S 6 R 108/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 108/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 206/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 30.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.3.2016. Die Beteiligten streiten um die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Der Antrag auf Erwerbsminderungsrente war bereits Gegenstand eines Verfahrens vor dem Sozialgericht Kassel S 7/8 RJ 332/01. Die 7. Kammer des Sozialgerichts hatte mit Urteil vom 28.2.2006 die Klage abgewiesen.

Am 18.11.2015 hat der Kläger erneut einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt.
Der 1957 geborene Kläger wurde in der Zeit von 1975-1979 zum Orthopädie-Schumacher ausgebildet. Bis zum Jahr 1979 übte er diesen Beruf aus und war sodann 1980-1982 mit Unterbrechungen für einen Schuh-und Schlüsseldienst tätig. Auf seinen Antrag vom 15.1.1984 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 29.9.1984 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit wegen depressiver Verstimmungszustände, einem episodischen Alkoholabusus und Zustand nach Kinderlähmung. Hierbei nahm die Beklagte einen Leistungsfall bei dem Kläger vom 15.1.1984 an und stützte sich auf ein Sachverständigen-Gutachten des Dr. D. vom 20.6.1984 und ein Sachverständigen-Gutachten des ärztlichen Dienstes der Beklagten durch Dr. E. vom 9.7.1984. Die im Jahr 1991 eingeholten Gutachten der Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. vom 20.6.1991 und für Orthopädie des D. G. vom 15.8.1991 bescheinigten dem Kläger wieder ein vollschichtiges Leistungsvermögen, auch als Orthopädie-Schumacher (wegen der weiteren Einzelheiten vergleiche Bl. 429 der beigezogenen Akte der 7. Kammer des SG Kassel).

Die Beklagte entzog dem Kläger mit Bescheid vom 13.12.1991 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem Januar 1992. Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass weiterhin ein Alkoholabusus vorliege und eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht eingetreten sei.

Einen erneuten Antrag auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente vom 4.11.1997 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.11.1997 ab, wobei sie die medizinischen Voraussetzungen nicht mehr prüfte, sondern lediglich feststellte, dass bei dem Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor Antragstellung nicht erfüllt seien.

Mit Bescheid vom 28. 4.2000 lehnte die Beklagte einen erneuten Antrag vom 20.9.1999 ab. Der Kläger gab an, dass er sich seit dem Jahre 1992 für erwerbsgemindert halte. Die Beklagte argumentierte, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorlägen, denn der Kläger weise in seinem Versicherungsverlauf im Zeitraum vom 20.9.1994 bis zum 19.9.1999 lediglich 10 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen auf. Die Beklagte ging bei dieser Sachverhaltsdarstellung von dem Eintritt eine Erwerbsunfähigkeit des Klägers am 20.9.1999 aus.

Den Widerspruch vom 23. 5.2000 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.1.2001 als unbegründet zurück. Hiergegen erhob der Kläger unter dem 28.2.2001 Klage zum Sozialgericht Kassel (dort unter dem Az. S 7/8 RJ 332/01). 
Das Gericht hat zunächst ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie, Professor Dr. H. eingeholt, der sein Gutachten am 12.2.2003 erstattet hat. Der Sachverständige diagnostizierte bei dem Kläger ein Post-Polio-Syndrom, ein depressives Syndrom mit Zustand nach mehrfachen Suizidversuchen, eine schwere Konversionsneurose, ein chronisches Schlaf-Apnoe-Syndrom und Adipositas. Das im rentenrechtlichen Sinne aufgehobene Leistungsvermögen bestünde seit September 1999. Es scheine zwar bereits Jahre zuvor eine Leistungsminderung vorgelegen zu haben, wobei der Kläger bis 1999 die Pflege der schwerkranken Ehefrau noch möglich gewesen sei (vergleiche Bl. 432 ff. der Akte der 7. Kammer des SG Kassel). Weil der Kläger Einwände gegen das Gutachten einbrachte, ersuchte das Gericht den Sachverständigen um eine ergänzende Stellungnahme. Unter Auswertung der vorhandenen medizinischen Sachverständigen-Gutachten und Arztbriefen (vergleiche Bl. 433 der Akte der 7. Kammer des SG Kassel) gelangte der Sachverständige am 9.7.2003 zu der Feststellung, dass sich aus den Unterlagen keine Hinweise dazu ergäben, dass bei den Begutachtungen der Jahre 1991 und 1992 die zur Rentenentziehung geführt hätten, von einer falschen medizinischen Sachlage ausgegangen worden sei. Neben der Pflege der Ehefrau würden auch keine Hinweise auf einen jahrelangen Alkoholabusus des Klägers bestehen.

Das Gericht holte ein weiteres Sachverständigengutachten, durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Professor Dr. J. ein, das der Sachverständige am 17.11.2004 erstattete.

Der Sachverständige gelangte zu der Auffassung, dass die seelische Erkrankung des Klägers im Jahre 1984 zur Bewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente geführt habe. Wegen einer psychischen Stabilisierung des Klägers im Jahre 1991 sei die Rente entzogen worden, da der Kläger Ende der Achtzigerjahre seinen Alkoholkonsum in den Griff bekommen habe. Erst im August 1999 habe sich der Kläger dann erstmalig in der Universitätsklinik Göttingen zur stationären Behandlung vorgestellt, danach sei es zu einer weiteren Verschlechterung wegen des aufgetretenen Post-Polio-Syndroms gekommen. Zwischen den Jahren 1991 und 1999 ließen die zugänglichen Unterlagen keinen sicheren Rückschluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Klägers zu. Es seien nur indirekte Zeichen auswertbar. Nach eigenen Angaben des Klägers habe dieser noch bis 1997 eine Tätigkeit ausüben können. Die starke Verschlechterung der allgemeinen Kraft habe bei dem Kläger insbesondere aufgrund seiner eigenen Angaben etwa ein halbes Jahr vor der ersten neurologischen stationären Untersuchung im Universität-Klinikum Göttingen im August 1999, somit rechnerisch im Januar 1989, vorgelegen. Zu dem gleichen Ergebnis kam der Sachverständige in einer ergänzenden Stellungnahme vom 4.11.2005 (vergleiche Bl. 434 ff. der Akte der 7. Kammer des SG Kassel).

In seinem Urteil hat die 7. Kammer des Sozialgerichts Kassel festgestellt, dass der Kläger weder einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zurücknahme des Bescheids vom 13.12.1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 1.7.1992 hat noch einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf seinen Antrag vom 20.9.1999 (Bl. 439): „Nach alledem steht nach Auswertung der vorhandenen Sachverständigengutachten und ergänzenden Stellungnahmen einerseits und andererseits unter Würdigung der vorhandenen Arztberichte seit dem Jahre 1988-1995 auch zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger nicht beweisen kann, dass ihm die im Jahre 1984 zuerkannte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit im Jahre 1991 durch den Bescheid der Beklagten vom 13.12.1991 zu Unrecht wieder entzogen worden ist.“ (Vergleiche Bl. 447 der Akte der 7. Kammer des SG Kassel). 

Nach ausführlicher Auseinandersetzung  mit den beiden Sachverständigengutachten sowie den vorliegenden Befunden lag die rentenmaßgebliche Erwerbsminderung zur Überzeugung der 7. Kammer des Sozialgerichts Kassel erst ab 1999 vor. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass das Gericht auch die Klage hinsichtlich des Hilfsantrags abgewiesen hat. Die 7. Kammer führte hierzu aus: „Demnach muss ein rentenrechtlich vermindertes Leistungsvermögen des Klägers bereits spätestens Anfang des Jahres 1994 vorgelegen haben, was zur Überzeugung der Kammer nicht der Fall ist. Denn es lässt sich aus den vorhandenen Arztberichten lediglich ableiten, dass der Kläger im Jahre 1999 gesichert an einem Post-Polio-Syndrom erheblichen Ausmaßes erkrankte“ (vergleiche Bl. 451 der Akte der 7. Kammer des SG Kassel).

Die Berufung gegen das Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 30.5.2006 zurückgenommen. 

Den erneuten Antrag des Klägers vom 18.11.2015 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30.11.2015 mit der Begründung ab, dass zwar eine Erwerbsunfähigkeit seit dem 20.9.1999 bestehen würde, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für diese Rente aber nicht erfüllt würden. Im Zeitraum vom 20.9.1994 bis zum 19.9.1999 weise das Versicherungskonto bei einer Mindestzahl von 36 Monaten Pflichtbeiträgen lediglich 10 Monate Pflichtbeiträge aus.

Hiergegen legte der Kläger einen Widerspruch ein unter dem 25.12.2015, den er nicht begründet hat.

In der Begründung der am 21. 4. 2016 beim Sozialgericht Kassel erhobenen Klage trägt der Kläger vor, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung vorliegen würden, da die Erwerbsminderung bereits vor dem 30.5.1994 eingetreten sei. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung lägen nicht erst seit dem 20.9.1999 vor, sondern bereits weit im Vorhinein. Es sei davon auszugehen, dass das Urteil des Sozialgerichts Kassel aus dem Jahr 2006 (S7/8RJ 332/01) auf unrichtigen Tatsachen beruhe, da seitens des Gerichts nur die Versicherungszeiten des Klägers unter dessen jetzigem Nachnamen „A.“ und nicht auch unter seinem damaligen Nachnamen „X.“ angefordert worden seien. Vom 1.2.1984 bis zum 31.1.1992 habe der Kläger unter seinem damaligen Nachnamen “ X. „ eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezogen. Mit Bescheid vom 29. 9. 1984 sei dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anerkannt wurden. Der zugrunde liegende Leistungsfall sei der 15.1.1984. Der Kläger verweist auf ein Gutachten durch Dr. K. vom 14.2.2009. Dieses führe aus, dass bei dem Kläger schwerste Erkrankungen bereits vor 1994 vorgelegen hätten. Entgegen des Widerspruchsbescheids aus dem Jahr 1992 sei bei dem Kläger keine wesentliche Änderung hinsichtlich des Leistungsvermögens eingetreten.

Die Beklagte hat hiergegen erwidert, dass das Post-Polio-Syndrom ausweislich des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 28. 2. 2006 erst im Jahr 1999 diagnostiziert worden sei. Die medizinischen Leiden, die im Jahr 1984 zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente geführt hätten, hätten auf psychiatrischem Fachgebiet bestanden. Der Nachweis, dass in der Zeit von 1992 bis 1999 eine rentengleiche Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgelegen habe, sei weiterhin nicht erbracht (vergleiche zum Vortrag im einzelnen Bl. 128 der Gerichtsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung wären letztmals bei einem Eintritt des Leistungsfalls am 31.5.1994 erfüllt gewesen. 

Der Kläger hat im Laufe des nunmehr anhängigen Verfahrens weitere Gutachten vorgelegt, die einen Rechtsstreit vor der 12. Kammer des Sozialgerichts Kassel zu der Frage des Anspruchs auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme betrafen (vergleiche Bl. 27 ff. sowie Bl. 330 ff. und 357 ff. der Gerichtsakte). 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung aktueller Befundberichte, die aber im Wesentlichen Zeiträume etwa ab dem Jahr 2012 betreffen und insoweit für die vorliegende Streitfrage weitgehend nicht verwertbar sind. 
 
In einem Arztbrief der Klinik Hoher Meißner vom 28.7.2016 (Bl. 97 Gerichtsakte) heißt es: „Die beste motorische Fähigkeit habe er (Anmerkung: der Kläger) im Alter von 18 24 Jahren gehabt. Seit dem Jahre 1992 habe er an Kraft an Armen und Beinen verloren, es sei eine rasche Ermüdbarkeit aufgetreten“.

Ein Arztbrief der Klinik Hoher Meißner vom 13.2.2014 (Bl. 113 Gerichtsakte) lautet auszugsweise wie folgt: „1992 kam es zu einer Zunahme der Muskelschwäche an den oberen und unteren Extremitäten, rasche Ermüdbarkeit, reduzierte Ausdauer und Belastbarkeit sowie zu einer Dyspnoe. 1999 war der Patient in der neurologischen Klinik des Uniklinikums Göttingen vorstellig geworden. Dabei wurde ein Post Poliosyndrom diagnostiziert. Seit 2000 ist der Patient auf den Rollstuhl angewiesen. Bei zunehmender respiratorischer Insuffizienz wurde 2001 eine nicht invasive Beatmung eingeleitet.“

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 13.1.2017 außerdem Befunde der Auguste-Victoria-Klinik in Bad Oeynhausen aus den Jahren 1964 und 1965 vorgelegt (Bl. 468 ff. Gerichtsakte sowie weitere Befundberichte aus den Jahren 1973 (Bl. 475 ff. der Gerichtsakte. 

In einem ärztlichen Entlassungsbericht  aus dem Jahr 1982 (Bl. 478 der Gerichtsakte) heißt es: „wir entließen Herrn X. am 2. 20.6.1982 zunächst als arbeitsunfähig. Wie er uns mitteilte, ist für ihn eine Beschäftigung als Orthopädie-Schumacher vorgesehen. Orthopädischerseits ist dem nicht entgegenzuhalten. Zur allgemeinen Stabilisierung und Intensivierung der Behandlungsergebnisse haben wir den Aufenthalt um 14 Tage verlängert“.

In einem orthopädischen Befundbericht vom 11.11.1986 wird die Vorstellung wegen seit Jahren bestehenden Wirbelsäulenbeschwerden beschrieben. Die Therapieempfehlungen lauteten: Chirotherapie, Infiltration, Heißluft und Lockerungsmassagen (Bl. 481 der Gerichtsakte).

Ausweislich eines Befundberichts des Klinikum Marburg erfolgte vom 6.4.1987 bis 11.4.1987 ein stationärer Aufenthalt wegen Nierensteinen (Bl. 481 Rückseite der Gerichtsakte).

Ausweislich eines Befundberichts des Klinikums Marburg vom 5.8.1987 erfolgte die Vorstellung wegen Schmerzen in beiden Hüften, ohne Ausstrahlung in die Beine. Die Beweglichkeit der linken Hüfte wurde als endgradig schmerzhaft beschrieben, die rechte Hüfte als frei beweglich (Bl. 482 der Gerichtsakte).

Des Weiteren findet sich das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. L. vom 15.8.1991, der dem Kläger vollschichtige Leistungsfähigkeit für zumindest körperlich leichte Tätigkeiten im ehemals erlernten Beruf aus orthopädischer Sicht attestierte (vergleiche Bl. 487 der Gerichtsakte). Zumindest bei der Untersuchung sei der Kläger neurologisch-psychiatrisch gegenüber früher unauffällig, nicht depressiv, innerlich gefestigt und nicht mehr Suizid gefährdet. Eine beträchtliche Gehbehinderung läge vor, längere Wegstrecken als 200-300 m sollten nicht zurückgelegt werden, da es dann zu muskulären Beschwerden komme. 

Dem Gericht liegt weiterhin ein Entlassungsbericht der Klinik Sonnenblick Marburg vom 2. 20.10.1992 (Bl. 489 ff. der Gerichtsakte) vor. Die Entlassung erfolgte als arbeitsfähig für vollschichtige leichte Arbeiten, überwiegend im Sitzen (Bl. 490 der Gerichtsakte).

Ausweislich des Entlassungsberichts des Kreiskrankenhaus Eschwege vom 1.6.1993 wurde bei dem Kläger Arthroskopie des linken Kniegelenks durchgeführt. Bei Entlassung am 23.4.1993 war der Patient praktisch beschwerdefrei, das Knie zeigte sich ohne Ergussbildung (vergleiche Bl. 491 der Gerichtsakte).

Schließlich liegen dem Gericht Befundberichte der neurologischen Klinik Göttingen aus dem Jahr 1999 vor. Ein Bericht datiert vom 2.8.1999 (bzw. 18.8.1999) und berichtet über einen stationären Aufenthalt von 3 Wochen: „Der Patient bemerkte seit einigen Jahren, dass seine Kräfte mehr und mehr nachlassen. Seit ca. einem halben Jahr sei sein Kräfteverfall rapide. Er sei nur noch zu einer geringen Gehstrecke („nach 300 m bin ich fertig“) fähig, teilweise sei er auch gestürzt, da ihm die Beine versagen. Eine deutliche Schwäche bemerkt er auch in den Händen, des Weiteren bemerkte er ein Zucken in den Oberschenkeln sowie im Schulterbereich. Schluckbeschwerden“. Als Diagnose wurde gestellt: Verdacht auf Post-Poliosyndrom (vergleiche Bl. 501 der Gerichtsakte).

1999, vor allem in der 2. Jahreshälfte, haben dann nachweislich mehrere Untersuchungen und stationäre Behandlungen stattgefunden (Bl. 503 ff. der Gerichtsakte).

Der Entlassungsbericht vom 16.12.1999 der Neurologie Göttingen betrifft einen stationären Aufenthalt vom 29.11. bis zum 15.12.1999 und stellt bei dem Kläger weitere Verschlechterungen der Extremitäten fest, so sei der linke Arm deutlich schwächer geworden und es bestünde zunehmend Luftnot sowie verstärkte Schluckbeschwerden. Wörtlich heißt es: „Im Vergleich zu den Voruntersuchungen, die im August diesen Jahres durchgeführt wurden, zeigt sich bei diesem Aufenthalt allenfalls nur eine langsame Verschlechterung.“ Allerdings sind auch Alterungsprozesse als Verschlechterungsursache mit zu erwarten und unübersehbar besteht eine Aggravationstendenz“ (vergleiche Bl. 508 f. der Gerichtsakte).  

Der Kläger bezieht sich zur Unterstützung seines Antrags auf eine ärztliche Stellungnahme des Dr. M. zur Evaluierung der Erkrankung Post-Polio-Syndrom (PPS) vom 27.4.2017 (vergleiche Bl. 512 ff. der Gerichtsakte). Die mit 1999 späte Stellung der Diagnose PPS dürfe dem Patienten nicht angelastet werden. Diese Tatsache habe ihre Ursache in den erst Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland auftauchenden und bis heute in der Medizin überwiegend kaum ernsthaft zur Kenntnis genommenen wissenschaftlichen Informationen zu dieser Polio-Spätfolge-Erkrankung. Nach dem vorliegenden Beschwerdebild und seiner Entwicklung sei bei Patienten der Beginn unter Einbeziehung der zu verzeichnenden Fehldiagnosen bereits früher als allgemein vermutet anzusetzen. 

Dr. M. setzt sich mit den Befunden der Jahre 1984-1999 auseinander (vergleiche Bl. 517 der Gerichtsakte). Die Aussagen der Gutachter seien gegeneinander widersprüchlich. Alle vorgenannten erweckten den Eindruck, über keine ausreichenden bzw. noch keine Kenntnisse über das Post-Polio-Syndrom zu verfügen. Das sei auch nicht erwartbar, mindere aber die Aussagefähigkeit der erstellten Gutachten erheblich. Für die Jahre bis 1991 und das schon in den achtziger Jahren, sei beim Patienten von dem Auftreten des Post-Polio-Syndroms auszugehen. Eine verminderte Belastbarkeit mit Neigung zu depressiven Verstimmungszuständen sei Symptom des Syndroms als somatische Erkrankung und keine Somatisierungstendenz. Bei üblicherweise überwiegend einschleichender Symptomatik erschienen in diesem Zusammenhang die achtziger Jahre für die Entwicklung des PPS am wahrscheinlichsten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 30.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.3.2016 aufzuheben und dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt.

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Akte der Beklagten sowie die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der 7. Kammer im Verfahren S 7/8 RJ 332/01 Bezug genommen. 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angegriffenen Überprüfungsbescheide der Beklagten erweisen sich als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen subjektiven Rechten.

Wie zuvor die 7. Kammer des Sozialgerichts Kassel in ihrem Urteil vom 28.2.2006 ist nunmehr die 6. Kammer des Sozialgerichts Kassel zu der Überzeugung gelangt, dass sich ein Leistungsfall vor dem 31.5.1994 nicht beweisen lässt.
Nur bis zu diesem Zeitpunkt hätten die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung vorgelegen.

Gemäß § 43 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der Fassung des 2. SGB VI-Änderungsgesetzes vom 2.5.1996 haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn sie berufsunfähig sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Berufsunfähigkeit 3 Jahre Pflichtbeitragszeiten aufweisen und vor Eintritt der Berufsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist (§ 43 Abs. 2 S. 1 SGB VI). Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat gemäß § § 44, 241 SGB VI in der Fassung des Gesetzes vom 2.5.1996 unter den gleichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, wer erwerbsunfähig ist. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder ein mehr als geringfügiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen (§ 44 Abs. 2 S. 1 SGB VI). 

Letztmals haben die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Mai 1994 bei dem Kläger vorgelegen. Denn der Kläger weist in der so genannten Vorversicherungszeit des § 43 Abs. 1 Nr. 2 SGB B VI maßgeblichen 5-Jahreszeitraum bis zur Rentenantragstellung im September 1999 lediglich 10 Monate anstatt der erforderlichen 36 Monate an Pflichtversicherungszeiten auf (vergleiche Bl. 450 ff. der Akte der 7. Kammer des Sozialgerichts Kassel). 

Eine Berufsunfähigkeit für den zuletzt ausgebübten Beruf als Orthopädie-Schuhmacher sowie eine Erwerbsunfähigkeit hat bei dem Kläger (spätestens) am 31.5.1994 zur Überzeugung der Kammer nicht vorgelegen. 

Das Gericht stützt sich hierbei auf die zahlreichen Befundberichte, Arztbriefe und Entlassungsberichte sowie insbesondere die Sachverständigen-Gutachten von Professor Dr. H. vom 12.2.2003 und die ergänzenden Stellungnahmen vom 6.11.2000 23.11.2003 sowie des Dr. J. vom 17.11.2004.

Professor Dr. H. hat für die Kammer nachvollziehbar nach Auswertung der umfangreichen ärztlichen Unterlagen und zuvor im Rahmen der Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten ein rentenrechtlich relevantes Unvermögen des Klägers seit September 1999 als dokumentiert angesehen. Zwar habe bereits Jahre zuvor eine Leistungsminderung vorgelegen, bis zum Jahr 1999 sei allerdings die Pflege der schwerkranken Frau noch möglich gewesen. 

Der Sachverständige hat sich mit den Gutachten von Dr. F. aus dem Jahr 1991, Dr. L. von 1991, Dr. N. von 1992 auseinandergesetzt und keine wesentlichen Unstimmigkeiten oder Fehler festgestellt, was für die Kammer überzeugend begründet wird. 

Die Feststellungen des Sachverständigen Professor Dr. H. basieren unter andem auch auf den eigenen Sachverhaltsangaben des Klägers gegenüber dem Sachverständigen. So hat der Kläger ausweislich des Gutachtens von Professor Dr. H. gegenüber dem Sachverständigen angegeben, dass er 1993 eine Praktikumsstelle als orthopädischer Schuhmacher gehabt habe, im Jahr 1994 wieder als orthopädischer Schuhmacher gearbeitet habe und von 1994-1997 sei er als Messer-und Scherenschleifer unterwegs gewesen sei. Diese Arbeit habe er aber wegen Schwäche der Hände nur mühsam verrichten können. Seit 1997 sei er arbeitslos (Bl. 140 ff. der Akte der 7. Kammer des Sozialgerichts Kassel).

Der Sachverständige Dr J. hat in seinem Gutachten für die Kammer nachvollziehbar vom 17.11.2004 differenziert zwischen dem Eintritt der Erwerbsminderung aufgrund seelischer Leiden und aufgrund des Post-Polio-Syndroms und darauf hingewiesen, dass die zugänglichen Unterlagen zwischen 1991 und 1999 keinen Rückschluss auf den körperlichen oder psychischen Zustand des Klägers zugelassen hätten. Auf Nachfragen am Untersuchungstermin habe auch der Kläger selbst angegeben, dass für diese 7 Jahre so gut wie keine medizinischen Berichte existieren würden, die hier helfen könnten (vergleiche Bl. 92). 

Der Sachverständige hat festgestellt, dass die starke Verschlechterung der allgemeinen Kraft nach den Befunden etwa ein halbes Jahr vor der ersten neurologischen stationären Untersuchung in Göttingen eingesetzt hätte, rechnerisch also im Januar 1999 (Bl. 294). Am 8.7.1999 habe bereits eine komplette Erwerbsunfähigkeit bestanden, belegt durch die Akte der neurologischen Klinik in Göttingen. Nach den damaligen Angaben des Patienten habe bereits 6 Monate zuvor eine erhebliche Verschlechterung des Zustandes eingesetzt, so dass eine Erwerbsunfähigkeit ab dem Januar 1999 plausibel erscheine (Bl. 295).
Diese durch die vorliegenden Befunde gestützte Feststellung des Sachverständigen des Dr. J. ist für die Kammer plausibel.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Darstellungen des Dr. M. in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 27.4.2017. Dr. M. hat den Kläger in dem für das Klageverfahren maßgeblichen Zeitraum Mitte der 1990er Jahre nicht persönlich untersucht bzw. betreut. Ihm sind daher lediglich Einschätzungen und Mutmaßungen anhand der Befunde und seiner ärztlichen Erfahrung möglich. So basiert die Aussage, dass sich die „ einschleichende Symptomatik“ wahrscheinlich seit den achtziger Jahren entwickelt habe, nur auf Vermutungen. Selbst wenn dies zuträfe, ergibt sich hieraus noch nicht die Einschränkung oder gar Aufhebung des rentenrechtlich relevanten Leistungsvermögens des Klägers. Es wird von der Kammer nicht in Abrede gestellt, dass sich die Post-Polio-Erkrankung progredient entwickelt und der Beginn sicherlich bereits in einen Zeitraum vor dem Ende der Neunzigerjahre und damit auch vor der eigentlichen Diagnosestellung 1999 fällt. Allerdings kommt es im Rahmen der Leistungsbeurteilung im Rentenverfahren nicht auf die Bezeichnung einer Erkrankung oder eine bestimmte Diagnose an, sondern auf das Ausmaß der Erwerbsminderung. Der – im Übrigen sehr vage gehaltenen Aussage des Dr. M. zum Beginn der Erkrankung - stehen vorliegend die Befunde der Jahre ab 1986 entgegen. Hier wurde dem Kläger überwiegend in den Jahren 1991 und 1992 ein vollschichtiges Leistungsvermögen mit Einschränkungen bescheinigt. Aus sämtlichen Befunden lässt sich wohl eine deutliche eher sprunghafte Verschlechterung auf das Jahr 1999 datieren. 1991 und 1992 und in der Zeit vor 1997-1999 sind den Befunden jedoch nur leichte Funktionsbeeinträchtigungen der Extremitäten zu entnehmen, nicht hingegen die ab Mitte/Ende 1999 diagnostizierte deutliche Muskelschwäche, Luftnot sowie Schluckbeschwerden.
Selbst wenn sich aus den Befunden bereits etwa ab 1997, dem Zeitraum, in dem der Kläger seine Tätigkeit als Messer- und Scherenschleifer nicht mehr ausüben konnte, als Beginn der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung ansetzen lassen würde, wären auch dann die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Der klägerische Vortrag, das Urteil des SG Kassel aus dem Jahr 2006 beruhe auf falschen Tatsachen, weil nur Befunde des Klägers mit dem Namen A. erhoben worden seien, ist unzutreffend. Die Befunde in den Jahren 1991 und 1992 (dort noch der Name X.) lagen dem Urteil des SG ausweislich der Darstellungen im Tatbestand und in der Entscheidungsbegründung zugrunde und lagen auch der erkennenden Kammer vor. 

Rechtskraft
Aus
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