden (Bl. 272 VA).
Am 27. März 2012 teilte die Klägerin zu 1) mit, die Beklagte solle ihnen ab dem 1. April 2012 keine Leistungen mehr zahlen. Sie würden hoffen, ihren Lebensunterhalt ab dann wieder selbst sicherstellen zu können (Bl. 275 VA).
Am 23. April 2012 wurden bei der Beklagten noch eine betriebswirtschaftliche Auswertung für den Zeitraum 1. Januar bis 31. März 2012 sowie eine Gewinn- und Verlustrechnung für den Zeitraum 1. Januar bis 28.Februar 2012 vorgelegt (Bl. 282-292 VA).
Auf Bl. 293 VA befindet sich ein Aktenvermerk, dort wird ausgeführt: „Bei nachträglicher Überprüfung der G-V’s wurde festgestellt, dass die monatlichen Personalkosten für den Ehemann von 736,-- € als Betriebsausgabe aufgeführt werden obwohl dem Ehemann dieses von der MainArbeit nicht berechnet wird. Frau A. hatte im Beratungsgespräch erklärt, dass sie zur Zeit dem Ehemann kein Gehalt zahlen kann!“
Bis Blatt 319 VA befinden sich weitere Gewinn- und Verlustrechnungen in der Akte. Hierauf wurde Seitens des Beklagten jedoch zunächst nichts weiter veranlasst (Bl. 282- VA).
Durch zwei Bescheide vom 18. August 2016 hob die Beklagte die Leistungsgewährung an die Kläger für den Zeitraum 1. April 2012 bis 31. Mai 2012 auf und forderte die Erstattung der gesamten Leistungen i.H.v. 1.720,72 € betreffend die Klägerin und i.H.v. 1.097,68 € betreffend den Kläger. Hierbei berief sie sich auf den erklärten Leistungsverzicht ab dem 1. April 2012 (Bl. 20 ff. Bd. 1 VA).
Hiergegen legten die Kläger mit Schreiben vom 14. September 2016 Widerspruch ein. Sie hätten nach Durchsicht ihrer Kontoauszüge nicht feststellen können, solche Leistungen erhalten zu haben (Bl. 36 Bd 1 VA).
Durch zwei Bescheide vom 27. Februar 2017 (Bl. 126- 127 VA) bzw. 7. März.2017 (Bl. 133-136 VA) hob die Beklagte die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 18. August 2016 auf. Dem Widerspruch habe demnach in vollem Umfang entsprochen werden können. Die Einzelheiten sollten die Kläger den ihnen gesondert zugehenden Bescheiden entnehmen.
Durch die zwei weiteren Bescheide vom 7. März 2017 forderte die Beklagte jedoch erneut die Erstattung der für den Monat April 2012 erbrachten vorläufigen Leistungen i.H.v. 860,36 € betreffend die Klägerin bzw. 548,84 € betreffend den Kläger (Bl. 133-136 VA). Sie begründete dies damit, nach der endgültigen Festsetzung zuviel gezahlte vorläufige Leistungen seien zu erstatten. Die Kläger hätten ab April 2012 auf die Leistungen verzichtet.
Hiergegen legten die Kläger mit Schreiben vom 3. April 2017 erneut Widerspruch ein (Bl. 141 ff Bd 1 VA). Sie machten geltend, die Beklagte habe ihnen doch mitgeteilt, dass ihrem Widerspruch im vollen Umfang entsprochen werde.
Die Widersprüche wurden durch getrennte Bescheide am 18. Mai 2017 zurückgewiesen (Bl. 176 Bd 1 VA ff). Zur Begründung wird ausgeführt, die „vollumfänglichen“ Abhilfebescheide vom 27. Februar 2017 bzw. 7. März 2017 seien lediglich aus formellen Gründen ergangen, da für den Monat Mai tatsächlich keine Leistungen erbracht worden seien.
Die Kläger haben am 19. Juni 2017 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.
Sie haben vorgetragen, es könne nicht sein, dass erst eine Abhilfe verkündet und dann doch noch eine Erstattung gefordert werde. Weiter sei eine Rückforderung von Leistungen nach so langer Zeit nicht mehr möglich. Sie seien zudem davon ausgegangen, dass die Beklagte ihren Fall abgeschlossen habe und keine Rückforderung mehr geltend gemacht werde. Schließlich befinde sich das Unternehmen der Klägerin in einer schwierigen Situation, so dass sie nicht in der Lage seien, den Erstattungsanspruch zu befriedigen.
Sie haben beantragt, die Bescheide vom 7. März 2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2017 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf die in den Bescheiden gegebene Begründung berufen.
Die Klage ist durch Gerichtsbescheid vom 2. Mai 2019 abgewiesen worden. Das Gericht könne gem. § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt sei und die Sache keine wesentlichen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise.
Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Die Bescheide vom 7. März 2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2017 seien rechtmäßig und verletzten die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Beklagte habe den Leistungsanspruch für den Monat April 2012 durch die endgültige Festsetzung zutreffend abgelehnt.
Unerheblich sei hier zunächst, dass vor Erlass der angefochtenen Bescheide eine Abhilfe hinsichtlich der Bescheide vom 18. August 2016 stattgefunden habe. Denn auch nach der Rücknahme von Bescheiden in einem Rechtsbehelfsverfahren stehe es der Behörde frei, innerhalb der gesetzlichen Voraussetzungen (ggf. Vertrauensschutzeinschränkungen, Fristen) neue Entscheidungen zur selben Frage zu erlassen.
Maßgeblich seien für die vorliegende endgültige Festsetzung und Erstattung noch § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 2 und 3 SGB III, da der streitgegenständliche Bewilligungszeitraum vor dem 1. August 2016 beendet gewesen sei (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 39/17 R –, Juris).
Eine vorläufige Entscheidung sei gem. § 328 Abs. 2 SGB III auf Antrag der berechtigten Person für endgültig zu erklären, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern sei. Auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen seien nach Absatz 3 der Vorschrift auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt werde, seien auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen zu erstatten.
Die vorläufige Bewilligung der Leistungen sei vorliegend aufzuheben gewesen, d.h. auf 0 € festzusetzen, und die Erstattung der erhaltenen Leistungen zu fordern, weil die Kläger mit schriftlicher Erklärung vom 27. März 2012 auf die Leistungen ab dem 1. April 2012 verzichtet hätten. Hierbei handele es sich um einen wirksamen Verzicht auf Sozialleistungen für die Zukunft nach § 46 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I), durch den der Leistungsanspruch ab dem 1. April 2012 erloschen seien. Eine Feststellung der Wirkungen des Verzichts in einem Bescheid sei möglich, aber nicht erforderlich (BeckOK SozR/Gutzler, 52. Ed. 1.12.2018, SGB I, § 46 Rn. 16).
Ein Leistungsanspruch der Kläger habe im Ergebnis für den Zeitraum April 2012 nicht bestanden. Die für diesen Zeitraum erlangten Leistungen seien zu erstatten.
Die Rückforderung nach endgültiger Festsetzung sei hier auch nicht verfristet. Insbesondere habe bei dem Erlass des endgültigen Bescheides nicht die Frist des § 41 a Abs. 5 SGB II entgegengestanden, da der Fristbeginn hier durch die Übergangsregelung des § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II dahingehend modifiziert werde, dass die Jahresfrist erst am 1. August 2016 begonnen habe. Die endgültige Festsetzung sei innerhalb dieser Frist durch Bescheid vom 7. März 2017 erfolgt. Die Frist des § 48 Abs. 4 S. 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X, wonach die Behörde die Rücknahme innerhalb eines Jahres seit Kenntnis von der Änderung vornehmen müsse, greife im Falle der endgültigen Festsetzung nicht ein, da die Frist des § 41 a Abs. 5 SGB II die speziellere Regelung darstelle.
Auch eine Verwirkung des Erstattungsanspruches könne das Gericht nicht erkennen. Zwar seien zur Zeit der endgültigen Festsetzung seit dem Leistungsbezug bereits über vier Jahre verstrichen. Jedoch fehle es an einem sog. Umstandsmoment, d.h. es gebe keine ausreichenden, der Beklagten zurechenbaren Umstände, aus denen die Kläger hätten schließen dürfen, dass eine Rückforderung nicht mehr erfolgen würde. Ein solcher Umstand liege auch nicht etwa darin, dass die Kläger bereits kurz nach dem Ende des Leistungsbezugs eine betriebswirtschaftliche Auswertung und eine Gewinn- und Verlustrechnung eingereicht hätten und die Beklagte hierauf untätig geblieben sei. Denn die Kläger seien durch den vorläufigen Leistungsbescheid eindeutig darauf hingewiesen worden, dass eine endgültige Festsetzung erst nach Bekanntgabe sämtlicher im Bewilligungszeitraum erzielter Gewinne des Unternehmens erfolgen könne und die Vorlage eines speziellen Formulars hierfür erforderlich sei. Die von den Klägern im Jahr 2012 eingereichten Unterlagen hätten sich aber lediglich auf Teilzeiträume des Bewilligungszeitraumes bezogen. Auch hätten sie nicht das von der Beklagten (rechtmäßigerweise) verlangte Formular vorgelegt. Sie hätten daher nicht davon ausgehen dürfen, dass die Beklagte bereits alle notwendigen Unterlagen habe, um über die endgültige Leistungshöhe im kompletten Zeitraum des Leistungsbezugs zu entscheiden.
Für die Berücksichtigung einer etwaigen schlechten wirtschaftlichen Lage der Kläger gebe es im Erstattungsverfahren schließlich keine Handhabe. Den Klägern stehe es allerdings frei, nach Bestandskraft der Bescheide im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens einen Erlass oder eine Stundung der Forderungen zu beantragen.
Der Gerichtsbescheid ist den Klägern am 8. Mai 2019 zugestellt worden.
Die Kläger haben am 5. Juni 2019 Berufung eingelegt.
Die Kläger sind der Ansicht, dass der Beklagten 2012 alle Daten zur Beurteilung der Richtigkeit der Gewährung von Leistungen bekannt gewesen seien.
Durch die BWAs des Unternehmens hätte die Beklagte alle notwendigen Unterlagen und damit den Nachweis besessen.
Die Beklagte hätte also frühzeitig alle Unterlagen gehabt, um die Rechtmäßigkeit der Leistungen zu überprüfen können. Wenn eine Prüfung in diesem frühen Stadium nicht erfolgt sei, könne dies nicht zu ihren Lasten gehen. Erst im Jahr 2016 sei die Beklagte tätig geworden.
Unter Berücksichtigung der Regelungen des SGB X dürften die Leistungen nicht mehr auf den Prüfstand gestellt und zurückgefordert werden.
Auch wenn die Leistungen nur vorläufig bewilligt worden seien, hätten sie im Jahr 2016 darauf vertrauen können, dass die Leistungen zu Recht gewährt worden seien und nicht mehr zurückgefordert werden würden.
Mit dem Bescheid aus dem Jahr 2011 sei Ende 2015 eine vierjährige Verjährungsfrist abgelaufen, ab Kenntnis im Jahr 2012 sei Ende 2013 die Jahresfrist abgelaufen, die die Beklagte hätte nutzen können, um ggfs. ergänzende Informationen zu erhalten.
Schließlich hätten sie alle notwendigen Informationen im Jahr 2012 geliefert, um der Beklagten eine Überprüfung der Leistungsgewährung zu ermöglichen.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 2. Mai 2019 aufzuheben und die Bescheide vom 7. März 2017 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2019 dahingehend abzuändern, dass die Beklagte verurteilt wird, für April 2012 endgültige Leistungen in Höhe von 1409,20 € monatlich festzusetzen und die Erstattungsforderung aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung abzuweisen.
Neue rechtserhebliche Gesichtspunkte seien nicht vorgetragen worden. Es werde daher auf das Urteil des SG Darmstadt vom 2. Mai 2019 unter dem Aktenzeichen S 21 AS 571/17 verwiesen.
Am 14. Juli 2021 ist ein Erörterungstermin durchgeführt worden. In diesem Termin haben die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift des Erörterungstermins vom 14. Juli 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden.
I. Die Berufung ist zulässig.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 2. Mai 2019, die Bescheide vom 7. März 2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Mai 2017, durch die die Beklagte den Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II April 2012 endgültig niedriger als zunächst vorläufig bewilligt festgesetzt sowie 860,36 € von der Klägerin zu 1) und 548,84 € von dem Kläger zu 2) erstattet verlangt.
Mit der Klage hiergegen und dem Vorbringen, eine Erstattung sei nicht zu leisten, weil ihnen die vorläufig bewilligten Leistungen zustünden, zumindest aber niedrigere Leistungen aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr festgesetzt und eine Erstattung nicht beansprucht werden könne, begehren die Kläger eine Korrektur der Entscheidung des Beklagten über die abschließend festzusetzenden und die zu erstattenden vorläufig erbrachten Leistungen. Demgemäß richtet sich das Klageziel neben der Änderung des Bescheides darauf, den Beklagten zu verpflichten, abschließend höhere Leistungen festzusetzen (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. Dezember 2020 L 3 AS 505/18 –, Rn. 19 - 21, juris).
Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2, § 56 SGG; BSG, Urteil vom 8. Februar 2017 – B 14 AS 22/16 R –, Rn. 10, juris).
II. Die Berufung ist begründet.
Rechtsgrundlage für die vorläufige Bewilligung war § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung in Verbindung mit § 328 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) in der damals geltenden Fassung. Nach der Verweisungsnorm des § 40 SGB II waren für das Verfahren nach dem SGB II u.a. die Vorschriften des § 328 SGB III a.F. über die vorläufige Entscheidung entsprechend anwendbar (Abs. 2 Nr. 1). Hiernach kann über die Erbringung von Geldleistungen u.a. dann vorläufig entschieden werden, wenn zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs eines Arbeitnehmers auf Geldleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen und der Arbeitnehmer die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat (§ 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III a.F.).
Zutreffend hat hiernach die Beklagte über die Leistungsansprüche mit Bescheid vom 12. Dezember 2011 im Wege der vorläufigen Entscheidung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III a.F. befunden.
Nach dem am 1. August 2016 in Kraft getretenen § 41a Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Gemäß § 41a Abs. 3 S. 1 SGB II entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Abs. 3, gelten gemäß § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt. § 41a SGB II ersetzt den bis 31. Juli 2016 in Kraft gewesenen § 40 Abs. 2 Nr. 2 SGB II, über den die Vorschrift des § 328 SGB III a.F. anwendbar war.
Für nach dem bis zum 31. Juli 2016 geltenden Recht (§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III a.F.) vorläufig bewilligte Leistungen, deren Bewilligungszeiträume vor dem 1. August 2016 beendet waren, gilt nach der Übergangsvorschrift in § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II die neue Vorschrift des § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die Jahresfrist mit dem 1. August 2016 beginnt.
Zutreffend hat die Beklagte bei der Festsetzung der endgültigen Leistungen den Leistungsverzicht der Kläger ab 1. April 2012 berücksichtigt. Zum Zeitpunkt der Erklärung des Leistungsverzichts war jedoch der Zahlungslauf für den Monat April 2012 bereits erfolgt, so dass den Klägern die Zahlungen schon im März 2012 zuflossen.
Der endgültigen Festsetzung steht nicht der Ablauf der Jahresfrist nach §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X entgegen.
Da die Jahresfiktion des § 41a Abs. 5 SGB II nicht per Übergangsregelung auf in der Vergangenheit abgeschlossene Bewilligungszeiträume anwendbar gemacht wurde, verbietet sich auch eine analoge Anwendung der Jahresfrist der §§ 45 Abs. 4 und 48 Abs. 4 SGB X auf vergangene Zeiträume, da dies offenbar gesetzgeberisch gerade nicht gewollt war (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 31. Juli 2018 – L 13 AS 1951/16 , Rn. 31, juris).
Der endgültigen Festsetzung und dem Erstattungsanspruch des Beklagten steht allerdings die Verwirkung entgegen. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung (vgl. § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches [BGB]) voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R – Rn. 31, juris).
Nach der Rechtsprechung des BSG führt Zeitablauf allein einen Rechtsverlust durch Verwirkung nicht herbei, sondern es müssen weitere Umstände hinzutreten, welche die späte Ausübung des Rechts mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen des illoyalen Verhaltens des Berechtigten nicht mehr als zumutbar erscheinen lasse; der Inanspruchgenommene muss aus der Untätigkeit der Behörde haben schließen dürfen, diese werde von ihrem Rückforderungsrecht keinen Gebrauch mehr machen (vgl. BSG 7, 199, 200, 201; BSG, Urteil vom 25. August 1966 9 RV 544/65 –, Rn. 12, juris).
Für die Verwirkung spricht zum einen, dass die Kläger wirksam den Verzicht auf die Sozialleistungen erklärt hatten und allein aufgrund dieses Verzichts kein Leistungsanspruch bestand, so dass eine weitere Prüfung der tatschlichen Hilfebedürftigkeit von der Beklagten gerade nicht vorgenommen werden musste.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass einem vorrangegangenen Widerspruch der Kläger vollumfänglich (aus formellen) Gründen stattgegeben wurde.
Selbst bei Annahme eines Prüfungserfordernisses hat die Beklagte trotz der Übersendung von Unterlagen und des in der Akte dokumentierten Überprüfungserfordernisses von Beklagtenseite keine weiteren Schritte eingeleitet worden sind. Erst in Folge der über vier Jahre später erfolgten Gesetzesänderung in Gestalt der Einführung des § 41 a SGB II zum 1. August 2016 wurde offensichtlich die Prüfung eingeleitet.
Dieses zeitliche Moment begründet ein aktives, schutzwürdiges Vertrauen der Kläger. Unter Berücksichtigung der hiesigen Umstände begründet die vorliegende jahrelange Untätigkeit ein schutzwürdiges Vertrauen der Kläger. Denn die Kläger haben durch ihren Verzicht auf Leistungen im März 2012 von ihrer Seite alles getan, um der Beklagten die endgültige Festsetzung zu ermöglichen. Die verspätete endgültige Leistungsfestsetzung und die Geltendmachung der Erstattungsforderung sind nur auf Untätigkeit der Beklagten zurückzuführen. Hier liegt daher ein Fall vor, in dem die Kläger das Nichtstun der Beklagten nach den Umständen als bewusst und planmäßig betrachten durften (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R – a.a.O., juris Rdnr. 35; BSG, Urteil vom 21. März 1967 9 RV 392/64 –, Rn. 9, juris).
Nach der Rechtsprechung des BSG wird regelmäßig eine Zeitspanne der Untätigkeit von vier Jahren als unterste Grenze angesehen, um Verwirkung annehmen zu können (vgl. BSGE 21, 27, 33, 34; BSG vom 22. Juni 1977 – 10 RV 59/76 – (BSG, Urteil vom 21. März 1967 – 9 RV 392/64 –, juris). Für die Verwirkung spricht, dass zwischen dem Erlass der Leistungsbewilligung im Dezember 2011 und dem hier angegriffenen Bescheid ein Zeitraum von mehr als fünf Jahren liegt, nämlich 5 Jahre und 3 Monate. Selbst wenn man auf den Zeitpunkt des Leistungsverzichts abstellt, der am 27. März 2012 erklärt wurde, ergingen die angegriffenen Bescheide fast 5 Jahre später am 7. März 2017. Der Vierjahreszeitraum war damit deutlich überschritten.
Es ist in diesem Zusammenhang auch beachtlich, dass die Kläger einen Überprüfungsantrag für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr hätten stellen können (vgl. § 40 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB X).
Auch wenn, wie bereits dargelegt, die Jahresfrist des §§ 45, 48 SGB X, § 41 a SGB II hier nicht (analog) anwendbar ist, ist dennoch der diesen Regelungen zugrunde liegende Rechtsgedanke bei der Bemessung, ob eine Verwirkung eingetreten ist, mit zu berücksichtigen. Die Übertragbarkeit dieses Rechtsgedankens lag auch der zum 1. August 2016 erfolgten Rechtsänderung zu Grunde. In der Gesetzesbegründung wird hierzu wie folgt ausgeführt: „Sollte innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung, auch nicht auf Antrag der leistungsberechtigten Person, ergangen sein, gilt die vorläufig bewilligte Leistung als abschließend festgesetzt. Diese Frist orientiert sich an § 45 Absatz 4 Satz 2 SGB X, weil der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende bereits im Zeitpunkt der vorläufigen Entscheidung Kenntnis davon hat, dass die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht vollständig aufgeklärt waren. Im Übrigen gilt diese Frist auch gegenüber der leistungsberechtigten Person, die einerseits nach Fristende keine Nachzahlung mehr geltend machen kann, andererseits aber nach Ablauf der Frist auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertrauen kann“ (BT-Drucks 18/8041, S. 54).
Zweck der Gesetzesänderung war damit gerade, die Herstellung von Planungssicherheit für beide Seiten.
Aufgrund des hier eingetretenen Zeitablauf bewirkt die Entscheidung der Beklagten zudem auf Klägerseite einen besonderen (negativen) Überraschungseffekt. Aufgrund der selbständigen Tätigkeit der Klägerin zu 1) und dem damit verbundenen schwankenden Einkommen bestand ein besonderes Interesse an einer zeitnahen Klärung des Leistungsanspruches, auch um zum Beispiel Rücklagen für eine Rückzahlung des Anspruches bilden und vorhalten zu können.
Daher ist die Beklagte zu verurteilen, für April 2012 endgültige Leistungen nach dem SGB II für die Klägerin zu 1. i.H.v. 869,20 € monatlich und für den Kläger zu 2. i.H.v. 540,00 € monatlich festzusetzen. Dies entspricht der vorläufigen Bewilligung des Bescheides vom 12. Dezember 2011.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).