- Der Bescheid der Beklagten vom 21.12.2017 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 18.4.2018 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine minimalinvasive adipositaschirurgische Maßnahme als Sachleistung zu gewähren.
2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin eine bariatrisch-chirurgische Therapie in Form einer laparoskopischen Schlauchmagenresektion als Sachleistung.
Die 1989 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert.
Am 28.11.2017 stellte die Klägerin über das Hospital zum Heiligen Geist in Fritzlar, hier Herr Doktor C., einen Antrag auf Übernahme der Kosten für eine bariatrisch-chirurgische Adipositas-Behandlung. Doktor C. führte aus, dass die Klägerin unter einer Adipositas permagna Grad III bei einem Körpergewicht von 120 Kilo bei einer Körpergröße von 165 cm leide, was einem BMI von 54 kg/m² entspreche (später korrigierte er diesen Wert auf 44 kg/m², vgl. Bl. 39 der VA). Doktor C. führte aus, dass die Klägerin ihn erstmals am 20.2.2015 und dann erneut am 22.4.2016 zur weiterführenden Diagnostik und Planung einer dauerhaften und effizienten Gewichtsreduktionstherapie aufgesucht habe. Vorausgegangen sei bei der Klägerin der primäre Antrag zur bariatrischen Chirurgie im Jahr 2013 im Marienkrankenhaus Kassel, der damals nach Absolvierung eines multimodalen Programmes aufgrund einer noch bestehenden Schilddrüsenunterfunktion, die allerdings mittlerweile medikamentös ausgeglichen wurde, abgelehnt worden sei. In der Folge habe die Klägerin auf konservativem Weg weiterversucht, das Gewicht zu reduzieren, dies habe jedoch nicht funktioniert. Mittlerweile wiege die junge Frau 120 kg bei einem ungebremsten tendenziellen Weg nach oben hin. Beigefügt waren dem Antrag ein Motivationsschreiben der Klägerin, eine laborchemische Analyse der Serumparameter, ein Ernährungstagebuch vom 2.10.2017 bis 15.10.2017, eine Übersicht über den Gewichtsverlauf von März 2015 bis August 2017 und ein durch den Hausarzt der Klägerin, Doktor D., ausgefüllter Gesundheitsfragebogen.
Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Hessen (MDK) vom 21.12.2017 durch Herrn E. ein und lehnte dann mit Bescheid vom gleichen Tag den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme einer bariatrischen Operation ab. Der Gutachter des MDK sei in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass ein multimodales Programm zur Gewichtsreduktion, wie es zur Erlangung der Operation zwingend gefordert würde, in den letzten fünf Jahren nicht stattgefunden habe. Die erfolgten Maßnahmen in Eigeninitiative entsprächen einem derartigen Programm nicht und seien damit auch nicht äquivalent zu sehen. Das beigefügte Ernährungsprotokoll zeige durchaus noch Verbesserungspotenzial. Zu empfehlen sei daher vorerst die Teilnahme an einem multimodalen Programm zur Gewichtsreduktion, bestehend aus ärztlich/fachlich begleiteter Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie über einen Zeitraum von 6-12 Monaten. Entsprechende Nachweise und Gewichtsverläufe seien während dieses Programmes vorzulegen.
Gegen den Bescheid vom 21.12.2017 erhob die Klägerin mit Schreiben vom 2.1.2018 Widerspruch und ließ diesen durch Herrn Doktor C. mit Schreiben vom 22.1.2018 begründen. Die Argumentation der Beklagten basierend auf einer MDK-Begutachtung sei in sich absolut unschlüssig, die Klägerin sei mit ihrem Körpergewicht nicht in der Lage, sportliche Aktivitäten auszuführen, zumal sie insbesondere im Bereich der Knie bei geringsten Bewegungen Schmerzen und Schwellungen aufweise. Die Beklagte holte ein zweites sozialmedizinisches Gutachten des MDK, diesmal durch Doktor D. vom 12.2.2018 ein, in dem dieser jedoch die bereits im MDK Gutachten vom 21.12.2017 vertretene Auffassung bestätigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.4.2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 21.12.2017 als unbegründet zurück. Da es sich bei bariatrischen Operationen um einen Eingriff in ein grundsätzlich gesundes Organ handele, seien vom Bundessozialgericht spezielle Anforderungen hierfür definiert worden. So könne eine Kostenübernahme nur dann erfolgen, wenn eine so genannte ultima ratio Situation vorliege. Es müsse sich demnach bei der Operation um die letzte Möglichkeit der Behandlung handeln und alle konservativen Wege erfolglos ausgeschöpft sein. Der MDK habe aber in seinen Gutachten vom 21.12.2017 und 12.2.2018 festgestellt, dass bei der Klägerin diese ultima ratio Situation nicht vorliege.
Hiergegen richtet sich die am 30.4.2018 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage, die unter dem Az. S 8 KR 180/18 angelegt wurde und mit der die Klägerin weiterhin eine bariatrische Operation begehrt.
Im Klageverfahren hat das Gericht nach Einholung von aktuellen Befundberichten bei den die Klägerin behandelnden Ärzten ein Gutachten bei dem Facharzt für Chirurgie und spezielle Viszeralchirurgie, Dr. F., vom 26.9.2020 eingeholt. In diesem hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund langjähriger erfolgloser Therapieversuche, trotz formal zeitlich nicht vollständig leitlinienkonformer konservativer multimodaler Therapie die Kriterien für die Indikation zu einem bariatrischen Eingriff in vollem Umfang erfülle. Die Möglichkeiten der allein konservativen Therapie seien ausgeschöpft. Die ultima ratio liege vor. Die erfolgte Abklärung mit Ausschluss sekundärer Ursachen der Adipositas und Ausschluss von Kontraindikationen, insbesondere von psychiatrischer Seite sei ausreichend. Die Prognose für den langfristigen Verlauf der Krankheit bei der Klägerin durch eine operative Behandlung sei aus aktueller Sicht als sehr gut zu bezeichnen. Auf dem Schriftsatz der Beklagten vom 9.11.2020 hin hat das Gericht nochmals eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Doktor F. vom 23.11.2020 eingeholt, in welcher dieser bei seiner zuvor vertretenen Auffassung verblieben ist.
Die Klägerin sieht sich im Ergebnis durch das Sachverständigengutachten und die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Doktor F. in ihrer Auffassung bestätigt, dass bei ihr eine ultima-ratio-Situation vorliege. Sie erfülle in geradezu prototypischerweise die Voraussetzungen für einen adipositas-chirurgischen Eingriff.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 21.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.4.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine minimalinvasive adipositas-chirurgische Maßnahme als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist auch in Kenntnis des gerichtlichen Sachverständigengutachtens der Auffassung, dass eine ultima-ratio Situation nicht vorliege. So habe der BMI ursprünglich bei 44 kg/m³ gelegen, während dieser Wert im Begutachtungszeitpunkt bei 37 kg/m³ gelegen habe, was zeige, dass eine Gewichtsreduktion mittels konservativer Therapie möglich sei, die Maßnahmen jedoch nicht dauerhaft umgesetzt würden. Ausgehend von den einschlägigen Leitlinien der Fachgesellschaften spreche zum einen der Umstand, dass eine multimodale konservative Therapie im erforderlichen Maße nicht in Angriff genommen worden sei, gegen das Vorliegen einer ausreichenden Motivation zur Gewichtsreduktion. Zum anderen habe der Sachverständige auch keine Erkrankungen genannt, deren Art und Schwere eine chirurgische Therapie nicht aufschiebbar machen würden. Seine Behauptung, dass die multimodale Therapie auch mit einer Dauer von sechs Monaten zeitlich begrenzt gewesen wäre und heute kein anderes Ergebnis zeigen wurde, stelle eine reine Mutmaßung dar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes, insbesondere wegen des genauen Inhalts der beiden MDK-Gutachten sowie des genauen Inhalts des Sachverständigengutachtens von Dr. F. vom 26.9.2020 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23.11.2020 wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die das Gericht beigezogen und zur Grundlage seiner Entscheidungsfindung gemacht hat.
Entscheidungsgründe
Die form-und fristgerecht (§§ 90, 92, 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Kassel (§§ 51, 57 Abs. 1 Satz 1 SGG) erhobene Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. I und IV SGG zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 21.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.4.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die begehrte adipositas-chirurgische Operation.
Zur Überzeugung der Kammer ist die beantragte bariatrische Operation medizinisch notwendig und daher von der Beklagten gemäß § 12 Absatz 1 S. 1 SGB V zu übernehmen. Nach § 11 Abs. 1 und 27 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, wobei diese auch die Krankenhausbehandlung umfasst (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 5 SGB V). Krankenhausbehandlung selbst wird dabei vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant in einem zugelassenen Krankenhaus gewährt, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- oder nachstationäre oder durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege zu erreichen ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Sie umfasst im Rahmen des Versorgungsauftrages alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung des Versicherten im Krankenhaus notwendig ist, insbesondere die ärztliche Behandlung (§ 29 Abs. 1 Satz 3 SGB V).
Damit setzt die Krankenbehandlung zunächst das Vorliegen einer Krankheit voraus. Auch wenn nicht unstrittig ist, ob ein Übergewicht allein eine Krankheit in diesem Sinne darstellt (vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.02.2007 - L 24 KR 247/06; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.06.2006 - L 5 KR 53/06; Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 3.11.2005 - L 5 KR 173/04; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.11.2009 - L 9 KR 11/08 und vom 22.02.2007 - L 24 KR 247/06; SG Dortmund, Urteile vom 22.07.2008 - S 44 KR 92/07 und vom 31.08.2010 - S 40 KR 313/07), besteht in der medizinischen Wissenschaft Einigkeit darüber, dass jedenfalls eine massive Adipositas (Übergewicht) mit einem Body-Maß-Index (BMI) von wenigstens 30 eine behandlungsbedürftige Krankheit darstellt (vgl. SG Darmstadt, Urteile vom 14.11.2021 S 10 KR 309/10 und vom 11.02.2015 - S 10 KR 91/14; SG Kassel, Urteil vom 30.10.2013 - S 12 KR 198/12 mit weiteren Nachweisen). Deshalb ist in diesen Fällen eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich, da andernfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerscheinungen wie Stoffwechselkrankheiten, Herz- und Kreislaufkrankheiten, Atemwegerkrankungen, gastrointestinale Erkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates oder gar die Gefahr der Entwicklung bösartiger Neubildungen besteht (vgl. etwa: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7.12.2004 - L 11 KR 1627/04 mit weiteren Nachweisen). Erfordert die Adipositas mithin eine ärztliche Behandlung, so belegt dies zugleich die Regelwidrigkeit des bestehenden Zustandes und damit das Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.7.2006 - L 5 KR 5779/0 - zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 mit Verweis auf BSGE 90,289 ff.) kann die Leistungspflicht für eine chirurgische Therapie dieser Krankheit nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten des Patienten und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Zwar stellt die operative Verkleinerung bzw. Veränderung des Magens keine kausale Behandlung dar, vielmehr soll damit eine Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflusst werden. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich miterfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs. 1 S. 3 und § 12 Abs. 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht
Denn nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen - gerade auch solche der Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 SGV V - ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können daher einerseits Versicherte nicht beanspruchen und andererseits dürfen die Leistungserbringer solche nicht bewirken und schließlich dürfen die Krankenkassen auch solche nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Angesichts dieser zwingenden Vorgaben geht die Rechtsprechung im Allgemeinen davon aus, dass auch deshalb Behandlungsmaßnahmen, die in ein an sich gesundes Organ eingreifen, in der Regel von der Krankenbehandlung ausgeschlossen sind. Daher kommen Maßnahmen im Bereich des (gesunden) Magens, die mittelbar auf die Reduzierung der Adipositas abzielen (Verfahren der bariatrischen Chirurgie, wie vorliegend die Methode der Schlauchmagenresektion) nur als "ultima ratio" in Betracht und bedürfen zu ihrer Durchführung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind (vgl. BSG, Urteil vom 19.02.2013 - B 1 KR 1/02 R) . Deshalb sind sie nur bei Patienten angesagt, die eine Reihe weiterer Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen, nachdem ein operativer Eingriff stets mit einem erheblichen Risiko (Narkose, Operationsfolgen z.B. Entzündung, Thrombose bzw. Lungenembolie, operationsspezifische Komplikationen wie Pouchdilatation, Portinfektionen und Stomastenose) verbunden ist.
- Die - inzwischen gefestigte - Rechtsprechung, insbesondere des Bundessozialgerichts (vgl. etwa BSG, Urteile vom 19.02.2003 - B 1 KR 2/02 R und vom 06.10.1999 - B 1 KR 13/97) hat hierzu folgende Grundsätze entwickelt:
- Die Adipositas muss so gravierend sein, dass ihr Krankheitswerte zukommen, wovon bei einem BMI von mindestens 40 stets auszugehen ist. Dagegen kann dies bei einem BMI von 35 bis unter 40 nur dann angenommen werden, wenn bereits erhebliche Begleiterscheinungen vorliegen.
- Die konservativen Behandlungsmaßnahmen müssen erschöpft sein. Davon kann ausgegangen werden, wenn der Versicherte über einen längeren Zeitraum (sechs bis zwölf Monate) an einem ärztlich überwachten bzw. koordinierten multimodularen Therapiekonzept, welches unter anderem Diätmaßnahmen, Ernährungsschulungen, Bewegungs- und Psychotherapie umfasst, erfolglos teilgenommen hat.
- Eine ausreichende Motivation des Versicherten gegeben ist, sein Gewicht zu reduzieren.
- Das Operationsrisiko muss - angesichts weiterer im konkreten Fall gegebener Erkrankungen - tolerabel sein.
- Es darf keine manifeste psychische Erkrankung für die Entwicklung des Übergewichts ursächlich sein bzw. den Erfolg der Maßnahme gefährden.
- Es muss die Möglichkeit der lebenslangen medizinischen Nachbetreuung sichergestellt sein.
Unter Anwendung dieser Grundsätze, die sich auch die erkennende Kammer zu eigen macht, hat die Klägerin - ausnahmsweise - einen Anspruch auf die gewünschte minimalinvasive adipositas-chirurgische Maßnahme, auch wenn sie selbst noch nicht an einem über sechs bis zwölf Monate laufenden ärztlich geleiteten multimodalen Therapiekonzept - zumal erfolglos - teilgenommen hat. Denn die besonderen Umstände im Falle der Klägerin rechtfertigen eine Ausnahmesituation, bei der diese Voraussetzung entbehrlich ist.
Zu Gunsten der Klägerin ist nämlich zu berücksichtigen, dass deren Adipositas bereits seit vielen Jahren besteht, und sie in den letzten Jahren immer wieder - wenn auch erfolglos - auf Eigeninitiative hin Bemühungen unternommen hat, ihr Körpergewicht zu reduzieren (vgl. Aufzählung des Sachverständigen Dr. F. in seinem Gutachten vom 26.09.2020). Durchgreifende und nachhaltige Erfolge hat sie jedoch nicht erzielen können. Deshalb wird auch in der S-3-Leitlinie "Chirurgie der Adipositas" Version Februar 2018 unter Abschnitt 4.2 "Indikation/Kontraindikationen zur Operation", Empfehlung 4.9 unter Punkt 3 festgehalten:
Unter bestimmten Umständen kann eine Primärindikation zu einem adipositas-chirurgischen Eingriff gestellt werden, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgte. Die primäre Indikation kann gestellt werden, wenn eine der folgenden Bedingungen gegeben ist:
bei Patienten mit einem BMI von 50 oder mehr kg/m²
bei Patienten, bei denen ein konservativer Therapieversuch durch das multidisziplinäre Team als nicht erfolgversprechend bzw. aussichtslos eingestuft wurde
bei Patienten mit besonderer Schwere von Begleit-und Folgeerkrankungen, die keinen Aufschub eines operativen Eingriffs erlauben.
Dabei hat das Hessische Landessozialgericht nicht nur in seiner Entscheidung vom 22.05.2014 (L 8 KR 7/11) auf diese Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften abgestellt, da diese eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen darstellt. Auch wenn diese nicht rechtlich bindend sind, gibt sie doch wichtige Entscheidungshilfen, zumal sie auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und auf in der Praxis bewährten Verfahren beruht. "Die Klassifizierung als S-3-Leitlinie bringt zum Ausdruck, dass diese auf der Grundlage einer formellen oder systematischen Evidenzrecherche erstellt wurde und alle Elemente einer systematischen Entwicklung (Logik-, Entscheidungs- und Outformanalyse, Bewertung klinischer Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung) beinhaltet" (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 22.05.2014 - L 8 KR 7/11).
Im Übrigen ist zu beachten, dass die Erfolgsaussichten einer rein konservativen Therapie mit dem Ausmaß der Adipositas in einer Wechselbeziehung stehen, weshalb etwa beim Vorliegen einer vergleichsweise geringen Adipositas an die Durchführung einer vorherigen konservativen Therapie strengere Anforderungen zu stellen sind, als bei einem BMI von 50 und mehr. Daher ist es angemessen, wenigstens in Sonderfällen, in denen der BMI im oberen Bereich liegt und den Wert von 40 deutlich überschreitet, eine Magenverkleinerungsoperation krankenversicherungsrechtlich auch dann zu bewilligen, wenn die hinreichend glaubhaften und ernsthaften eigeninitiativen Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zu einem sechs- bis zwölfmonatigen multimodalen und ärztlich geleiteten bzw. überwachten Therapiekonzept entsprachen (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 22.05.2014 - L 8 KR 7/11; SG Mannheim, Urteil vom 17.01.2014 - S 9 KR 491/12).
Unter Berücksichtigung dieser konkretisierten Vorgaben ist zunächst festzustellen, dass laut Sachverständigengutachten des Dr. F. vom 26.09.2020 die Klägerin unter einer Adipositas mit einem schwankendem BMI zwischen 44 kg/m² und zuletzt 37 kg/m² leidet. Gewichtsbedingt kommt es bei der Klägerin zu einer Belastungsinsuffizienz und intermittierenden Kniegelenkschmerzen, was die Kammer als erhebliche Begleiterscheinungen der Adipositas erachtet. Laut Sachverständigengutachten liegt eine sehr gute Motivation zur Gewichtsreduktion bei der Klägerin vor, das Operationsrisiko ist tolerabel und andererseits besteht keine manifeste psychiatrische Krankheit als Kontraindikation. Zudem ist insbesondere die von der Klägerin ausgewählte Klinik Fritzlar laut Ausführungen des Sachverständigen von der DGAV zertifiziert und daher prinzipiell geeignet. Die von der Klägerin ausgewählte Klinik bietet darüber hinaus uneingeschränkt die Möglichkeit einer langfristigen Nachsorge.
Soweit die Beklagte darauf hingewiesen hat, dass die Klägerin (noch) nicht in ausreichendem Maße an einer mutimodalen Therapie teilgenommen habe, verweist das Gericht ebenfalls auf die Ausführungen des Sachverständigen Doktor F. Dieser hat ausführlich und plausibel erläutert, dass die konservativen Möglichkeiten bei der Klägerin mit Sicherheit als ausgeschöpft anzusehen sind. Die Klägerin hat bereits im Jahr 2012 über drei Monate, allerdings mit einer sehr intensiven Dichte, eine Ernährungstherapie mit zwölf Einheiten zu je einer Stunde absolviert. Den Ausführungen des Sachverständigen zufolge hätte eine Therapie mit zwölf Einheiten zu je einer Stunde verteilt auf sechs Monate, die zweifellos der Leitlinie entsprechen würde, keinen anderen Verlauf bewirkt, lediglich der formale Beleg für eine erfolglose Therapie und die Entscheidung über die Operationsnotwendigkeit seien dadurch erleichtert worden. Darüber hinaus würde der individuelle Verlauf, das Umsetzen des in der Ernährungstherapie erlernte Wissen und die Beibehaltung der regelmäßigen sportlichen Betätigung bzw. der aktuellen körperlichen Arbeit der Klägerin bestätigen, dass die konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Bei der Klägerin sei ohne Zweifel eine längerfristige Auseinandersetzung mit der Ernährung und den Lebensgewohnheiten erfolgt. Dies habe zum einen das im Vergleich zu ihrem Höchstgewicht bei der Begutachtung deutlich reduzierte Körpergewicht, zum anderen das gutachterliche Gespräch mit Beurteilung des aktuellen Lebensstils, insbesondere des Essverhalten, in der Begutachtungssituation gezeigt. Die Klägerin habe sich im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung sehr gut informiert gezeigt und sich mit ihren Ess-und Lebensgewohnheiten intensiv auseinandergesetzt und sich Verhaltensfehler der Vergangenheit weitgehend abgewöhnen können. Die Ernährungsanamnese, die körperliche Tätigkeit im Einzelhandel mit zusätzlicher sportlicher Betätigung im Rahmen der Möglichkeiten der Klägerin und das Fehlen psychologischer oder psychiatrischer Auffälligkeiten ließen außerdem keine sinnvollen Ansatzpunkte für eine weitere konservative Therapie erkennen, die einen Erfolg dieser Therapie erwarten lassen würden.
Schließlich belegt auch die interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S 3 zur "Prävention und Therapie der Adipositas" der Deutschen Adipositas-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (Version 2.0 von April 2014), dass eine chirurgische Therapie auch primär ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden kann, wenn die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist oder der Gesundheitszustand des Patienten keinen Aufschub eines operativen Eingriffs zur Besserung durch Gewichtsreduktion erlaubt (Prävention und Therapie der Adipositas Punkt 5.45 vom April 2014). Ersteres ist aber nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen bei der Klägerin der Fall.
Nach alledem war der Klage stattzugeben, der Bescheid der Beklagten vom 21.12.2017 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 18.04.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die gewünschte minimalinvasive adipositas-chirurgische Maßnahme als Sachleistung zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.