1. Der Bescheid vom 10.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ in Höhe von 9.882,57 € zu versorgen.
2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Kostenübernahme eines Handbikes mit E-Motor Typ „dynagil AP“ nach den Vorschriften des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).
Der querschnittsgelähmte Kläger ist aktuell mit einem Faltrollstuhl und Rollstuhl mit Starrrahmen versorgt. Zusätzlich war er mit einem E-Fix-Antrieb versorgt, der jedoch mittlerweile defekt ist und entsorgt wurde. Beim Kläger liegt ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen aG, H, RF, B und G sowie Pflegegrad 5 vor.
Am 27.11.2015 beantragte der Kläger durch Vorlage einer ärztlichen Verordnung und eines Kostenvoranschlags der C. GmbH ein Handbike „dynagil AP“ mit Tetra-Sonderzubehör in Höhe von 9.882,57 Euro.
Der verordnende Arzt, Herr D., gab in dem von der Beklagten übermittelten Fragebogen am 09.12.2015 an, dass der Kläger das begehrte Hilfsmittel mindestens 3-4 mal pro Woche nutzen würde zur Besserung der Beweglichkeit und Teilnahme am dörflichen Leben. Der Kläger sei mit einem Elektrorollstuhl versorgt, mit diesem könne er aber keine Strecken bis zu 1000 m und mehr zurücklegen.
Mit Bescheid vom 10.12.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Radfahren bei Erwachsenen nicht zu den Grundbedürfnissen gehören würde.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Der Kläger beruft sich auf die Rechtsprechung des BSG vom 18.05.2011 (B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R), wonach die Kostenübernahme eines Handbikes bejaht worden sei, wenn sie Schmerzen verhindern oder eine therapeutische Behandlung unterstützen würden.
Daraufhin beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) mit der Begutachtung. Dieser führt in seinem Gutachten vom 02.02.2016 aus, dass bei der angegebenen Läsionshöhe von einer Gehunfähigkeit mit erheblicher Beeinträchtigung der oberen Gliedmaßen auszugehen sei. Wegen dieser Beeinträchtigung sei der Kläger nicht in der Lage, das begehrte Hilfsmittel über jene Wegstrecken anzutreiben, die ihm von der gesetzlichen Krankenversicherung zu ermöglichen seien. Es sei ein elektrisch angetriebenes Krankenfahrzeug erforderlich, welches scheinbar auch bereits vorhanden sei (E-Fix-Antrieb). Die zusätzliche Bereitstellung eines Hilfsmittels mit Elektroantrieb sei daher nicht erforderlich und übersteige das Maß des Notwendigen. Auch der Wunsch des Klägers, Wegstrecken von über 100 km zurückzulegen, liege nicht mehr im Leistungsbereich dessen, was die gesetzliche Krankenversicherung im Rahmen einer Hilfsmittelausstattung abzudecken habe. Es handele sich um Freizeitaktivitäten, die der Eigenverantwortung unterliegen würden. Die zusätzlich genannten therapeutischen Aspekte ließen sich zielgerichteter und wirtschaftlicher durch Maßnahmen einer vertraglichen Heilmittelbehandlung oder durch eigentätige Übungen erzielen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2016 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Hiergegen richtet sich die erhobene Klage. Der Kläger sei bisher mit einem Faltrollstuhl und einem Rollstuhl mit Starrrahmen versorgt. Der E-Fix-Antrieb sei defekt. Die beiden Rollstühle seien nicht zur Erschließung des Nahbereichs ausreichend. Er könne sich nicht alleine vom Rollstuhl in seinen Pkw umsetzen. Die Nutzung des Pkw sei nur mit Hilfe seiner Eltern möglich. Da seine Mutter verstorben sei und der Vater altersbedingt nicht mehr helfen könne, komme der Kläger mit dem vorhandenen Hilfsmittel nur bis zur Grundstückgrenze. Mit der bisherigen Versorgung könne der Kläger keine Bordsteinkanten überwinden und auch keine Gefällstrecken befahren, da die Bremsfunktion des E-Fix-Antriebs nicht mehr gegeben sei. Das beantragte Handbike würde den Kläger in die Lage versetzen, ohne fremde Hilfe sein Haus zu verlassen, um im Nahbereich seiner Wohnung seine benötigten Lebensmittel einzukaufen. Zudem habe er niemals den Wunsch geäußert, mit dem Handbike Wegstrecken von über 100 km zurückzulegen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 10.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ in Höhe von 9.882,57 € zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, dass bisher nicht ärztlich festgestellt worden sei, dass der Kläger den Nahbereich mit der vorhandenen Versorgung nicht erschließen könne. Die Beklagte könne sich eine vergleichbare Regulierung dahingehend vorstellen, dass sie den Kläger mit einem Elektrorollstuhl versorge oder alternativ die Anschaffung des streitigen Handbikes mit Elektroantrieb in Höhe der Wiedereinsatzpauschale für einen Elektrorollstuhl in Höhe von 350 Euro unterstütze und die dann nicht mehr benötigten Hilfsmittel abholen lasse. Die Beklagte reicht ein Pflegegutachten des MDK vom 10.02.2017 ein. Danach liege beim Kläger Pflegegrad 5 vor. Die Präsenz einer Pflegeperson tagsüber sei überwiegend erforderlich. Die Gebrauchsfähigkeit beider Hände sei vollständig aufgehoben. Das Verlassen der Wohnung sei nur mit Fremdhilfe möglich. Danach gehe die Beklagte davon aus, dass ein selbstständiges An- und Abkoppeln des Handbikes nicht möglich sei.
Der Kläger trägt ergänzend vor, dass die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl nicht weiterhelfen würde, da er nicht in der Lage sei, sich ohne fremde Hilfe von dem Faltrollstuhl, den er in seiner Wohnung nutze, in den Elektrorollstuhl umzusetzen. Morgens beim Aufstehen erhalte der Kläger Hilfe durch den Pflegedienst beim Umsetzen in den Faltrollstuhl. Das beantragte Hilfsmittel würde den Kläger in die Lage versetzen, mit dem vorhandenen Rollstuhl die Alltagsgeschäfte im Nahbereich zu erledigen, da er das Handbike ohne fremde Hilfe an den Rollstuhl an- und abkoppeln könne.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch Dr. E. Dieser führt in seinem physikalischen und rehabilitativen Gutachten vom 20.12.2018 aus, dass dem Kläger aufgrund der motorisch kompletten, sensibel inkompletten Querschnittslähmung nach HWS-Verletzung durch Unfall im August 1978 eine aktive Steuerung der Rumpf-, Becken- und Beinmuskulatur nicht mehr möglich sei. Eine aktive Bewegung der Muskulatur von Schultergürtel, Oberarmen und Unterarmen mit eingeschränkter Kraft der Handgelenke sei erhalten, eine aktive Bewegung der Finger jedoch sei allenfalls nur angedeutet möglich. Damit sei der Kläger bei den Transfers (Hinlegen, Aufrichten, Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl usw.) stets auf pflegerische Hilfe angewiesen. Mit einem handbetriebenen Aktivrollstuhl sei der Kläger in der Lage, mit dem Druck und der Schubkraft der Arme, eine Strecke von zumindest 200-400 m in einer Geschwindigkeit zurückzulegen, die einem langsamen Gehtempo entspreche. Dies setze allerdings voraus, dass die Strecke keine relevanten Steigungen oder Gefälle aufweise und der Untergrund eben sei. Für längere Wegstrecken sei eine Versorgung mit einem handkurbelbetriebenen Gerät unter medizinisch-therapeutischen Gesichtspunkten nicht nur sinnvoll und förderlich, sondern ideal und effektiv, um eine weiter fortschreitende Immobilisierung abzuwenden. Die Versorgung mit dem Handbike sei erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und einem drohenden Fortschreiten der Behinderung vorzubeugen sowie die Behinderung des Klägers auszugleichen. Das Ziel der Krankenbehandlung könne alternativ allenfalls durch eine signifikante dauerhafte Steigerung der Behandlungsfrequenz mit zusätzlicher Physiotherapie und ergotherapeutischen Behandlungseinheiten erreicht werden. Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl würde zwar eine selbstständige (passive) Fortbewegung außerhalb der Wohnung zur Erschließung des Nahbereichs ermöglichen, sie wäre jedoch keine adäquate Alternative, da bei jeder Nutzung des Elektrorollstuhls zum Umsetzen vom Aktivrollstuhl in den Elektrorollstuhl und umgekehrt stets jeweils eine entsprechend geschulte und qualifizierte Hilfskraft erforderlich wäre.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 18.01.2019 vorgetragen, dass aus ihrer Sicht eine ergänzende Stellungnahme zu den folgenden Punkten erforderlich sei: Welche Strecke könne der Kläger mit einem Aktivrollstuhl mit E-Fix-Elektroantrieb zurücklegen, ist der Kläger in der Lage, den vorhandenen E-Fix-Antrieb und das begehrte Handbike selbstständig anzubringen, ob und ggf. aus welchen medizinischen Gründen, das wesentliche Ziel der Krankenbehandlung, die Flexibilität, Kraft und Koordination im aktiven Einsatz von Schultergürtel und Armen möglichst dauerhaft zu erhalten/zu sichern nicht auch mit einem passiven Armtrainer und/oder einem fremdkraftbetriebenen Bewegungstrainer erreicht werden könne, aus welchen Gründen zum Behinderungsausgleich nur ein Handbike mit E-Motor „dynagilAP“ geeignet sein sollte und ob und aus welchen Gründen die aufgezeigten Produktbesonderheiten (10-fach Kettenschaltung, eine Aluminium-Leichtbauweise oder ein Neodrive Antrieb mit der Reichweite von 85 km), sowie die begehrte Sonderausstattung (Tetrakupplung, Kupplungsständer, Tetra Bedienelement, Tetrabremse usw.) im Einzelfall zwingend erforderlich seien.
Das Gericht hat den Schriftsatz der Beklagten Dr. E. zur ergänzenden Stellungnahme vorgelegt. Dieser führt am 27.11.2019 aus, dass die erreichbare Strecke, die mit einem E Fix-Antrieb zurückgelegt werden könne, von der Beschaffenheit des Untergrunds, den geographischen Verhältnissen der Strecke, der Temperatur, der Windverhältnisse, des Körpergewichts, des Reifenluftdrucks und der Akku-Ausstattung abhänge. Einen barrierefreien Streckenverlauf vorausgesetzt, seien dabei Strecken von zumindest 5-10 km erreichbar. Zur Montage des E-Fix-Antriebs müssten die Räder des Rollstuhls gewechselt werden, was dem Kläger nicht selbstständig möglich sei. Das Koppelungssystem „dynagil AP“ sei demgegenüber so konzipiert, dass eine Koppelung an den Aktiv-Rollstuhl auch bei nahezu aufgehobener Greifkraft erfolgen könne und dem Kläger ohne Fremdhilfe möglich sei. Die Möglichkeit, an einem Armbewegungstrainer regelmäßig entsprechende Übungseinheiten zu absolvieren, greife zu kurz. Wesentlich sinnvoller und effektiver sei es, die notwendigen aktiven Bewegungsübungen für Schultergürtel und obere Extremitäten mit dem übergeordneten Ziel der selbstständigen Mobilität zu kombinieren, das Training damit in die Alltagsaktivitäten zu integrieren und die dafür technisch möglichen Voraussetzungen in angemessener Weise zu schaffen. Die 10-Gang-Kettenschaltung sowie die Aluminium-Leichtbauweise seien Grundelemente des „dynagil AP“. Einfachere/günstigere Varianten würden vom Hersteller nicht angeboten werden. Hinsichtlich der möglichen Akku-Versionen wäre allerdings die Standardausstattung mit einem „Neodrives Akku L“ völlig ausreichend. Die aufgeführte Tetra-Sonderausstattung seien der nahezu aufgehobenen Greiffunktion des Klägers geschuldet. In der Zusammenschau sei somit grundsätzlich auch ein weniger hochwertig ausgestattetes und damit günstigeres Handbike ausreichend, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es ebenso wie das „dynagil AP“ dem Kläger ohne Fremdhilfe das selbstständige An- und Abkoppeln an den Aktivrollstuhl ermögliche.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ in Höhe von 9.882,57 Euro.
Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.
Im Ausgangspunkt bemisst sich die Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung im Bereich des Behinderungsausgleichs nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R – juris Rn. 14) danach, ob eine Leistung zum unmittelbaren oder mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht wird. Im Vordergrund steht zumeist der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktionen selbst, wie es z.B. bei Prothesen der Fall ist. Bei diesem sogenannten unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Daher kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist.
Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Fall hat die gesetzliche Krankenversicherung nur für den Basisausgleich einzustehen; es geht nicht um einen Ausgleich des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbstständigen Lebens führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können (vgl. BSG, Urteil vom 25.02.2015 – B 3 KR 13/13 R – juris Rn. 19ff.). Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (vgl. BSG, a.a.O. – juris Rn. 21).
Als solches allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens ist in Bezug auf die Mobilität nur die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung des Versicherten anerkannt. Maßgebend für den von der gesetzlichen Krankenversicherung insoweit zu gewährleistenden Basisausgleich ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dazu haben die Krankenkassen den Versicherten so auszustatten, dass sie sich nach Möglichkeit in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen können, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen“ oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. BSG, a.a.O. – juris Rn. 21). Dagegen können die Versicherten – von besonderen zusätzlichen qualitativen Momenten abgesehen – grundsätzlich nicht beanspruchen, den Radius der selbstständigen Fortbewegung in Kombination von Auto und Rollstuhl (erheblich) zu erweitern, auch wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich liegen, dafür also längere Strecken zurückzulegen sind, die die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R – juris Rn. 15).
Bei der Hilfsmittelversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung kommt es nicht auf die konkreten Wohnverhältnisse des einzelnen Versicherten an, sondern auf einen generellen, an durchschnittlichen Wohn- und Lebensverhältnissen orientierten Maßstab. Besonderheiten der Wohnung und des Umfeldes, die anderswo – etwa nach einem Umzug – regelmäßig so nicht vorhanden sind und einem allgemeinen Wohnstandard nicht entsprechen, sind bei der Hilfsmittelversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 13/09 R – juris Rn. 24).
Ein Rollstuhlzuggerät ist zwar im Allgemeinen als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Gewährleistung der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele erforderlich. Ausgehend von den erwähnten Grundsätzen eröffnet das Rollstuhlzuggerät den behinderten Menschen eine dem Radfahren vergleichbare und somit im Normalfall eine über den in der gesetzlichen Krankenversicherung abzudeckenden Nahbereich hinausgehende Mobilität. Mit Hilfe des Rollstuhlzuggerätes können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art in Angriff genommen werden (vgl. LSG Thüringen, Urteil vom 30.04.2013 – L 6 KR 568/08 – juris Rn. 25).
Es liegen aber im Fall des Klägers besondere qualitative Umstände vor, die dennoch eine Leistungspflicht der Beklagten für das Rollstuhlzuggerät begründen. Solche besonderen qualitativen Momente sind gegeben, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist (vgl. BSG, Urteile vom 18.05.2011 – B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar ist, weil Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können oder die vom Hilfebedürftigen benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Abzustellen ist dabei jeweils auf die Umstände des Einzelfalls; maßgeblich sind alleine medizinische Aspekte (vgl. BSG, a.a.O. – juris Rn. 22).
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger nach Überzeugung der Kammer einen Anspruch auf Versorgung mit dem Handbike Typ „dynagil AP“. Die Kammer folgt dem überzeugenden Gutachten des Dr. E. vom 20.12.2018 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2019. Dr. E. führt aus, dass sich beim Kläger bei der Fortbewegung mit dem Rollstuhl besondere individuelle Einschränkungen durch die nahezu aufgehobene Greifkraft der Hände ergeben würden, weshalb zum Antreiben der Greifreifen mit den Handballen ein wesentlicher Teil der Kraft eingesetzt werden müsse, um den notwendigen Druck auf die Greifreifen auszubauen, damit die Handballen nicht auf den Greifreifen rutschen würden. Daher könne zum Antrieb mit den Armen auch nur ein eingeschränkter Winkelbereich genutzt werden, weshalb der Kläger im Vergleich zu einem „greiffähigen Rollstuhlfahrer“ die eingesetzte Kraft nur zu einem deutlich geringeren Anteil in Vortrieb umsetzen könne. Da der Greifring der Räder nicht gegriffen, sondern jeweils nur mit den Handballen geschoben werden könne, sei nur ein einfaches stoßweises Vorantreiben des Rollstuhls möglich. Halten, Bremsen, Kippmanöver usw. seien dabei praktisch nicht durchführbar. Notwendige Voraussetzung für eine selbstständige Fortbewegung sei somit ein vollständig barrierefreier Untergrund. Bereits kleine Unebenheiten/Schwellen von nur 1-2 cm Höhe würden bedeutende Hindernisse darstellen, die – wie auch im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung getestet – nur mit besonderer Achtsamkeit und Mühe überwunden werden könnten. Für längere Wegstrecken (außerhalb des häuslichen Umfelds) sei die Versorgung mit einem handkurbelbetriebenen Geräts unter medizinisch-therapeutischen Gesichtspunkten nicht nur sinnvoll und förderlich, sondern ideal und effektiv, um eine weiterfortschreitende Immobilisierung abzuwenden. Die Versorgung mit einem Rollstuhl ermögliche die Erschließung des Nahbereichs nur mit Unterstützung einer Begleitperson. Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl würde zwar eine selbstständige (passive) Fortbewegung außerhalb der Wohnung zur Erschließung des Nahbereichs ermöglichen; sie wäre aber keine adäquate Alternative, da – abgesehen von dem ausbleibenden Trainingseffekt – bei jeder Nutzung des Elektrorollstuhls zum Umsetzen vom Aktivrollstuhl in den Elektrorollstuhl und anschließend wieder zurück in den Rollstuhl stets jeweils eine entsprechend geschulte und qualifizierte Hilfskraft erforderlich wäre. Die Versorgung des Klägers mit einem E-Fix-Antriebs sei nicht ausreichend, da zur Montage die Räder des Rollstuhls gewechselt werden müssten, was dem Kläger nicht selbstständig möglich sei. Das Koppelungssystem des „dynagil AP“ sei demgegenüber so konzipiert, dass eine Koppelung an den Aktiv-Rollstuhl auch bei nahezu aufgehobener Greifkraft erfolgen könne und somit dem Kläger selbstständig ohne Fremdhilfe möglich sei. Zudem sei bei der Nutzung des E-Fix-Antriebs ein barrierefreier Streckenverlauf notwendige Voraussetzung, da stärkere Unebenheiten des Untergrunds oder Hindernisse wie Schwellen/Stufen von mehr als 2-3 cm nicht selbstständig überwunden werden könnten, so dass im üblichen Einsatz außerhalb des Hauses, bei dem auch Straßen überquert und Bordsteinkanten zu überwinden seien, in der Regel die Unterstützung durch eine Begleitperson erforderlich sei. Die Versorgung des Klägers neben eines E-Fix-Antriebs oder Elektrorollstuhls mit einem Armbewegungstrainer greife zu kurz. Wesentlich sinnvoller und effektiver sei es, die notwendigen aktiven Bewegungsübungen für Schultergürtel und obere Extremitäten mit dem übergeordneten Ziel der selbstständigen Mobilität zu kombinieren, das Training damit in die Alltagsaktivitäten (insbesondere eigenständige Fortbewegung außerhalb des Hauses) zu integrieren und die dafür technisch möglichen Voraussetzungen in angemessener Weise zu schaffen. Damit ist das begehrte Handbike im Fall des Klägers notwendig, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und die Behinderung des Klägers auszugleichen.
Der Versorgung des Klägers mit dem Handbike „dynagil AP“ steht auch nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot entgegen. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Beklagte hat zwar vorliegend vorgetragen, dass die Versorgung des Klägers mit einem E-Fix-Antrieb und Armbewegungstrainers oder eines Elektrorollstuhls mit Armbewegungstrainers jeweils wirtschaftlicher wäre. Jedoch sind diese Versorgungssysteme nach dem Gutachten des Dr. E. für den Behinderungsausgleich des Klägers nicht ausreichend und gleichgeeignet wie das begehrte Handbike. Bezüglich der Ausstattung des begehrten Handbikes hat Dr. E. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2019 vorgetragen, dass einige Elemente über das Maß des Notwendigen hinausgehen. Die Beklagte hat jedoch keine wirtschaftlichere Alternative vorgeschlagen, die dem Kläger – wie das Handbike „dynagil AP“ – das selbstständige An- und Abkoppeln an den Aktivrollstuhl ermöglicht. Ob es tatsächlich ein wirtschaftlicheres Handbike gibt, das über diese für den Kläger elementare Funktion verfügt, wurde damit von der Beklagten nicht nachgewiesen.
Der Klage war nach alledem im vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und folgt dem Ausgang des Verfahrens.