S 4 AS 364/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 4 AS 364/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 147/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Eintritt einer Sanktion.

Der 1999 geborene Kläger lebt zusammen mit seiner Mutter und drei jüngeren Geschwistern. Die Familie bezieht vom Beklagten laufend Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch - SGB II -. Im hier streitbefangenen Zeitraum wurden ihnen mit Bescheid vom 5.6.2019 für die Zeit vom 1.7. bis 31.12.2019 vorläufig Leistungen gewährt. 

Der Kläger stand während des Leistungsbezuges in häufigem Kontakt mit dem Beklagten. Er hatte den Hauptschulabschluss gemacht, jedoch keine weitere Berufsausbildung begonnen. Bereits in der Zeit vom 22.10.2018 bis 11.3.2019 absolvierte der Kläger auf Vermittlung und Kosten des Beklagten eine Coachingmaßnahme „MSC“ (modulares systemisches Coaching) bei dem Träger „C.“. Ausweislich der Maßnahmebeschreibung waren die übergeordneten Ziele die Heranführung an den Arbeitsmarkt sowie Beratung und Stärkung der jeweiligen Lebenslage des Betroffenen. Aus den Beratungsvermerken der Beklagten geht hervor, dass sich bereits damals die Einhaltung von Terminen durch den Kläger problematisch gestaltete. Ferner geht daraus hervor, dass sein familiäres Umfeld schwierig war und teilweise auch Familienhilfe in Anspruch genommen wurde. Der Träger „C.“ erstellte über den Kläger einen Abschlussbericht vom 15.3.2019 (Bl. 4 ff. der Verwaltungsakte).

In der Zeit vom 2.5. bis 5.7.2019 nahm der Kläger auf der Basis der Eingliederungsvereinbarung vom 8.5.2019 an der Maßnahme „LoLA XII“ (= Lokales Netzwerk Lernen und Arbeiten), eine Maßnahme des Maßnahmeträgers D. A-Stadt gGmbH zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 45 SGB III teil. Ausweislich der Eingliederungsvereinbarung war Bildungsziel die Aktivierung von Bewerber*innen U 25 zur Überwindung von Vermittlungshemmnissen mit einem Lotsen für individuellen pädagogischen Förderbedarf. Zielgruppe dieses Angebotes waren Teilnehmer*innen U 25, die wegen vielfältiger Vermittlungseinschränkungen an den Arbeits- und Ausbildungsmarkt herangeführt werden müssen und einen hohen sozialpädagogischen Unterstützungsbedarf haben. Die Dauer der Maßnahmen war mit „individuell bis max. 11,5 Monate“ angegeben. Die Anzahl der Wochenstunden betrugen 30 und verteilten sich auf tägliche Unterrichtszeiten von ca. 9 bis 15:00 Uhr.

Ab 16.7.2019 nahm der Kläger basierend auf der Eingliederungsvereinbarung vom 23.7.2019, an der Fortsetzungs-Maßnahme „LoLA XIII“ teil. LoLA XIII verfolgte als Fortsetzung der Maßnahme LoLA XII das gleiche Bildungsziel, war an dieselbe Zielgruppe gerichtet und fand ebenfalls mit 30 Wochenstunden, verteilt auf tägliche Unterrichtszeiten von 9.00 bis 15.00 Uhr, statt. Ausweislich der Beratungsvermerke des Beklagten kam es sowohl während der Maßnahme LoLA XII als auch bei der Maßnahme LoLA XIII zu Fehlzeiten des Klägers. Aus einem Vermerk vom 14.8.2019 geht hervor, dass sich die Anwesenheitszeit des Klägers bei der Maßnahme seit dem letzten Interventionsgespräch deutlich verbessert habe und er den Besuch der Abendschule zur Erreichung des Realschulabschlusses anstrebe. Eine Fortsetzung der Maßnahme LoLA wurde seitens des Beklagten für notwendig erachtet. Ferner geht aus dem Vermerk hervor, dass vereinbart worden sei, dass der Kläger weiter an LoLA teilnehme und abends die Abendschule besuche. Ab 20.8.2019 besuchte der Kläger die Abendschule. Der Maßnahmeträger teilte dem Beklagten dann unter dem 26.8.2019 mit, dass der Kläger seit dem Einstufungstest der Abendschule unentschuldigt fehle. Aus dem Vermerk vom 26.8.2019 geht weiter hervor, dass der Kläger schriftlich mitgeteilt habe, dass er sich bei der Maßnahme „überfordert“ fühle. 

Der Maßnahmeträger mahnte den Kläger erstmalig mit Schreiben vom 26.8.2019 ab, da dieser bereits seit 16.8.2019 unentschuldigt im Projekt LoLA gefehlt habe. Der Kläger nahm auch weiterhin an der Maßnahme nicht mehr teil, so dass der Maßnahmeträger unter dem 2.9.2019 eine zweite Abmahnung an den Kläger übersandte. 

Aufgrund fortdauernder unentschuldigter Fehlzeiten, brach der Beklagte die Maßnahme zum 6.9.2019 ab und hörte den Kläger zum möglichen Eintritt einer Sanktion an. 

Weder auf die Anhörung noch auf die Abmahnungen des Maßnahmeträgers hin erfolgte eine Reaktion des Klägers.

Mit Bescheid vom 15.10.2019 stellte der Beklagte für die Zeit vom 1.11.2019 bis 31.1.2020 eine Beschränkung des Arbeitslosengeldes II auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung fest. Gleichzeitig hob er den Bewilligungsbescheid vom 5.6.2019 für die Zeit vom 1.11 bis ein 31.12.2019 in Höhe der vorgenannten Minderung auf. Zur Begründung führte er aus, dass ein wichtiger Grund für das unentschuldigte Fehlen nicht vorliege. Eine Verkürzung des Minderungszeitraums auf 6 Wochen sei nach Abwägung der im Fall des Klägers vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und verwies zur Begründung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -  vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16).

Im vom Kläger angestrengten Eilverfahren (7 AS 157/19 ER) ordnete das Sozialgericht mit Beschluss vom 2.12.2019 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid vom 15.10.2019 an, soweit dieser eine Minderung von mehr als 30 % des maßgebenden Regelbedarfs festsetzte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.5.2020 hob der Beklagte den Bescheid vom 15.10.2019 insoweit auf, als die verfügte Minderung des Arbeitslosengeldes II über dem Betrag von monatlich 101,70 € (30 % des maßgeblichen Regelbedarfs) hinausgehe. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück: Der Kläger habe im Zuge des Eilverfahrens mitgeteilt, dass er die Maßnahme LoLA nicht wieder antreten wolle, da er seit dem 20.8.2019 die Abendschule mit dem Ziel des Erwerbs des Realschulabschlusses besuche. Der Kläger sei nach § 2 SGB II verpflichtet, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen sowie aktiven Eilmaßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitzuwirken. Gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB II verletzten erwerbsfähige Leistungsberechtigte dann ihre Pflicht, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben hätten. Diese Voraussetzungen lägen im Fall des Klägers vor, denn er habe durch sein unentschuldigtes Fernbleiben den Anlass zum Abbruch der Maßnahme gegeben. Ein wichtiger Grund hierfür liege nicht vor. Der Besuch der Abendrealschule stelle keinen wichtigen Grund dar, da eine Abendschule darauf ausgerichtet sei, dass die Schüler tagsüber einer Beschäftigung nachgingen und abends die Schule besuchten. Aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 5.11.2019 sei die Sanktion auf 30 % des maßgebenden Regelbedarfs zu reduzieren. Es komme vorliegend - angesichts der Gesamtumstände - weder eine Verkürzung des Minderungszeitraums noch ein vollständiges Absehen von der Minderung aufgrund einer außergewöhnlichen Härte - wie vom BVerfG auch für Minderungen bis 30 % vorgegeben in Betracht. Der Kläger habe sich weder einsichtig gezeigt, noch bestehe bei ihm Bereitschaft, seiner Verpflichtung für die Zukunft nachzukommen. Anhaltspunkte für die Annahme einer besonderen Härte lägen nicht vor.

Hiergegen hat der Kläger am 24.6.2020 beim Sozialgericht Kassel Klage erhoben. Er verweist auf einen Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 26.11.2020 (L 29 AS 2004/19 BER) und begehrt die Aufhebung der Sanktion. Zur Begründung führt er aus, dass weder die Gesetzeslage noch der Beklagte dem Kläger die Möglichkeit gegeben habe, seine Mitwirkung nachzuholen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 15.10.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.5.2020 aufzuheben. 

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. 

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 4.3.2021 den Kläger zu den Umständen des Abbruchs der Maßnahme gehört. Hierzu wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die zulässige Klage ist nicht begründet. 

Der Bescheid vom 15.10.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.5.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. 

1. Der Kläger hat den Tatbestand einer Pflichtverletzung gemäß § 31 Abs. 1 S.1 Nr. 3 SGB II erfüllt. 

Danach verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflicht, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. 

Hier kommen sowohl die Tatbestandsalternativen „eine Maßnahme abbrechen“ als auch „Anlass für den Abbruch geben“ in Betracht. 

Nach Aktenlage nahm der Kläger seit 16.7.2019 an der Maßnahme LoLA teil. Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass er jedenfalls seit 20.8.2019 dort ohne Entschuldigung und Abwesenheitsnachricht fehlte. Trotz Abmahnungen des Maßnahmeträgers vom 26.8 und 2.9.2019 änderte der Kläger sein Verhalten nicht. Er begann ab 20.8.2019 mit dem Besuch der Abendschule und besuchte seitdem die Maßnahme LoLA nicht mehr. Bereits darin kann die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „eine Maßnahme abbrechen“ gesehen werden. Denn ein über zwei Wochen anhaltendes nicht entschuldigtes Fernbleiben von der Maßnahme lässt auch im subjektiven Bereich darauf schließen, dass der Kläger die Maßnahme nicht mehr fortführen wollte. Dies entspricht auch seinem Vortrag im sich anschließenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren, in dem mitgeteilt wurde, dass der Kläger die Maßnahme nicht wieder antreten werde. 

Jedenfalls ist auch die Alternative „Anlass für den Abbruch der Maßnahme gegeben haben“ erfüllt. Denn der Beklagte hat aufgrund der unentschuldigten Fehlzeiten unter dem 6.9.2019 den Abbruch der Maßnahme eingeleitet. Hierbei handelte der Beklagte nicht allein aufgrund der bekannten Fehlzeiten, sondern bemühte sich im Vorfeld sogar um eine Kontaktaufnahme zum Kläger. Aus den Akten ist ersichtlich (Vermerk vom 26.8.2019) – ohne dass das Schreiben vorliegt – dass der Kläger schriftlich gebeten habe, nicht mehr in dieser Maßnahme teilnehmen zu müssen, da er sich damit überfordert fühle. Es fanden unter diesem Datum sowie unter dem 5.9.2019 jeweils eine Kontaktaufnahme des Beklagten zum Familienhelfer statt, der den Kläger auf die weitere Teilnahmeverpflichtung an LoLA bzw. die Notwendigkeit einer Teilzeitbeschäftigung neben der Abendschule hinweisen sollte. Zu einem Kontakt zwischen Kläger und Beklagten kam es demnach nicht.

2. Der Kläger war auch über die Rechtsfolgen seines Handelns schriftlich belehrt worden. In der von ihm unterzeichneten Eingliederungsvereinbarung vom 23.7.2019 wurde er schriftlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er verpflichtet war, an der in der Eingliederungsvereinbarung benannten Maßnahme LoLA teilzunehmen. Auf die sich aus der Verletzung dieser Pflicht ergebenden Rechtsfolgen wurde er - entsprechend der damaligen Rechtslage - deutlich hingewiesen, insbesondere auch auf die verschärften Sanktionen nach § 31a Abs. 2 S. 4 SGB II (Bl. 11 ff. Verwaltungsakte). 

3. Dem Kläger steht für sein Verhalten auch kein wichtiger Grund zur Seite. 

Eine Pflichtverletzung im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II läge nur dann nicht vor, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB II). Daran fehlt es.

Ein solch wichtiger Grund liegt hier nicht vor. Insbesondere ist der Besuch der Abendschule durch den Kläger seit 20.8.2019 kein wichtiger Grund dafür, an der Maßnahme LoLA nicht weiter teilzunehmen. Eine Abendschule ist regelmäßig so konzipiert, dass Menschen während des Tages erwerbstätig sein können und dann am Abend zum Zwecke ihrer Fort- und Weiterbildung die Schule besuchen. Sie ist also gerade darauf ausgelegt, auch hinsichtlich ihrer Anforderungen, dass sie neben einer tagsüber erfolgenden Beschäftigung absolviert werden kann. 

Weitere Anhaltspunkte zum Vorliegen eines wichtigen Grundes sind für die Kammer nicht ersichtlich und vom Kläger auch nicht vorgetragen worden. Solche ergeben sich auch nicht aus der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 4.3.2021. Insbesondere hat er keine weiteren Umstände dazu vorgetragen, die auf eine zum Zeitpunkt des Abbruchs der Maßnahme bei ihm bestehende Überforderung durch den Besuch der Maßnahme hindeuten könnte. Seine Angaben bestätigen vielmehr die Beschreibung der Maßnahme, nämlich, dass es sich um ein niedrigschwelliges Angebot zur Schaffung einer Tagesstruktur, Bearbeitung der individuellen Ausgangssituation u.ä handelte (s. auch Bl. 66 Gerichtsakte). 

4. Die damit an sich gesetzlich angeordnete Rechtsfolge für die vorgenannte festgestellte Pflichtverletzung eines unter 25-jährigen Leistungsberechtigten, nämlich Beschränkung des Arbeitslosengeldes II auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen gemäß § 31a Abs. 2 SGB II, ist jedoch nach dem Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 nicht mehr anzunehmen. Unter Berücksichtigung dieses Urteils ist zur Überzeugung der Kammer die Rechtsfolge (= Minderung des Arbeitslosengeldes II im Umfang von 30 % des maßgebenden Regelsatzes) - wie sie der Beklagte vorliegend festgesetzt hat - rechtlich nicht zu beanstanden.

a) Gegenstand des vorbezeichneten Urteils des BVerfG war die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Minderung staatlicher Leistungen zur Existenzsicherung, insbesondere zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten und in diesem Rahmen die Zulässigkeit der Sanktionen nach § 31a Abs. 1 S. 1-3 SGB II. Hierbei hat das BVerfG entschieden, dass § 31a Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die Höhe der Leistungsminderung 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt. Eine Minderung i.H.v. 30 % wird dagegen der Höhe nach als verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden angesehen. Allerdings hat das BVerfG eine Einschränkung dahingehend getroffen, dass eine Leistungsminderung i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs nur dann zumutbar ist, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr andauert. Das BVerfG hat angeordnet, dass die Sanktionsregelung des § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b SGB II in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II mit den tenorierten Einschränkungen weiter anwendbar seien (BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 -, juris,Rn 218). Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II sind, soweit sie über eine Minderung i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben (a.a.O. Rn 222).

Zwar hat sich das BVerfG in der vorbezeichneten Entscheidung nicht mit den speziell geregelten Sanktionen für Leistungsberechtigte unter 25 Jahren (§ 31 Abs. 2 S. 1-3 SGB II) auseinandergesetzt, jedoch ist zur Überzeugung der Kammer der Inhalt dieser Entscheidung auch auf diese Fälle zu übertragen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt auch für Leistungsberechtigte, die jünger als 25 Jahre sind. Diesem Verständnis ist offenbar auch der Beklagte gefolgt, indem er den zur Zeit der Urteilsverkündung noch nicht bestandskräftigen Bescheid vom 15.10.2019 entsprechend der Anwendungsanordnung des BVerfG zu § 31a Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II änderte und nunmehr im Widerspruchsbescheid eine Minderung i.H. von nur 30 % des maßgebenden Regelbedarfs festsetzte.

b) Auch unter Berücksichtigung der vom BVerfG angeordneten Prüfung dazu, ob eine außergewöhnliche Härte vorliegt oder ob die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt bzw. die künftige Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig erklärt wird, sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden.

Zwar ist der Ausgangsbescheid vom 15.10.2019 zu einem Zeitpunkt ergangen, als das Urteil des BVerfG noch nicht vorlag, so dass sich daher die Frage stellt, ob die Prüfung einer außergewöhnlichen Härte bzw. die Wohlverhaltensregelung vorliegend überhaupt Anwendung finden. Dies mag zu verneinen sein, wenn auch der Leistungsminderungszeitraum bis zum 5.11.2019 bereits abgelaufen war. Hier allerdings begann der Minderungszeitraum erst mit dem 1.11.2019, so dass dieser größtenteils in der Zeit nach der Verkündung des Urteils des BVerfG liegt; der Widerspruchsbescheid erging sogar erst im Mai 2020. Bei dieser Fallkonstellation hält die Kammer die Prüfung von Härte und Wohlverhaltensregelung für erforderlich. Der Beklagte hat im angefochtenen Widerspruchsbescheid dementsprechend auch sowohl Ausführungen zum Härtefall als auch zur Wohlverhaltensregelung gemacht. Unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer „außergewöhnlichen Härte“ sieht auch die Kammer keinen Anlass, von der dreimonatigen Sanktionsdauer abzusehen. Eine außergewöhnliche Härte liegt nicht vor. Der Beklagte hat sich nämlich bemüht, den Kläger, der sich fortlaufend in einer schwierigeren familiären Situation befand, in eine individuelle passgenaue Maßnahme zu vermitteln. Dass der Kläger die Maßnahme letztendlich nicht fortführte und stattdessen den Besuch der Abendschule favorisierte und diesen auch antrat, stellt keine außergewöhnliche Härte dar. Insbesondere ist nicht zu erkennen, dass der Besuch der Abendschule eine sofortige Einstellung der Maßnahmeteilnahme ohne Rücksprache mit dem Maßnahmeträger und dem Beklagten erfordert hätte. Zumal das Thema Besuch der Abendschule und gleichzeitige Teilnahme an dem Projekt LoLA ausweislich des Vermerks vom 14.8.2019 zwischen Kläger und Beklagtem vereinbar war. Weitere Anhaltspunkte, insbesondere neue, plötzlich auftauchende weitere persönliche Schwierigkeiten ergeben sich weder aus der Aktenlage, noch werden solche vom Kläger vorgetragen. Auch hat der Kläger in der Zeit nach Abbruch der Maßnahme zu keinem Zeitpunkt gezeigt, dass er in Zukunft erneut mitwirken möchte und z.B. den Wiedereintritt in die Maßnahme angeboten bzw. ein solches Interesse gezeigt. Im Gegenteil, so teilte er - wie aus dem angefochtenen Widerspruchsbescheid hervorgeht - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren definitiv mit, dass er die angeordnete Maßnahme nicht wieder antreten werde. Angesichts dieser Umstände lagen keine Anhaltspunkte für ein Wohlverhalten vor, das geeignet sein könnte zu einer Verkürzung der Sanktionsdauer zu führen.

c) Entgegen der Auffassung des Klägers und seinem Verweis auf den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 - L 29 AS 2004/19 B ER -, hält die Kammer auch eine ausdrückliche Belehrung über die Wohlverhaltensregelung während des laufenden Minderungszeitraumes im vorliegenden Fall nicht für erforderlich. Der vorzitierte Beschluss enthält lediglich den Tenor, so dass bei fehlender Kenntnis der Tatsachengrundlage eine Vergleichbarkeit zum vorliegenden Einzelfall nicht festgestellt werden kann. Vorliegend stützt sich die Kammer darauf, dass der Kläger bereits im Eilverfahren im November 2019 deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass er die Maßnahme nicht fortführen wollte. Der rechtskundig vertretene Kläger hätte aber bereits im Eilverfahren die Mitwirkung nachholen bzw. dem Beklagten seine zukünftige Mitwirkung anbieten können. Beides ist nicht erfolgt. Bereits aus diesen tatsächlichen Umständen ist zumindest im vorliegenden Fall eine gesonderte Belehrung des Beklagten für das so genannte Wohlverhalten nicht erforderlich. 

5. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Beklagte bei der Feststellung des dreimonatigen Minderungszeitraumes die gemäß § 31b Abs. 1 S. 4 SGB II erforderliche Ermessensausübung nicht vornahm. 

Nach dieser Regelung „kann“ der Träger bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, den Auszahlungsanspruch in Höhe der Bedarfe nach §§ 20 und 21 unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen. Dieser geforderten Ermessensentscheidung ist der Beklagte nachgekommen. Im Ausgangsbescheid vom 15.10.2019 führte der Beklagte aus, dass eine Verkürzung des Minderungszeitraums auf 6 Wochen nach Abwägung der vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt sei. Dies zeigt, dass der Beklagte ausgehend von dem maßgebenden Sachverhalt eine beanstandungsfreie Ermessensentscheidung traf. Hierzu war es nicht erforderlich, die abgewogenen Belange im Einzelnen ausdrücklich zu benennen. Insbesondere ist es für die Kammer nachvollziehbar, dass die Umstände des Abbruchs der Maßnahme und das Verhalten des Klägers dabei keinen zwingenden Anhalt boten, zu Gunsten des Klägers eine Verkürzungsentscheidung zu treffen. Der Umstand, dass der Kläger die Abendschule besuchte - die er im Übrigen nach einem Jahr abbrach - stellt offenkundig keinen Grund dar, ohne Einvernehmen mit dem Beklagten und dem Maßnahmeträger die begonnene Maßnahme eigenmächtig abzubrechen. Dann aber ist dies auch kein zu seinen Gunsten zu berücksichtigendes Argument im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung eine Verkürzung der Sanktionsdauer annehmen zu müssen.

6. Nach alldem war die Klage insgesamt abzuweisen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG

III. Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zuzulassen (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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