Für die Kodierung einer Nebendiagnose genügt es, wenn die Nebendiagnose das Patientenmanagement in der Weise beeinflusst, dass einer der in DKR D003i genannten Faktoren erforderlich ist, also eine sonst vom Krankenhaus nicht gebotene Leistung auslöst (hier: Einholung eines ärztlichen Konsils). Dagegen findet die Auffassung, eine sich daraus ergebende therapeutische Maßnahme müsse zusätzlichen Aufwand verursachen, im Wortlaut der DKR D003i keine Stütze.
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. Februar 2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 4.531,37 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 15. August 2017 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 4.531,37 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Vergütung eines vollstationären Krankenhausaufenthaltes.
Die Klägerin ist Trägerin der A. Kliniken in A-Stadt. Die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte C. C. (Patientin) befand sich in der Zeit vom 20. April 2017 bis 27. April 2017 sowie - nach Wiederaufnahme - vom 11. Mai 2017 bis zum 19. Mai 2017 in der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der Klägerin zur vollstationären Behandlung. Die Aufnahme am 20. April 2017 erfolgte aufgrund einer gedeckt perforierten phlegmonösen Sigmadivertikulitis nach CDD Stadium Typ IIa, angrenzend mit einer mitreagierenden Ovarialzyste. Die Patientin wurde zunächst konservativ behandelt. Die Klinik forderte ein rheumatologisches Konsil der Klinik für Innere Medizin der Klägerin zu der Fragestellung an, ob die immunsuppressive Therapie mit Cortison und Azathioprin pausiert werden könne. Diese empfahl am 21. April 2017, Azathioprin abzusetzen und Prednisolon weiterzuführen. Nach Wiederaufnahme der Patientin erfolgte am 12. Mai 2017 eine anteriore Rektosigmoid-Resektion.
Die Klägerin führte beide Behandlungsfälle zusammen und rechnete diese gegenüber der Beklagten am 22. Mai 2017 in Höhe von 14.578,87 € ab. Die Abrechnung erfolgte unter Zugrundelegung der Diagnosis Related Group (DRG) G16B (Komplexe Rektumresektion...). Die Fallpauschale basiert u.a. auf der Kodierung der Nebendiagnose D90 (Immunkompromittierung nach Bestrahlung, Chemotherapie und sonstigen immunsuppressiven Maßnahmen).
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst in voller Höhe, beauftragte aber den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit der Überprüfung der Abrechnung. Mit Gutachten vom 9. August 2017 teilte der MDK der Beklagten mit, dass die Kodierung der Nebendiagnose D90 nicht sachgerecht sei; ein Aufwand durch Telefonate, Absetzen von Azathioprin sei nicht plausibel. Hierauf verrechnete die Beklagte am 15. August 2017 den streitgegenständlichen Differenzbetrag in Höhe von 4.531,37 € mit einer unstreitigen Forderung der Klägerin aus einem anderen Behandlungsfall; hierbei legte sie der Abrechnung die DRG G17B (andere Rektumresektion ohne bestimmten Eingriff oder Implantation eines künstlichen Analsphinkters, außer bei bösartiger Neubildung) zugrunde.
Die Klägerin hat am 27. März 2018 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden auf Zahlung von 4.531,37 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. August 2017 erhoben.
Mit Gerichtsbescheid vom 11. Februar 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klage sei als Leistungsklage im Gleichordnungsverhältnis zulässig, jedoch unbegründet, denn die Beklagte sei auf der Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch hinsichtlich des streitgegenständlichen Teilbetrages von 4.531,37 € zur Aufrechnung mit weiteren Forderungen der Klägerin berechtigt gewesen. Vorliegend stehe die Richtigkeit der Kodierung einer Nebendiagnose in Streit. Nach den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR D003i) in der Fassung 2017 sei die Nebendiagnose definiert als eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose bestehe oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickele. Für Kodierungszwecke müssten Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussten, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich sei: therapeutische Maßnahmen; diagnostische Maßnahmen; erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand. Hier sei die Patientin bei der vollstationären Aufnahme immunkomprimiert und fraglich gewesen, ob das Medikament Azathioprin wegen der bevorstehenden Operation habe abgesetzt werden können. Die Durchführung eines fachübergreifenden Konsils, hier die Befragung der Ärzte der Klinik für Innere Medizin IV für Rheumatologie, klinische Immunologie und Nephrologie, habe in dem streitgegenständlichen Fall das Patientenmanagement nicht im Sinne der obigen Definition beeinflusst. Der Konsiliararzt sei weder diagnostisch noch therapeutisch tätig geworden. Ausweislich des in der Patientenakte befindlichen Berichts der Inneren Klinik IV vom 25. Januar 2018 seien die Diagnose sowie die Medikation bekannt gewesen. Demzufolge habe die Therapieempfehlung zur Absetzung von Azathioprin ohne weiteren diagnostischen Aufwand gegeben werden können. Allein die Absetzung des Medikaments begründe keinen besonderen Aufwand.
Gegen den am 20. Februar 2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 12. März 2019 Berufung eingelegt.
Die Klägerin meint, das Sozialgericht verkenne die Definition der Nebendiagnose. Es erschließe sich nicht, weshalb die Entscheidung bzw. die Beratung über das Absetzen eines Medikaments im Rahmen von voroperativen Überlegungen keine „therapeutische Maßnahme“ sein solle. Die Hinzuziehung eines Konsils, die Beratung hinsichtlich der Medikation und die Absetzung des Medikaments Azathioprin als therapeutische Maßnahme bzw. therapeutische Konsequenz des Konsils stellten einen solchen Aufwand dar.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.531,37 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 15. August 2017 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des Sozialgerichts. Die Absetzung der Medikation Azathioprin nach Konsil sei als Standardmaßnahme der Vorbereitung einer durchzuführenden Rektumresektion zu sehen, da es unter Fortführung der Medikation zu möglichen Wundheilungsstörungen kommen könne. Ein therapeutischer Mehraufwand, welcher zu abrechenbaren Mehrleistungen führen könnte, sei hier nicht zu erkennen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Patientenakte der Klägerin und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung des Senats war. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und auch in der Sache begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts kann keinen Bestand haben. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von 4.531,37 € nebst den geltend gemachten Zinsen.
Wegen der Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage und der gesetzlichen und vertraglichen Grundlagen des Vergütungsanspruchs der Klägerin wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen, die von den Beteiligten auch nicht infrage gestellt worden sind.
Die Zahlungsklage der Klägerin ist begründet. Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch, mit dem die Beklagte die Aufrechnung mit einer Forderung der Klägerin aus einem anderen Behandlungsfall in Höhe von 4.531,37 € hätte vornehmen können, bestand nicht. Die Klägerin hat die Behandlung der Patientin C. zu Recht nach der DRG G16B abgerechnet.
Vorliegend ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin zur Abrechnung der DRG G16B berechtigt war, wenn sie bei der Rechnung korrekterweise die erlöswirksame Nebendiagnose D90 (Immunkompromittierung nach Bestrahlung, Chemotherapie und sonstigen immunsupp-ressiven Maßnahmen) verschlüsselt hat. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts war das der Fall.
Die DKR – hier anzuwenden in der Fassung 2017 – bestimmen, ob und welche Nebendiagnosen für die Abrechnung zusätzlich zur Hauptdiagnose zu kodieren sind. Die Entscheidungslogik der DRG-Groupierung - also das konkrete Ansteuern einer bestimmten DRG - differenziert zwischen gewichtigen und unbedeutenden bzw. einander ähnlichen Nebendiagnosen, weswegen bei identischer Basis-DRG den Nebendiagnosen bzw. ihrer Kombination entscheidender Einfluss auf die angesteuerte DRG und damit auf die Höhe des Vergütungsanspruchs zukommt. Erlöswirksam ist eine Nebendiagnose deshalb nur, soweit sich dies bei zutreffender Verschlüsselung nach dem ICD-10 aus der Entscheidungslogik des DRG-Fallpauschalenkatalogs so ergibt (BSG, Urteil vom 25. November 2010 – B 3 KR 4/10 R –, Rn. 22). Die Anwendung der DKR und der FPV-Abrechnungsbestimmungen einschließlich des ICD-10-GM und des OPS erfolgt dabei eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (stRsprg, vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 1 KR 40/15 R -, Rn. 14 mwN).
In dem hier maßgeblichen Abschnitt D003i der DKR wird der Begriff der Nebendiagnose als "eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt" definiert. Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich ist: - therapeutische Maßnahmen; - diagnostische Maßnahmen; - erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand. Zusätzlich zur Hauptdiagnose kodierfähig sind danach solche Nebendiagnosen, deren Versorgung weitere und in Bezug auf die Haupterkrankung nicht gebotene Leistungen des Krankenhauses ausgelöst haben. Hauptdiagnose in diesem Sinne ist nach den DKR 2017 "die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist" (vgl. Abschnitt D002c, S 4). Sind gemessen an dem hieraus sich ergebenden Versorgungsbedarf wegen einer Nebenerkrankung zusätzliche Leistungen zu erbringen, so rechtfertigt dies die Kodierung der entsprechenden Nebendiagnose. Maßstab hierfür ist jedenfalls bei Operationen die "Abweichung von dem Standardvorgehen für eine spezielle Prozedur" (vgl. Abschnitt D003b, S 11). Erfordert also eine Begleiterkrankung besondere Leistungen der Diagnostik, der Therapie oder der Betreuung/Pflege und wirkt sie sich somit im "Patientenmanagement" aus, so ist das für die Kodierung bei operativ zu versorgenden Haupterkrankungen beachtlich, wenn die Erbringung dieser Leistungen in der von der Fallpauschale für die Haupterkrankungen abgedeckten Standardversorgung nicht vorgesehen ist (BSG, Urteil vom 25. November 2010, B 3 KR 4/10 R, juris Rn. 16 ff; Urteil vom 23. Juli 2015, B 1 KR 13/14 R, juris Rn. 17).
Die Voraussetzungen für die Kodierung der Nebendiagnose D90 (Immunkompromittierung nach Bestrahlung, Chemotherapie und sonstigen Immunsuppressiven Maßnahmen) sind erfüllt.
Bei der Patientin lag bei Aufnahme eine Immunkompromittierung vor. Allerdings hat dies, wie das Sozialgericht – insoweit zutreffend – ausführt, keinen diagnostischen Aufwand im Sinne der DKR (2017) D003i verursacht. Die Einholung eines Konsils, also die fachliche Beratung durch einen anderen Arzt, stellt bei bekannter Diagnose und Medikation keine diagnostische Maßnahme dar.
Jedoch hat die Klägerin im vorliegenden Fall eine „therapeutische Maßnahme“ vorgenommen, welche als „weitere und in Bezug auf die Haupterkrankung nicht gebotene Leistung des Krankenhauses“ (BSG aaO Rn. 17) anzusehen ist. Die das Patientenmanagement beeinflussende „therapeutische Maßnahme“ war die Entscheidung der behandelnden Krankenhausärzte, das bei der Patientin zur Immunkompromittierung eingesetzte Medikament Azathioprin vor der Operation am 12. Mai 2017 abzusetzen. Diese Entscheidung war von einer hinsichtlich der Haupterkrankung der Versicherten (Sigmadivertikulitis mit der Notwendigkeit der Rektumresektion) nicht gebotenen Leistung des Krankenhauses abhängig, nämlich der sich aus der Nebendiagnose (Immunkompromittierung) der Patientin ergebenden Notwendigkeit der Einholung eines ärztlichen Konsils bei der Klinik für Innere Medizin.
Dagegen findet die Auffassung des Sozialgerichts, die therapeutische Maßnahme – hier also: das Absetzen des Medikaments Azathioprin - müsse selbst den zusätzlichen Aufwand verursachen, im Wortlaut der DKR (2017) D003i keine Stütze. Dort wird vielmehr darauf abgestellt, dass die Nebendiagnose „das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich“ ist. Hier war aufgrund der Nebenerkrankung eine zusätzliche Leistung in Form der Einholung eines ärztlichen Konsils erforderlich, die sodann eine therapeutische Maßnahme auslöste. Das ist nach dem Wortlaut der DKR (2017) D003i ausreichend.
Der Zinsanspruch der Klägerin folgt aus § 10 Abs. 4 und 5 des Landesvertrags über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung gem. § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V vom 31. Mai 2002 i.V.m. § 288 Abs. 1 BGB; nach den Verwaltungsakten der Beklagten erfolgte die Verrechnung am 11. August 2017.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 und 2 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert auf §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 3 GKG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG nicht vorliegen.