S 6 R 618/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 618/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 543/11
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

1.    Der Bescheid vom 17.12.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2008 wird abgeändert.

2.    Die Beklagte wird verurteilt, die Altersrente der Klägerin ab 01.01.2003 unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 06.10.1953 bis 23.06.1954 neu zu berechnen und auszuzahlen soweit sich hierdurch eine Rentenerhöhung ergibt.

3.    Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Berücksichtigung der Zeit vom 06.10.1953 bis zum 23.06.1954 als Ersatzzeit im Rahmen ihrer Altersrente.

Die Klägerin wurde 1937 im Gebiet von Donezk/Ukraine geboren. Ausweislich einer Bescheinigung der Verwaltung des Innenministeriums - Exekutivkomitee - des Sowjets der Volksdeputierten Gebiet Donezk vom 27.09.1993 sowie der Bescheinigung über Rehabilitation vom 12.01.1994 wurde die Familie der Klägerin im Jahr 1941 aus Stalinsk in das Gebiet Akmolinsk - die heutige Hauptstadt Kasachstans C-Stadt - ausgesiedelt. Nach diesen Bescheinigungen wurde die Klägerin in der Zeit vom 06.10.1953 bis 17.01.1956 in der Sondersiedlung ohne Recht auf Bewegungsfreiheit registriert. Bis zum 23.06.1954 besuchte die Klägerin in Kasachstan die siebenjährige Schule. Am 24.01.1954 wurde sie zunächst in einem Backwarenkombinat in D-Stadt/Kasachstan eingestellt und wechselte am 25.08.1954 als Telefonistin in das Kohlekombinat „DX.“, wo sie bis zu ihrer Ausreise in verschiedenen Kohlegruben und in verschiedenen Tätigkeiten beschäftigt war.

Am 07.09.1995 wurde der Klägerin, die zweimal verheiratet war, ein Pass ausgestellt. Mit Schreiben vom 04.10.1995 bat sie die Abteilung für Sozialfürsorge der Stadt E-Stadt ihr wegen der geplanten Ausreise nach Deutschland die dort seit 31.12.1992 bezogene Altersrente für sechs Monate im Voraus auszuzahlen. Eigenen Angaben zufolge reiste die Klägerin am 10.10.1995 aus E-Stadt im Gebiet D-Stadt kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein.

Die Klägerin ist Spätaussiedlerin im Sinne des § 4 BVFG und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit.

Unter dem 27.07.1997 füllte die Klägerin den „Fragebogen für Ersatzzeiten“ der Beklagten aus und bestätigte durch ihre Unterschrift, dass sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in den asiatischen Teil der ehemaligen UdSSR zwangsweise verbracht worden sei und in der Zeit von 1953 bis 1956 in D-Stadt aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit einer Kommandanturaufsicht unterstanden habe. Die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland habe sich nach dem Ende der Internierung wegen des Ausreiseverbotes verzögert. Am 13.03.1995 sei die Einreiseerlaubnis erteilt worden. Die endgültige Ausreise in die Bundesrepublik habe sich aufgrund von Formalitäten, Visaerteilung, Passausstellung, Einladungen, etc. verzögert. Erstmals 1976 habe sie den Willen gehabt, den ständigen Aufenthalt bzw. den Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen. Dieser Wille habe während der gesamten Zeit bestanden.

Die Klägerin bezieht von der Beklagten seit 01.10.1997 eine Altersrente für Frauen (Bescheid vom 08.09.1997). Dabei berücksichtigte die Beklagte auch die seit dem 26.08.1954 in der ehemaligen UdSSR zurückgelegten Beitragszeiten. Mit Bescheid vom 10.07.1998 erfolgte eine Neuberechnung.

Mit Schreiben vom 31.05.2007 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Überprüfung der Berechnung der Rente. U. a. bemängelte er, dass dem Rentenbescheid keine Anerkennung von Ersatzzeiten wegen Kommandantur zu entnehmen seien.

Mit Bescheid vom 17.12.2008 stellte die Beklagte die Regelaltersrente der Klägerin ab 01.01.2003 unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten neu fest. Gleichzeitig lehnte sie eine Anerkennung der Zeit vom 03.09.1951 bis 17.01.1956 als Ersatzzeit ab. Voraussetzung für die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen Internierung oder Verschleppung sei u. a., dass der Betroffene innerhalb von zwei Monaten - verlängert um die Zeit einer unverschuldeten Verzögerung - nach der Entlassung aus der Internierung/Verschleppung seinen ständigen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 03.10.1990 genommen habe. Die Klägerin habe angegeben, dass sie erstmals 1976 den Willen gehabt habe, den ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen. Hiergegen richtet sich der Widerspruch vom 13.01.2009.

Mit Schreiben vom 03.04.2009 wies die Beklagte den Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hin, dass nach den vorliegenden Unterlagen die Klägerin nicht aus einem deutschen Siedlungsgebiet stamme und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2009 zurück, da Grundvoraussetzung für die Berücksichtigung einer Ersatzzeit wegen Rückkehrverhinderung nach § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI sei, dass die Klägerin aus einem deutschen Siedlungsgebiet stamme und ein entsprechender Nachweis nicht erbracht worden sei.

Dagegen richtet sich die am 03.12.2009 erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 17.12.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2009 abzuändern und die Zeit vom 06.10.1953 bis 23.06.1954 als Ersatzzeit gemäß § 250 SGB VI anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.

Am 17.05.2010 hat das Gericht einen Erörterungstermin durchgeführt. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG).

Sie ist auch begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17.12.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2008 erweist sich als - teilweise - rechtswidrig und beschwert die Klägerin, soweit die Zeit vom 06.10.1953 bis 23.06.1954 nicht als Ersatzzeit bei der Berechnung der Rente berücksichtigt wird.

Der Anspruch der Klägerin auf Berücksichtigung dieser Zeit als Ersatzzeit ergibt sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten u. a. solche Zeiten vor dem 01.01.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und der Versicherte nach Vollendung des 14. Lebensjahres (hier dem 04.09.1951) nach dem Ende des Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen nach dem 30.06.1945 an der Rückkehr aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, soweit es sich nicht um das Beitrittsgebiet handelt, verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.

Bei der Zeit vom 06.10.1953 bis 23.06.1954 handelt es sich um eine Zeit vor dem 01.01.1992, aber nach dem 30.06.1945, zu welcher die Klägerin das 14. Lebensjahr vollendet hat und in der keine Beiträge gezahlt worden sind. Ebenso liegt eine Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor, zu der sich die Klägerin in Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, nämlich in Kasachstan auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Sowjetunion, aufgehalten hat.

Mit der Klägerin ist diese im fraglichen Zeitraum aufgrund der Kommandanturaufsicht, und damit aufgrund einer feindlichen Maßnahme im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII (BSG, Urteil vom 17.02.2005, B 13 RJ 25/04 R) festgehalten worden. Wie das BSG in seiner Entscheidung vom 17.02.2005 a. a. O. klargestellt hat, kommt es insoweit nicht darauf an, ob hauptsächliche Deutsche oder deutsche Volkszugehörige der Freiheitsbeschränkung unterworfen waren. Denn die dahingehende Rechtsprechung zum Tatbestandsmerkmal der „feindlichen Maßnahme“ in § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI bezieht sich nur auf Zeiten nach dem Ende der Kommandanturaufsicht. Diese selbst ist demgegenüber schon wegen des mit ihr verbundenen „doppelten Vertreibungsschicksals“ bei genereller Betrachtung als feindliche Maßnahme anzusehen. Das erkennende Gericht hat allerdings schon am 17.05.2010 darauf hingewiesen, dass es hierauf nicht ankommt. Entscheidend ist vielmehr im vorliegenden Fall der Wille der Eltern der Klägerin, nach Deutschland auszureisen. Dies allein spielt bei der Frage der Anerkennung der Ersatzzeiten die entscheidende Rolle.

Diesbezüglich steht für das Gericht fest, dass als subjektiver Aspekt des Tatbestandsmerkmals des „Festgehaltenwerdens“ der Rückkehrwille während der Kommandanturaufsicht vorgelegen hat. Da die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum minderjährig war, ist auf den Willen ihrer Eltern abzustellen (BSG, Urteil vom 17.02.2005, a. a. O.). Dass diese den Willen, nach Deutschland zurückzukehren, während des gesamten streitigen Zeitraums hatten, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts in erster Linie aus den in dem Verfahren vor dem Sozialgericht Marburg (S 4 R 38/10) vorgelegten Zeugenaussagen. Das Gericht stellt insoweit auf die Angaben der Zeugen F. A. sowie G. ab. Das Gericht ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass die Eltern der Klägerin angesichts der seinerzeitigen Zwangssituation aus Angst vor Sanktionen den Willen möglicherweise nicht laut geäußert haben. Dies bedarf jedoch keiner näheren Erläuterung und steht der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Enkel ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass die Klägerin erst aus der Sowjetunion ausgereist ist, als sich die tatsächliche Möglichkeit hierzu ergab. Insoweit zutreffend hat auch das SG Düsseldorf (S 40 R 251/07) in seiner Entscheidung vom 29.09.2011 ausgeführt, dass angesichts der schikanösen Behandlung von ehemaligen Spätaussiedlern in der Sowjetunion kaum vorstellbar sei, dass man keinen Willen zur Rückkehr nach Deutschland gehabt haben könnte.

Bei dieser Sachlage war der Klage mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.

Rechtskraft
Aus
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