S 3 U 23/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 23/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 157/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

1)    Der Bescheid der Beklagten vom 25.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2017 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 27.09.2016 als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger gesetzliche Entschädigungsleistungen zu gewähren.

2)    Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.

Tatbestand

Der 1966 geborene Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung des Ereignisses vom 27.09.2016 als Arbeitsunfall.

Der Kläger ist aufgrund seiner Tätigkeit als Clinical Trial Manager bei der C. GmbH, C-Stadt, bei der Beklagten gesetzlich unfallversichert. Am 27.09.2016 erlitt er u.a. eine Fraktur des linken Sprunggelenkes (Weber-C-Fraktur), als er während eines mehrtägigen betrieblich veranlassten Meetings sämtlicher Mitarbeiter der Klinischen Abteilung in den Niederlanden von einem Segway (Stehroller) stürzte. Die Erstbehandlung erfolgte im UK Aachen, Anfang Oktober wurde die Fraktur im UKGM Gießen operativ versorgt, die Nachbehandlung führte Dr. D. durch.

Die Beklagte zog eine Auskunft des Arbeitgebers zur Art der Veranstaltung bei, im Einzelnen den ausgefüllten „Betriebsveranstaltungs-Fragebogen“, das Veranstaltungsprogramm nebst den Einladungs-E-mails.
Mit Bescheid vom 25.11.2016 lehnte die Beklagte danach Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlass des Ereignisses vom 27.09.2016 ab, da sich der Sturz nicht im Rahmen der versicherten Tätigkeit ereignet habe, sondern bei einer eigenwirtschaftlichen Verrichtung (Freizeitaktivität).
Der Kläger legte hiergegen fristgerecht Widerspruch ein, durch Widerspruchsbescheid vom 18.01.2017 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Der Kläger hat hiergegen am 16.02.2017 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.

Er trägt u. a. vor, die Teilnahme an der Segway-Fahrt sei verpflichtender Teil der Veranstaltung gewesen und damit Teil der versicherten Tätigkeit.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 25.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Ereignis vom 27.09.2016 als versicherten Arbeitsunfall anzuerkennen und gesetzliche Entschädigungsleistungen zu erbringen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffenen Feststellungen für zutreffend.

Das Gericht hat neben einer erneuten ausführlichen Darstellung des Klägers zu den Umständen der Veranstaltung die weiteren Teilnehmer/Kollegen E., E-Stadt, F., E-Stadt, G., G-Stadt, H., H-Stadt, Dr. J., J-Stadt, K., J-Stadt, sowie L., USA, den Vice President Global Clinical Management und gleichzeitig Tagungsleiter der Veranstaltung, schriftlich als Zeugen vernommen. Der Kläger hat eine schriftliche Äußerung seines Arbeitgebers vom 16.03.2017 zur Akte gereicht.

Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Klägers bei der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid der Beklagten ist aufzuheben, denn der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 27.09.2016 als Versicherungsfall und Entschädigung seiner hierdurch erlittenen Verletzungen, weil der Sturz vom Segway während einer versicherten Tätigkeit erfolgt ist und es sich somit um einen Arbeitsunfall im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB VII gehandelt hat.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch, SGB VII). Nach § 45 SGB VII besteht Anspruch auf Verletztengeld, wenn Versicherte u. a. infolge eines Versicherungsfalles arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztätige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können.

Nach § 7 Abs. 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung begründenden Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen, nach Abs. 2 sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden, unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit als solche versicherte Tätigkeiten.
Die Definition des Unfalles als ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das einen Gesundheitsschaden verursacht, enthält daneben die Voraussetzung, dass die erlittene Verletzung durch das Ereignis rechtlich verursacht worden sein muss. 

Die Anerkennung eines Arbeitsunfalles setzt somit u. a. voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb Versicherter ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang). Ob die Verrichtung, bei der sich der Unfall ereignet hat, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, muss wertend entschieden werden, indem untersucht wird, ob sie innerhalb der Grenze liegt, bis zu der nach dem Gesetz der Unfallversicherungsschutz reicht. Maßgebend ist, ob die zum Unfall führende Handlung der versicherten Tätigkeit dienen sollte und ob diese Handlungstendenz des Versicherten durch die objektiven Umstände des Einzelfalles bestätigt wird (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 5 Rdnr. 5, 6 m. w. N.).

Diese Voraussetzungen liegen hier zur Überzeugung des Gerichts vor. Der Kläger übte zum Zeitpunkt des Sturzes vom Segway am 27.09.2016 eine von ihm arbeitsvertraglich geschuldete versicherte Tätigkeit als Beschäftigter im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII aus. Bei der in dem Veranstaltungsprogramm des Meetings unter „afternoon activity“ aufgeführten Segway-Fahrt hat es sich um einen für den Kläger verpflichtenden Programmpunkt und nicht um eine freiwillige, der Freizeitgestaltung dienende und damit unversicherte Tätigkeit gehandelt. 

Eine nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Tätigkeit wird verrichtet, wenn der Verletzte zur Erfüllung eines von ihm begründeten Rechtsverhältnisses als Beschäftigter, insbesondere eines Arbeitsverhältnisses, einer eigenen Tätigkeit in Eingliederung in das Unternehmen eines anderen zu dem Zweck nachgeht, dass die Ergebnisse ihrer Verrichtung diesem und nicht ihm selbst unmittelbar zum Vorteil gereichen. Dabei kommt es objektiv auf die Eingliederung des Handelns des Verletzten in das Unternehmen eines anderen und subjektiv auf die zumindest auch darauf gerichtete Willensausrichtung an, dass die eigene Tätigkeit unmittelbare Vorteile für das Unternehmen des anderen bringen soll. Eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII wird daher ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen, bzw. der Verletzte eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um einer vermeintlichen Pflicht aus dem Rechtsverhältnis nachzugehen, sofern er nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht, oder wenn er unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis ausübt (BSG vom 15.5.2012, Az. B 2 U 8/11 R ; BSG vom 13.11.2012, Az. B 2 U 27/11 R ; BSG vom 14.11.2013, Az. B 2 U 15/12 R ). 

Eine den Versicherungsschutz als Beschäftigter begründende Tätigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung sogar die Teilnahme an sog. betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen, z. B. einer betrieblichen Feier oder Freizeitaktivität, auch wenn hierfür eine spezielle normative Regelung zur Einbeziehung in den Unfallversicherungsschutz fehlt. Die in die Arbeitsorganisation des Unternehmens eingegliederten Beschäftigten unterstützen durch ihre von der Unternehmensleitung gewünschte und ggf. sogar geforderte Teilnahme das von ihr dadurch zum Ausdruck gebrachte Unternehmensinteresse, die betriebliche Verbundenheit zu fördern. Der Schutzzweck der Beschäftigtenversicherung rechtfertigt es, die Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung als Bestandteil der geschuldeten versicherten Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII zu betrachten (stRspr., vgl. z. B. BSG vom 26.10.2004,  B 2 U 16/04 R ; vom 7.12.2004, B 2 U 47/03 R ; vom 22.9.2009,  B 2 U 4/08 R  sowie  B 2 U 27/08 R  m. w. N.).
Eine Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung begründende betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung setzt insoweit für die Einbeziehung in den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung dann voraus, dass die Unternehmensleitung sie als eigene betriebliche gemeinschaftsfördernde Veranstaltung durchführt oder durchführen lässt, der jeweilige Veranstalter also nicht nur aus eigenem Antrieb und freier Entschließung handelt. Die Kenntnis, die bloße Hinnahme oder auch eine nur allgemeine Förderung durch die Unternehmensleitung genügt nicht (vgl. BSG vom 9.12.2003,  B 2 U 52/02 R; vom 26.10.2004, B 2 U 16/04 R ; vom 7.12.2004 - B 2 U 47/03 R).

Die Rechtsprechung hat bisher als weiteres Kriterium für eine unter dem Schutz des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII stehende betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung gefordert, dass sie geeignet sein muss, die betriebliche Verbundenheit zu fördern. Grundsätzlich muss die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung daher allen Beschäftigten des Betriebes offenstehen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn aus Gründen der notwendigen Aufrechterhaltung des Betriebes oder wegen der Größe des Unternehmens mit mehreren Filialen eine Teilnahme aller Beschäftigten nicht zu realisieren ist (st. Rspr., vgl. z. B. BSG vom 7.12.2004, B 2 U 47/03 R , sowie vom 22.9.2009, B 2 U 27/08 R).

Da die Veranstaltung geeignet sein muss, die betriebliche Verbundenheit nicht nur der Beschäftigten untereinander, sondern auch der Beschäftigten mit der Unternehmensleitung zu fördern, ist zudem grundsätzlich die Teilnahme der Unternehmensleitung oder einer von ihr beauftragten Person an der Veranstaltung erforderlich (st. Rspr., vgl. BSG vom 7.12.2004, B 2 U 47/03 R; vom 22.9.2009, B 2 U 4/08 R, sowie vom 22.9.2009, B 2 U 27/08 R). 

Der Kläger übte danach im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII aus, weil die Teilnahme an der Segway-Fahrt wie auch an den weiteren „afternoon activities“ wie Schafehüten bzw. Bogenschießen in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit seiner versicherten Beschäftigung innerhalb der Klinischen Abteilung der C. GmbH als Ingenieur für Biomedizintechnik stand.
Nach den übereinstimmenden Angaben sämtlicher Beteiligter einschließlich des Tagungsleiters Herrn L. war Sinn und Zweck der Tagungspunkte „afternoon activities“ nicht – wie von der Beklagten ohne weitere Anhaltspunkte unterstellt - die „Auflockerung“ der eigentlichen Veranstaltung im Sinne entspannender, freiwilliger Freizeitgestaltung, sondern diese Programmteile wie Segway-Ausfahrt, Bogenschießen und Schafehüten sollten ebenso wie die „theoretischen“ Teile des Meetings dazu dienen, dass sich die über 60 Mitarbeiter der Klinischen Abteilung des Unternehmens, welche ihre Tätigkeit üblicherweise von unterschiedlichen Standorten, verteilt auf ganz Europa ausüben, einander näher kennenlernen und dadurch als Team besser zusammenarbeiten können. 

Veränderungen in der betrieblichen Praxis mit der Errichtung dezentraler Abteilungen (Gedanke einer dezentralen Aufgabenerledigung in weitgehend selbstständigen Teams ohne Bezug zum Gesamtunternehmen) gehen mit dem Erfordernis einher, eine reibungslose Zusammenarbeit über große räumliche Distanzen hinweg und teilweise ohne intensivere Kenntnis der jeweiligen Kollegen sicherzustellen. 
Es ist für das Gericht daher nachvollziehbar, dass es neben der reinen Kontaktaufnahme im Meeting auch solcher Aktivitäten wie Segway-Ausfahrt, Schafehüten und Bogenschießen bedurft hat, um gegenseitiges Vertrauen und Verständnis für die Denk- und Handlungsweise der jeweiligen Kollegen innerhalb der Klinischen Abteilung der C. GmbH zu schaffen und so die betriebliche Kommunikation und Zusammenarbeit zu fördern (Teamentwicklung durch gemeinsame Erfahrungen).

Diese Nachmittagsveranstaltungen waren nach den Aussagen sämtlicher Teilnehmer/Zeugen sowie des Veranstaltungsverantwortlichen Herrn L. für alle Teilnehmer verpflichtend. Eine Nichtteilnahme wäre nur in begründeten Ausnahmen wie etwa Erkrankung oder dienstliche anderweitige Verpflichtungen (Zeuge Dr. J., der eine dienstliche Telefonkonferenz geleitet hat) in Betracht gekommen. Die Zeugin G. hat hierzu ergänzt, dass ein Mitarbeiter, der sich die Fahrt auf dem Segway nicht zugetraut hätte, die Veranstaltung keinesfalls hätte verlasse dürfen.
Es handelte sich somit um Arbeitszeit und geschuldete Arbeitsleistung, an der auch der Vorgesetzte L. teilgenommen hat.

Der Verletzte übte im Unfallzeitpunkt daher eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII aus, so dass der Klage stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.

Rechtskraft
Aus
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