S 1 AS 264/21 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 AS 264/21 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 381/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

I.    Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in gesetzlicher Höhe ab dem 16.04.2021 bis zum 31.08.2021 unter Berücksichtigung der temporären Bedarfsgemeinschaft und der Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4. sowie ohne Berücksichtigung des Kindergeldes für den Antragsteller zu 4., zu gewähren.

II.    Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

III.    Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens über die Höhe der zu gewährenden Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die Antragsteller zu 1.-3. leben in einer Bedarfsgemeinschaft und beziehen Leistungen nach dem SGB II vom Antragsgegner. Der 2006 geborene Antragsteller zu 4. ist der Sohn der Antragsteller zu 1. und zu 2., und ist seit 15.02.2020 in einer Jugendhilfeeinrichtung, dem Heilpädagogium F., F-Stadt, untergebracht. Der Antragsteller zu 4. wird seit dem 18.02.2021 jeden Freitag im Zeitraum zwischen 13:00 und 14:00 Uhr mit dem PKW von der Antragstellerin zu 1. abgeholt, verbringt das Wochenende bei seinen Eltern, und wird schließlich am Sonntag gegen 18:00 Uhr wieder mit dem PKW in die Jugendhilfeeinrichtung zurückgebracht.

Die Antragstellerin zu 1. ist gemäß §§ 62, 63, 64 Abs. 2 S. 2 EStG Kindergeldberechtigte und bezieht das Kindergeld für die Antragsteller zu 3. und 4. Mit Heranziehungsbescheid vom 06.03.2020 wurde von der Stadt Darmstadt ein Kostenbeitrag zur Beteiligung an den Kosten der Jugendhilfeleistung gemäß § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII in Höhe des Kindergeldes ab dem 01.03.2020 gegenüber der Antragstellerin zu 1. festgesetzt. Ausweislich der zur Akte gereichten Kontoauszüge wurde ein Betrag in Höhe des Kindergeldes monatlich im Zeitraum von Juni 2020 bis April 2021 vom Konto des Antragstellers zu 2. an das Jugendamt überwiesen.

Mit Bewilligungsbescheid vom 17.05.2020 wurden den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum vom 01.07.2020 bis zum 30.06.2021 bewilligt. Der Bescheid wurde, soweit er den hier streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum ab Antragsstellung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren betrifft, mit Änderungsbescheid vom 21.11.2020 und mit Änderungsbescheid vom 10.06.2021 abgeändert. Mit dem Änderungsbescheid vom 10.06.2021 berücksichtigte der Antragsgegner für den Zeitraum April 2021 Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts und eine temporäre Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 4. Das Kindergeld des Antragstellers zu 4. wurde, soweit es nicht zur Bedarfsdeckung des Antragstellers zu 4. benötigt wurde, als Einkommen der Antragstellerin zu 1. angerechnet. Gegen diese Bescheide legten die Antragsteller Widerspruch ein.

Für den Zeitraum vom 01.07.2021 bis 31.12.2021 erging ein Bewilligungsbescheid am 10.06.2021. Dieser Bescheid berücksichtigt die temporäre Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 4., sowie die Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts nicht. Da der Antragsteller zu 4. im Bescheid vom 10.6.2021 nicht in der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt wird, findet insoweit auch keine Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen der Antragstellerin zu 1. statt. Gegen diesen Bescheid legten die Antragsteller ebenfalls Widerspruch ein.

Die Antragsteller haben am 16.04.2021 ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Darmstadt gestellt.

Die Antragsteller sind der Ansicht, dass die Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts monatlich im Voraus zu bewilligen und auszuzahlen sind. Auch eine Berücksichtigung der temporären Bedarfsgemeinschaft habe im Voraus zu erfolgen. Eine Berücksichtigung des Kindergeldes des Antragstellers zu 4. als Einkommen der Antragstellerin zu 1. könne nicht erfolgen, da das Kindergeld nicht vereinnahmt werde.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, an die Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in gesetzlicher Höhe ab dem 16.04.2021 unter Berücksichtigung der temporären Bedarfsgemeinschaft und der Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4. sowie ohne Berücksichtigung des Kindergeldes für den Antragsteller zu 4., zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Eine Nichtberücksichtigung des Kindergeldes des Antragstellers zu 4. als Einkommen scheitere daran, dass der Betrag der Bedarfsgemeinschaft zufließe und erst dann an den Jugendhilfeträger weitergeleitet werde. Das Kindergeld stehe als bereites Mittel zur Verfügung und werde lediglich aufgrund des Heranziehungsbescheides weiter überwiesen. Eine Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 76 S. 2 Nr. 1 EStG liege nicht vor.

II.
Der gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und im Wesentlichen begründet. Streitgegenständlich ist vorliegend die Höhe der zu gewährenden Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum ab der Antragstellung auf einstweiligen Rechtsschutz am 16.04.2021 (dazu unter 1.) sowie der Zeitpunkt der Leistungsgewährung. Rechtsgrundlage für den glaubhaft gemachten Anordnungsanspruch sind § 19 SGB II i.V.m. §§ 7, 9, 11ff. 20, 21 Abs. 6, 22, 41a, 42 SGB II. Den Antragstellern stehen Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der temporären Bedarfsgemeinschaft und der Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4. sowie ohne Berücksichtigung des Kindergeldes für den Antragsteller zu 4. zu (dazu unter 2.). Die Fahrtkosten sind auch im Voraus zu erbringen (dazu unter 3.). Ein Anordnungsgrund wurde ebenfalls glaubhaft gemacht (dazu unter 4.). Allerdings ist die einstweilige Anordnung in zeitlicher Hinsicht bis zum 31. 08.2021 zu begrenzen (dazu unter 5.).

1.
Der Antrag der Antragsteller war dahingehend auszulegen, dass sie im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit ab Antragsstellung, dem 16.04.2021, in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der temporären Bedarfsgemeinschaft und der Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4., sowie ohne Berücksichtigung des Kindergeldes für den Antragsteller zu 4. begehren. Denn die Gewährung eines Mehrbedarfs kann nicht zulässigerweise zum isolierten Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden, da sich die Regelungen über die laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (mit Ausnahme der Kosten für Unterkunft und Heizung) in rechtlich zulässiger Weise nicht in weitere Streitgegenstände aufspalten lassen (vgl. BSG, Urteil vom 26.5.2011 – B 14 AS 146/10 R).

2.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit zur vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO).

Einen Anordnungsanspruch haben die Antragsteller hier glaubhaft gemacht. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in der begehrten Höhe. Bei der Berechnung der Höhe der Leistungen sind die Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts (dazu unter a), sowie die temporäre Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 4. (dazu unter b) zu berücksichtigen. Das für den Antragsteller zu 4. bezogene Kindergeld ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen (dazu unter c).

a)
Rechtsgrundlage für die Berücksichtigung der hier im Streit stehenden Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts mit dem Kind, dem Antragsteller zu 4., ist § 21 Abs. 6 SGB II (vgl. dazu im Allgemeinen Behrend in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 08.02.2021), Rn. 103 ff. m.w.N.). Gemäß § 21 Abs. 6 S. 1 1. HS. SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Gemäß S. 2 ist der Mehrbedarf unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Bei den Fahrtkosten handelt es sich um einen laufenden Bedarf, da der Antragsteller zu 4. von der Antragstellerin zu 1. regelmäßig mit dem PKW von der Jugendhilfeeinrichtung abgeholt und wieder dorthin zurückgebracht wird. Der Bedarf ist auch unabweisbar, da die Höhe der Fahrtkosten der wöchentlichen Fahrten von insgesamt 283,2 km unstreitig nicht im Mobilitätsanteil des Regelsatzes enthalten sind. Die Kosten können auch unstreitig nicht durch Dritte oder durch Einsparung der Antragsteller gedeckt werden. 

Die Kosten der Wahrnehmung des Umgangsrechts sind hier in der Höhe der Fahrtkosten zu gewähren, die mit einem PKW zurückgelegt werden. Vorliegend sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass ein Zurücklegen der Wegstrecke mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zumutbar ist. Der minderjährige Antragsteller zu 4. hat einen besonderen Förderungsbedarf, was sich schon aus der Spezialisierung der Jugendhilfeeinrichtung, dem Heilpädagogium F., auf förderungsbedürftige Kinder ergibt. Zudem wird für das Zurücklegen mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine Fahrtzeit von 2 bis 2,5 Stunden, bei mehrmaligem Umsteigen, benötigt. Außerdem wäre eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht (wesentlich) günstiger, da der Antragsteller zu 4. von der Antragstellerin zu 1. wegen seines Förderungsbedarfs begleitet werden müsste. 

Für die Festlegung der Höhe der Fahrtkosten ist die kürzeste Wegstrecke von 70,8 km, sowie der Umstand, dass diese Strecke monatlich 16 Mal zurückgelegt wird und eine Kilometerpauschale in Höhe von 0,20 € pro gefahrenem Kilometer in entsprechender Anwendung des § 5 Abs. 1 S. 2 BRKG zugrunde zu legen.

b)
Im vorliegenden Fall ist auch eine temporäre Bedarfsgemeinschaft der Antragsteller zu 1.-3. mit dem Antragsteller zu 4. gegeben.

Eine temporäre Bedarfsgemeinschaft besteht in der Regel für jeden Tag, an dem der Hilfebedürftige sich länger als 12 Stunden in dieser Bedarfsgemeinschaft aufhält (vgl. BSG, Urt. v. 02.07.2009 – B 14 AS 75/08 R). Der Antragsteller zu 4. ist somit an 2 Tagen die Woche, nämlich jeden Samstag und Sonntag, temporär Mitglied der Bedarfsgemeinschaft. Dies entspricht einer monatlichen temporären Bedarfsgemeinschaft von 8 Tagen. Für diese Tage ist der Antragsteller zu 4. als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen. Der Umgangshilfebedarf umfasst für die Tage des Aufenthalts den Regelbedarf nach der Formel: Regelbedarf des Kindes/30 x Zahl der Aufenthaltstage (Münder/Geiger, SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II § 7 Rn. 109).

c)
Das für den Antragsteller zu 4. bezogene Kindergeld ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen, da es schon kein bereites Mittel darstellt (dazu unter aa). Selbst, wenn das Kindergeld ein bereites Mittel darstellen würde, wäre es gemäß § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II vom Einkommen abzusetzen (dazu unter bb). Selbst, wenn eine direkte Anwendung des § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II nicht möglich wäre, wäre das Kindergeld in analoger Anwendung des § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II vom Einkommen abzusetzen (dazu unter cc).

aa)
Das für den Antragsteller zu 4 gezahlte Kindergeld ist der Antragstellerin zu 1 grundsätzlich als Einnahme zuzuordnen, da sie Bezugsberechtigte des Kindergeldes nach §§ 62, 32 Einkommenssteuergesetz (EStG) ist (vgl. zur Zuordnung des Kindergelds als Einkommen des Bezugsberechtigten BSG, Urteil vom 16. 4. 2013 - B 14 AS 81/12 R, NZS 2013, 713 Rn. 24; BSG, Urteil vom 19. März 2008 – B 11b AS 7/06 R –, SozR 4-4200 § 11 Nr 10, Rn. 15). Eine abweichende Zuordnung des Kindergeldes zum Antragsteller zu 4. gemäß § 11 Abs. 1 S. 5 SGB II erfolgt grundsätzlich nur teilweise, nämlich nur, insoweit der Antragsteller zu 4. temporäres Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist. 
Das für den Antragsteller zu 4. bezogene Kindergeld ist aber nicht als Einkommen der Antragsteller zu 1. und 4. zu berücksichtigen.
Das Kindergeld stellt kein bereites Mittel dar, da die Antragstellerin zu 1., als Bezugsberechtigte des Kindergeldes, durch Heranziehungsbescheid gemäß § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII dazu verpflichtet ist, einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes an den Jugendhilfeträger zu entrichten.
Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert als Einkommen zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind nur solche Einnahmen in Geld oder Geldeswert als Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 SGB II anzusehen, die einen Zuwachs von Mitteln bedeuten, der dem Hilfebedürftigen tatsächlich zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen und zur endgültigen Verwendung verbleibt (BSG Urteil vom 23.08.2011 - B 14 AS 165/10 R - SozR 4-4200 § 11 Nr. 43 m.w.N.). Bezüglich der Frage, ob Einnahmen als bereite Mittel zur Verfügung stehen, ist zwischen einer Einkommensverwendung (z.B. bei Tilgung eines Dispositionskredites – BSG, Urt. v. 29.04.2015 – B 14 AS 10/14 R, NZS 2015, 714 Rn. 32 oder Zahlung von Unterhaltsschulden) und einer Einkommensentziehung (z.B. bei der Aufrechnung eines Betriebskostenguthabens gegen Mietrückstände – BSG, Urt. v. 16.05.2012 - B 4 AS 132/11 R, NZM 2013, 390, Rn. 22 oder Aufrechnung eines Kindergeldanspruches durch die Familienkasse – SG Beriln, Urt.v. 11.10.2019 – S 37 AS 6694/19) zu differenzieren. Bei der Einkommensverwendung verliert der wertmäßige Zuwachs auch bei normativer Berücksichtigung nicht den Charakter als Einkommen (vgl. BSG, Urt. v. 29.04.2015 – B 14 AS 10/14 R, NZS 2015, 714 Rn. 33; BSG, Urt. v. 30.07.2008 – B 14 AS 26/07 R, NVwZ-RR 2009, 963 (964); BSG Urt. v. 30.7.2008 – B 14 AS 43/07 R, BeckRS 2008, 58398 Rn. 28). Eine Einkommensentziehung stellt zwar auch einen wertmäßigen Zuwachs dar, bei der Anrechnung als Einkommen kommt es aber darauf an, ob bzw. mit welchem Aufwand die Entziehung beseitigt werden kann. Entscheidend ist also, welche Realisierungsmöglichkeiten zur Auszahlung des entzogenen Einkommens bestehen (vgl. BSG, Urt. v. 16.05.2012 - B 4 AS 132/11 R, NZM 2013, 390, Rn. 23;. BSG, Urt. v. 10.05. 2011 − B 4 KG 1/10 R, NJOZ 2012, 554 Rn. 24).

Bei dem Kostenbetrag in Höhe des Kindergeldes handelt es sich um eine Einkommensentziehung, da Grundlage für die Verpflichtung ein bestandskräftiger Verwaltungsakt ist, der jederzeit vollstreckt werden kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urt. v. 07.09.2015 – L 19 AS 2096/13, Rn. 39; das LSG NRW sieht das Kindergeld wegen der bestehenden Rückzahlungsverpflichtung wohl als nicht bereites Mittel an). Zudem kann die Einordnung als Einkommensverwendung oder Einkommensentziehung nicht zufälligerweise von dem Umstand abhängen, ob der Kostenbeitrag von den Eltern des betroffenen Kindes an die Einrichtung überwiesen wird oder aufgrund von § 74 Abs. 1 S. 4 EStG direkt von der Familienkasse an den Jugendhilfeträger ausgezahlt wird oder von dem Jugendhilfeträger gegen die Familienkasse im Wege des Erstattungsanspruchs gemäß § 74 Abs. 2 EStG geltend gemacht wird. Da der Heranziehungsbescheid gemäß § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII bestandskräftig ist, besteht für die Antragstellerin zu 1. auch keine zumutbare Möglichkeit, den Betrag in Höhe des Kindergeldes zur Bedarfsdeckung zu verwenden. 

bb)
Selbst, wenn man aber davon ausgehen würde, dass es sich bei der Überweisung des Kostenbeitrags an den Jugendhilfeträger um eine Einkommensverwendung handelt, welche als bereites Mittel und somit als Einkommen zu berücksichtigen wäre, ist der Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes gemäß § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II vom Einkommen der Antragsteller zu 1. und zu 4. (soweit das Kindergeld dem Antragsteller zu 4. Nach § 11 Abs. 1 S. 5 SGB II zuzuordnen ist) abzusetzen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urt. v. 7.9.2015 – L 19 AS 2096/13, Rn. 40, zur entsprechenden Anwendung des § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II bei einer Rechtswahrungsanzeige des Jugendhilfeträgers).
Gemäß § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II sind vom Einkommen Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag abzusetzen.
Die Regelung des § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II trägt dem Umstand Rechnung, dass gesetzliche Unterhaltsansprüche, soweit sie pfändbar sind, dem Hilfebedürftigen nicht als bereites, d.h. einsatzfähiges Mittel zur Verfügung stehen (Bt.-Drucks. 16/1410, S. 20, Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, 08/17, § 11b SGB II, Rn. 258, Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 11b (Stand: 27.05.2021), Rn. 43). Die Regelung durchbricht ausnahmsweise den Grundsatz des Vorrangs der grundsicherungsrechtlichen Selbsthilfe- und Einstandsobliegenheit gegenüber der Tilgung von Schulden zu Gunsten des Vorrangs der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtung (vgl. Striebinger in Gagel, SGB II/SGB III, § 11b SGB II Rn. 35, Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, 08/17, § 11b SGB II, Rn. 259 m.w.N.).
Der Kostenbeitrag i. S. d. §§ 91 ff. SGB VIII stellt eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung dar. Denn der Kostenbeitrag ist gem. § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bei der Berechnung des Unterhalts zu berücksichtigen, soweit er die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen mindert; er tritt damit an die Stelle der Unterhaltsverpflichtung (Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, 08/17, § 11b SGB II, Rn. 272). Bei dem Kostenbeitrag handelt es sich auch um eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung, da er gemäß § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII gesetzlich festgesetzt wird. Es liegt ebenfalls ein Unterhaltstitel vor, da der Kostenbeitrag durch Heranziehungsbescheid vom 06.03.2020 mit bestandskräftigen Verwaltungsakt festgesetzt ist. Vorliegend handelt es sich auch um Aufwendungen, da ein Betrag in Höhe des festgesetzten Kostenbeitrags auch tatsächlich von den Antragstellern den Jugendhilfeträger gezahlt wird.

cc)
Und selbst, wenn man davon ausgehen wollte, dass § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB VIII keine direkte Anwendung fände, so wäre diese Vorschrift zumindest analog anzuwenden.
Wenn § 11 b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB VIII keine direkte Anwendung fände, lägen eine für eine analoge Anwendung notwendige planwidrige Regelungslücke, sowie eine vergleichbare Interessenlage vor. Eine Analogie, also die Übertragung einer gesetzlichen Regelung auf einen Sachverhalt, der vom Wortsinn der betreffenden Vorschrift nicht umfasst wird, ist nur geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist, nach dem Grundgedanken der Norm und dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert (BSG SozR 3-2500 § 38 Nr. 2 S. 10) und eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegt (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr. 1 S. 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr. 21 S. 95 f mwN).
Sollte § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB VIII nicht direkt anzuwenden sein, liegt eine Regelungslücke vor, da sich sonst keine Vorschriften finden, die berücksichtigen, dass der Betrag in Höhe des Kindergeldes den Betroffenen nicht als bereites Mittel zusteht, wenn ein Kostenbeitrag gemäß §§ 92 ff. SGB VIII durch Heranziehungsbescheid festgesetzt ist und der Betrag tatsächlich an den Jugendhilfeträger ausgezahlt wird.
Die Regelungslücke wäre auch planwidrig. Bei den Leistungen nach dem SGB II handelt es sich um existenzsichernde Leistungen. Eine Anrechnung des Kindergeldes, bei gleichzeitiger Verpflichtung einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes zu zahlen, würde dazu führen, dass die Antragstellerin zu 1. entweder in eine Bedarfsunterdeckung gerät oder dazu genötigt wird, die gesetzlich durch den Heranziehungsbescheid festgelegte Verpflichtung zur Zahlung des Kostenbeitrags nicht wahrzunehmen und somit ihre öffentlich-rechtlichen Pflichten zu verletzen. Im ersten Fall droht eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Es ist nicht zu unterstellen, dass der Gesetzgeber sehenden Auges einen verfassungswidrigen Zustand regeln wollte, da er gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht und somit an die Verfassung gebunden ist. Es ist auch nicht zu unterstellen, dass der Gesetzgeber den Betroffenen zu einer Verletzung seiner öffentlich-rechtlichen Pflichten aus dem Heranziehungsbescheid drängen möchte.

Eine vergleichbare Interessenlage liegt vor, da die Jugendhilfeeinrichtung mit der Unterbringung des Antragstellers zu 4. für dessen Unterhalt sorgt. Im Rahmen der Jugendhilfe wird auch der notwendige Unterhalt des jungen Menschen sichergestellt (Wiesner/Loos, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 94 Rn. 23). Der Kostenbeitrag gemäß §§ 90 ff. SGB VIII normiert eine gesetzliche Beteiligung an dem im Rahmen der Unterbringung gedeckten Lebensunterhalt des betroffenen Kindes (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urt. v. 7.9.2015 – L 19 AS 2096/13, BeckRS 2016, 72680 Rn. 40). Der Kostenbeitrag ist mithin vergleichbar mit einer gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung. Bezüglich der jederzeitigen Pfändbarkeit der Unterhaltsverpflichtung ist ebenfalls eine vergleichbare Interessenlage gegeben, da es sich beim Heranziehungsbescheid um einen bestandskräftigen Verwaltungsakt handelt, der einen Vollstreckungstitel darstellt. 

Der oben unter bb) genannte Grundgedanke des § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 7 SGB II, dass gesetzliche Unterhaltsansprüche, soweit sie pfändbar sind, nicht als bereites Mittel zur Verfügung stehen, ist auf den Fall, dass ein durch Heranziehungsbescheid festgesetzter Kostenbeitrag zur Jugendhilfeleistung bei einem Tag und Nacht in der Jugendhilfeeinrichtung untergebrachten Jugendlichen geleistet wird, zu übertragen.

3.
Der Antragsgegner hat darüber hinaus die Leistungen nach dem SGB II – auch im Hinblick auf die Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4. – gemäß § 42 Abs. 1 SGB II-monatlich im Voraus zu erbringen.

Für die Zeit ab dem 01.07.2021 hat der Antragsgegner dabei insbesondere zu beachten, dass er gemäß § 41 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II über die Erbringung der Leistungen vorläufig zu entscheiden hat, wenn – wie hier – ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Der Anspruch auf die Leistungen besteht dem Grunde nach (siehe oben). Die genaue Höhe des Anspruchs lässt sich abschließend aber nicht bemessen, da insbesondere die Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts, sowie die temporäre Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 4. davon abhängen, inwieweit der Antragsteller zu 4. tatsächlich von der Antragstellerin zu 1. in die elterliche Wohnung gebracht wird und dort Zeit verbringt. Diese Zeiten können sich auch in Anbetracht von Ferienzeiten, die der Antragsteller zu 4. grundsätzlich vollständig bei seinen Eltern verbringt, variieren. Eine endgültige Festsetzung ist mithin erst mit Nachreichen von Belegen möglich und erfordert mithin voraussichtlich längere Zeit. Der Bewilligungszeitraum beträgt gemäß § 67 Abs. 4 S. 1 SGB II 6 Monate.

4.
Ein Anordnungsgrund wurde glaubhaft gemacht, da ein Abbruch des Umgangsrechts mit dem Antragsteller zu 4. droht. Die Antragsteller sind nicht in der Lage die Kosten für die Ausübung des Umgangsrechts und der temporären Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 4. aus eigenen Mitteln vorzuschießen.

5.
Somit ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben.
Allerdings ist die einstweilige Anordnung zeitlich bis zum 31.8.2021 zu begrenzen, weil im einstweiligen Rechtsschutz nur eine gegenwärtige dringliche Notlage beseitigt werden soll. Daher ist es sachgerecht die einstweilige Anordnung für die Zukunft auf einen Zeitraum bis zum Ende des Folgemonats der Entscheidung zu begrenzen (Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, § 86b SGG, Rn. 35b m.w.N.). Nach Ablauf dieses Zeitraums bleibt es den Antragstellern unbenommen erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen, sofern auch ab 01.09.2021 die Höhe der Leistungen im Streit stehen sollte.

6.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. Dass die einstweilige Anordnung zeitlich zu befristen war, wirkt sich nach billigem Ermessen des Gerichts nicht auf die Kostenentscheidung aus.

Rechtskraft
Aus
Saved