S 12 KG 2/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 12 KG 2/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KG 4/21
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1) Die vom Land Hessen den Gerichten derzeit zur Verfügung gestellte Videokonferenztechnik genügt nicht den Anforderungen an eine (zumindest teilweise) online durchzuführende mündliche Verhandlung, da die in § 169 GVG enthaltene Anforderung des Aufzeichnungsverbotes in keinster Weise gewährleistet werden kann.

2) Auch im Kindergeldrecht gilt der Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 SGB X.

3) Im Rahmen der Kindergeldgewährung nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG reicht es zur Versagung nicht aus, wenn der Anspruchsteller den Staat oder auch nur den Kontinent kennt, in dem sich seine Eltern gewöhnlich aufhalten.

Unter Aufhebung des Bescheids vom 06.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2018 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum 01.10.2017 bis Ende Februar 2018 zu zahlen.

2)    Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung von Kindergeld in Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 zweite Alternative Bundeskindergeldgesetz (BKGG).

Der 1996 geborene Kläger stammt aus Mali und wohnt derzeit in der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. September 2017 meldete er sich bei der Agentur für Arbeit in Gießen, weil er beabsichtigte, am 1. Oktober 2017 eine Berufsausbildung aufzunehmen. Hiermit verbunden stellte er einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld an ihn selbst. In seinem Antrag führte er aus, seine Mutter sei gestorben, sein Vater lebe in Mali. Gleichzeitig reichte er Schulbesuchsbescheinigungen und eine Bescheinigung über seinen Realschulabschluss ein. Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte die dem Kläger gewährten Aufenthaltserlaubnisse bei und lehnte mit Bescheid vom 6. November 2017 den Antrag auf Gewährung von Kindergeld an den Kläger selbst mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG seien nicht erfüllt, da der Kläger den Aufenthalt der Eltern kenne. Hiergegen legte dieser am 19. November 2017 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, sein letzter Kontakt in den Heimatstaat Mali sei vor etwa vier Jahren gewesen. Ohne weitere Ermittlungen wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2018 zurück.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 20. Februar 2018 beim Sozialgericht Gießen durch Niederschrift in der Rechtsantragsstelle erhobenen Klage. Zur Begründung führte er aus, seine Mutter sei aktenmäßig 2006 in Mali gestorben. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt, er wisse nicht, wo er seinen Aufenthalt habe. Unterlagen über den Tod der Mutter könne er nicht vorweisen, auf der Flucht habe er keinerlei Papiere mit sich geführt.

In der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2021 hat der Kläger ergänzend vorgetragen, er habe schon nicht mehr bei seinem Vater gelebt, als er noch in Mali zu Hause gewesen sei. Er sei bei seiner Oma aufgewachsen. Seinen Vater habe er in seinem ganzen Leben nur zweimal gesehen, als er klein gewesen sei. Das eine Mal sei er mit seiner Oma zu ihm gegangen, das zweite Mal sei er noch alleine zu ihm gegangen. Sein Vater habe aber kein Interesse an ihm gehabt. Derzeit habe er in Mali nur noch Kontakt seiner Schwester und zum Vater seiner Schwester. Er habe seine Ausbildung zum Altenpfleger am 1. Oktober 2017 aufgenommen, zu dieser Zeit habe er schon eine Aufenthaltserlaubnis gehabt. Leider habe er wegen Rückenschmerzen die Ausbildung mit Ende des Monats Februar 2018 abbrechen müssen. Danach habe er für zwei Jahre bei C. gearbeitet und später noch einmal für die Firma D. Zur Zeit sei er in Rehabilitation und erhalte Leistungen vom Jobcenter Gießen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 06.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.02.2018 zu verurteilen, ihm Kindergeld im gesetzlichen Rahmen für den Zeitraum vom 01.10.2017 bis Ende Februar 2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Erstmals nach Erhalt der Ladung mit Schriftsatz vom 5. Mai 2021 hat die Beklagte vorgetragen, es seien noch erhebliche weitere Ermittlungen durchzuführen und diese im Einzelnen aufgezählt.

Nach Zustellung der Ladung hat die Beklagte mitgeteilt, dass bei ihr derzeit wegen der Pandemie ein behördliches Reiseverbot bestehe. Sie hat angeregt, eine Teilnahme per Videokonferenz ihrerseits zuzulassen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Klage- und Verwaltungsakte der Beklagten über den Kindergeldantrag des Klägers Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2021 gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte in dem Rechtsstreit trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2021 über den Rechtsstreit entscheiden, denn die Beklagte ist mit der Ladung auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden (vgl. § 126 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Dem Antrag der Beklagten auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz konnte nicht entsprochen werden, denn die Hessische Justiz verfügt zwar über Videokonferenztechnik, mit dieser ist es jedoch nicht möglich, die strengen Anforderungen des § 169 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) einzuhalten. Die Vorschrift verbietet jeglichen Mitschnitt der mündlichen Verhandlung in Form von Ton- oder Videoaufzeichnungen. Die Videokonferenztechnik der Hessischen Justiz ist jedoch darauf angewiesen, dass Beteilige mit ihrer eigenen Hard- und Software am Verfahren teilnehmen. Dies geht sogar so weit, dass mit einem Smartphone eine Teilnahme grundsätzlich möglich ist. Sofern hierbei auf fremde Hard- und Software zwingend abgestellt wird, ist für das erkennende Gericht die Überwachung der Einhaltung der Vorschrift des § 169 Abs. 1 Satz 2 GVG unmöglich. Deshalb kann dieses Verfahren gerichtlich nicht zugelassen werden. Erst wenn Anforderungen an bundesweit bestehende, unter Kontrolle zumindest der jeweiligen Landesjustizministerien befindliche, allgemeine Videokonferenzräume erfüllt werden, besteht überhaupt ein Ermessen zur Entscheidung über eine Teilnahme an mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz.

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Die Klage ist in der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten beschränkten Antragsform auch begründet. Es besteht für den Kläger ein Anspruch auf Kindergeld für den Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis 28. Februar 2018 (Abbruch der Berufsausbildung), weil der Kläger den Aufenthalt seines einzig noch lebenden Vaters nicht kennt.

Gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer
    1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
    2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
    3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Dabei besteht der Anspruch für einen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer wie den Kläger gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4, 3 lit. c. BKGG nur dann, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt im Bundesgebiet aufhält.

Grundsätzlich werden nach dem Kindergeldrecht Zahlungen nicht den Kindern selbst, sondern den Eltern und solchen Personen, die elternähnlich mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind, geleistet. Nachdem mehrere Fälle, in denen alleinstehenden Vollwaisen nach dem Tod der Eltern lediglich Kindergeld für ihre jüngeren Geschwister gewährt wurde, den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt hatten, räumte jedoch das 11. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I 1251) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 diesem Personenkreis eine Anspruchsberechtigung für die eigene Person ein (vgl. die Berichte des BT-Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vom 5. Dezember 1984 zum 10. Änderungsgesetz - BT-Drucks 10/2563 S 3 und vom 21. Mai 1985 zum 11. Änderungsgesetz - BT-Drucks 10/3369 S 11). Die neu eingefügten Vorschriften begünstigen jedoch nicht nur Kinder, die bei ihren Geschwistern quasi-elterliche Funktionen wahrnehmen, vielmehr allgemein "alleinstehende Kinder" (so die Bezeichnung des Kreises der Anspruchsberechtigten nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG in § 14 BKGG); die Gesetzgebungsmaterialien sprechen insoweit von Kindern, "bei denen nach dem Tode oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle i. S. des Kindergeldrechts eingenommen hat" (BT-Drucks 10/3369 S 11).

Zur Grundsatzfrage, wann dieser Ausnahmetatbestand erfüllt ist, hat das Bundessozialgericht (BSG), soweit ersichtlich, nur einmal entschieden. Mit Urteil vom 08. April 1992 (Az.: 10 RKg 12/91 –, SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 - FamRZ 1992, 1417- Breithaupt 1993, 317) hat das BSG im Leitsatz ausgeführt, die Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern - als Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld an das Kind selbst - sei nach subjektiven Maßstäben zu beurteilen. Das BSG hat dazu näher ausgeführt, aus der Vorschrift ergebe sich kein Maßstab für die Anforderungen, die an die Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern iS des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG zu stellen sind. Schon nach dem deutlich abweichenden Gesetzeswortlaut kann insoweit nicht der Verschollenheitsbegriff nach § 1 VerschG vom 15. Januar 1951 (BGBl I 63) maßgebend sein. Hiernach ist verschollen, "wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden". Auf diesen Verschollenheitsbegriff nehmen diejenigen Regelungen Bezug, nach denen ausnahmsweise Hinterbliebenenleistungen auch ohne Nachweis des Todes erbracht werden (so § 597, § 1271, § 1293 Reichsversicherungsordnung <RVO>, § 48, § 70 Angestelltenversicherungsgesetz <AVG>, § 52 Bundesversorgungsgesetz <BVG>). Für diese Fallkonstellationen eignet sich der strenge Maßstab nach § 1 VerschG, da hier der Nachweis des Todes durch eine naheliegende Vermutung seines Eintritts ("ernsthafte Zweifel an seinem Fortleben") ersetzt wird. Dementsprechend dient das Verfahren nach dem VerschG der Vorbereitung der Todeserklärung.

Mangels sonstiger näherer Anhaltspunkte bleibe für die Auslegung der Formulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt" in § 1 Abs. 1 Nr. 2 BKGG allein der Wortlaut maßgebend. Für sein Verständnis ist die hiervon abweichende Fassung der Vorschriften über die öffentliche Zustellung (vgl. u. a. § 33 SGG, § 203 ZPO>, § 15 VwZG) oder die Abwesenheitspflegschaft (vgl. u. a. § 15 SGB X, § 1911 BGB), bedeutsam. Dort ist jeweils Voraussetzung, dass "der Aufenthalt ... unbekannt ist", also von niemandem, weder dem Antragsteller noch der Behörde, zu ermitteln ist; in diesen Fällen ist also ein objektiver Maßstab anzulegen. Demgegenüber ist § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab. 

Diese subjektive Kenntnis festzustellen obliege in erster Linie der Verwaltung; im Streitfall ist es auch Sache der Tatsacheninstanzen. Hierbei könne offenbleiben, wie zu verfahren sei, wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht nachgeht. Aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG lasse sich jedenfalls in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte. Zu erwägen sei deshalb, ob nicht lediglich eine missbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis i. S. des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann (BSG, Urteil vom 08. April 1992 (Az.: 10 RKg 12/91 –, SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 - FamRZ 1992, 1417- Breithaupt 1993, 317). Leider hat das BSG zu der Rechtsfrage in neuerer Zeit und insbesondere zu den neueren, vermehrt vorkommenden Fallkonstellationen allein reisender Flüchtlingskinder noch nicht Stellung genommen. Insbesondere fehlt eine Aussage des BSG zu den Beweisanforderungen bezüglich der „subjektiven Nichtkenntnis“ des Anspruchsstellers vom Aufenthaltsort der Eltern.

Demgegenüber haben sich die Instanzgerichte zahlreich mit der Rechtsfrage auseinandergesetzt. Das LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 23. Juni 2016 -  L 5 KG 1/15) hat hierzu ausgeführt, Kindergeld für sich selbst erhalte nicht, wer den Aufenthalt seiner Eltern kennt. Dem stehe ein missbräuchliches "sich verschließen" vor der Kenntnis gleich. Maßgeblich zur Abgrenzung gegenüber grob fahrlässig verschuldeter Unkenntnis des Aufenthalts seien die vom BGH entwickelten Kriterien zu § 852 Abs. 1 BGB aF. Dabei sei auch auf Prozessbevollmächtigte als sog. Wissensvertreter abzustellen. Ein "sich verschließen" liege vor, wenn der Aufenthalt der Eltern durch eine einfache Nachfrage bei einer Behörde hätte ermittelt werden können. Dies sei etwa der Fall, wenn eine ältere Wohnanschrift bekannt sei und das Einwohnermeldeamt Auskunft erteilen könnte, oder wenn das BAföG-Amt Ermittlungen zum Elterneinkommen durchgeführt und dieses in die BAföG-Berechnung des Kindes eingestellt habe. Der bloße Wunsch, nicht mit den Eltern Kontakt aufnehmen zu müssen, rechtfertige für sich noch keine Ausnahme von einem "sich verschließen", wenn die Identität der Eltern bekannt sei. Das Gleiche gelte, wenn der Antrag auf Kindergeld an sich selbst gestellt werde, um die Mühen eines Antrags anstelle der Eltern bei gleichzeitigem Abzweigungsantrag zu umgehen (ebenso SG Landshut, Urteil vom 17. April 2012 – S 10 KG 1/12 ER). Weitergehend hat das SG Fulda (Urteil vom 27. Oktober 2020 – S 4 KG 1/20 ) ausgeführt, die Regelungen zum Anspruch auf Kindergeld für sich selbst seien nicht als Ausnahmeregelung einschränkend auszulegen. Insbesondere stehe auch eine etwaige fahrlässige Unkenntnis des Aufenthaltsortes der Eltern dem Anspruch nicht entgegen. Dem Anspruch auf Kindergeld für sich selbst könne daher nur die jedem Recht immanente Schranke des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten werden. Ein solcher ist bei unbegleitet geflüchteten Minderjährigen regelmäßig zu verneinen, wenn sie nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland zur Überzeugung des Gerichts keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern im Herkunftsstaat hatten; sie sind auch nicht verpflichtet, über internationale (nichtstaatliche) Suchdienste den Aufenthaltsort ihrer Eltern zu ermitteln, um damit ihren Kindergeldanspruch zu Fall zu bringen.

Die genannten Grundsätze kommen zur Überzeugung der erkennenden Kammer aber nur dann zur Anwendung, wenn zuvor positiv feststeht, dass eine „subjektive Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern“ tatsächlich beim Antragsteller/der Antragstellerin vorliegt. Wie oben schon dargestellt, ist aus der bisherigen Rechtsprechung nicht ersichtlich, welche Beweisanforderungen hier zugrunde zu legen sind. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um eine in § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG genannte Voraussetzung zur Erlangung des Kindergeldanspruchs, somit um eine anspruchsbegründende Tatsache. Anspruchsbegründende Tatsachen sind im Normalfall nach den allgemeinen Regeln des sozialgerichtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens im Vollbeweis zu sichern. Dies erscheint bei einer im Vollbeweis zu sichernden „subjektiven Kenntnis“ praktisch unmöglich, es findet deshalb der Beweismaßstab der Glaubhaftmachung Anwendung. Da § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG jedoch eine Ausnahmeregelung vom Grundsatz der Kindergeldgewährung an die Eltern darstellt (anderer Ansicht SG Fulda, Urteil vom 27. Oktober 2020 – S 4 KG 1/20) sind hier strengste Maßstäbe an die Glaubhaftmachung anzulegen. Dies bedeutet, dass praktisch keinerlei ernstzunehmende Zweifel an der Nichtkenntnis mehr bestehen dürfen. Zur Glaubhaftmachung genügt auch keinesfalls eine eidesstattliche Versicherung. Vielmehr muss aus dem Gesamtzusammenhang der vom Antragsteller im gesamten Verfahren getätigten und geprüften Aussagen die Überzeugung der Verwaltungen bzw. der entscheidenden Gerichte hergeleitet werden. Nur wenn hier, unter Anwendung der genannten Beweiskriterien, die Verwaltung bzw. das Gericht zur Erkenntnis gelangt, dass eine subjektive Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern besteht, ist anschließend zu prüfen, ob diese fahrlässig bzw. rechtsmissbräuchlich vom Antragsteller/der Antragstellerin nicht beseitigt worden ist. 

Aufgrund der Sachaufklärung der Kammer in der mündlichen Verhandlung liegen die Voraussetzungen beim Kläger vor. Leider konnten hier Ermittlungen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren nicht verwertet werden, denn diese sind von der Beklagten vollständig unterblieben. Die Beklagte hat es nicht einmal für notwendig erachtet, den sonst von ihr regelhaft verwandten Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern zu versenden. Eigene Ermittlungen hat sie nicht angestellt und dies erstmals mit Schriftsatz vom 5. Mai 2021   kurz vor der mündlichen Verhandlung - freimütig eingeräumt. Hier hat sie selbst dargestellt, welche Ermittlungen sie im Verwaltungsverfahren hätte vornehmen müssen. Es sei an dieser Stelle nur einmal, aber eindringlich, darauf verwiesen, dass auch im Verfahren zur Gewährung von Kindergeld der Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) uneingeschränkt Anwendung findet.

Diese, eigentlich notwendigen, Ermittlungen hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung durch persönliche Anhörung des Klägers nachgeholt. Danach liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG vor, denn der Kläger kennt den Aufenthaltsort seines einzig noch lebenden Vaters nicht. Er hat diesen nur zweimal in seiner frühesten Jugend gesehen, wie er der Kammer glaubhaft bekundet hat. Vater und Mutter des Klägers waren nicht verheiratet und haben getrennt gelebt. Auch über seine Schwester konnte er nichts über den Aufenthaltsort des Vaters erfahren, denn seine Schwester hatte einen anderen Vater, so dass sie hierzu nichts mitteilen konnte. Der Kläger hat ergänzend hierzu dargestellt, dass er praktisch keinen Kontakt mehr nach Mali habe. Weitere Ermittlungen sind nach Ansicht der Kammer dem Kläger hier nicht zumutbar.

Soweit die Beklagte dagegen eingewandt hat, der Kläger habe in seinem Antrag als gewöhnlichen Aufenthaltsort „Mali“ angegeben und dies belege eine Kenntnis vom Wohnort, befremdet diese Rechtsansicht die Kammer. Reicht es für die Beklagte in den von ihr durchgeführten Verwaltungsverfahren aus, als Aufenthaltsort einen Staat zu benennen? Könnte es dann ggf. auch ausreichen, als Aufenthaltsort der Eltern lediglich den betreffenden Kontinent anzugeben? Nach Ansicht der Kammer entspricht dies zwar den übrigen, nicht durchgeführten Ermittlungen der Beklagten, reicht aber keinesfalls aus. Aufenthaltsort muss hier gleichgestellt werden mit dem in Deutschland anwendbaren Begriff der „ladungsfähigen Anschrift“.

Da der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland zum Beginn der Ausbildung hatte und subjektiv den Aufenthaltsort der Eltern nicht kannte, war dem Antrag stattzugeben. Ab März 2018 hat er eine abhängige Beschäftigung aufgenommen, so dass ab diesem Zeitpunkt kein Anspruch auf Kindergeld mehr bestand.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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