S 5 AS 721/19 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 721/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 343/19 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig vom 03.06.2019 bis 30.09.2019, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. 

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Gründe

Der Antragsteller, der die kroatische Staatsbürgerschaft besitzt, begehrt Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. 

Sein Antrag vom 03.06.2019,

den Antragsgegner vorläufig im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab Antragstellung für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitraum vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren,

ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache   möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund).

Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. 

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG v. 12.5.2005, 1 BvR 569/05). Im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (Hessisches LSG v. 27.7.2005 – L 7 AS 18/05 ER). 

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes kann derzeit nicht abschließend geklärt werden, ob der Antragsteller aufgrund des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist. Im Wege der Interessen- und Folgenabwägung ist der Antragsgegner vorläufig zur Gewährung des Existenzminimums zu verpflichten. 

Der Antragsteller erfüllt die Anforderungen der §§ 7 Abs. 1, 9 SGB II. Anhaltspunkte für eine fehlende Erwerbsfähigkeit liegen nicht vor und im Hinblick auf die vorgelegten Erklärungen kann im Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens von der Glaubhaftmachung eines gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland seit Juni 2013 ausgegangen werden. Der Antragsteller hat zudem hinreichend glaubhaft gemacht, über kein Einkommen und Vermögen zu verfügen und damit hilfebedürftig nach § 9 SGB II zu sein.

Der Antragsteller gehört zwar zu dem Personenkreis, der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1. Satz 1 Nr. 2b SGB II (in der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung; BGBl. I S. 3155) erfasst ist, denn ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zum Zweck der Arbeitsuche ist nicht erkennbar.  

Indes kann im Falle des Antragstellers der Ausnahmetatbestand des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II in Betracht kommen. Danach erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von Satz 2 Nummer 2 Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde.

Derzeit kann aufgrund fehlender Aufklärung im Tatsächlichen sowie einer rechtlich ungeklärten Situation nicht abschließend entschieden werden, ob der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit 2013 im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners hat, im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen und nicht von - dem Wortlaut nicht zu entnehmenden - rechtlichen Erfordernissen abhängig (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 –  B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 m. w. N.). Ein Aufenthalt mit örtlichem Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Inland ist dauerhaft, wenn und solange der Aufenthalt nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Durch das Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz nur formal begründe wird, um Sozialleistungen zu erhalten, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R). 

Für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts ist das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nicht entscheidend; maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse. Auch das SGB II enthält kein zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG. Der aufenthaltsrechtliche Status eines Antragstellers betrifft vielmehr die Frage, ob ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II eingreift (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10.10.2018 - L 9 AS 142/18 B ER; BSG, Urteil vom 30.01.2013; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6.11.2017 - L 8 SO 262/17 B ER -). 

Indes legt § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II nahe, dass der Gesetzgeber zur Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts von einer ordnungspolizeilichen Meldung ausgeht. Eine solche ist nach dem Wortlaut der Vorschrift zwar lediglich für den Beginn des gewöhnlichen Aufenthalts maßgebend, nach Sinn und Zweck der Regelung spricht aber Vieles dafür, dass ein fester Wohnsitz für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II bestehen muss. Die vorgelegten eidesstaatlichen Versicherungen der Tochter des Antragstellers und von Frau C., eine Bestätigung der Diakonie und eine ärztlichen Bescheinigung von Dr. D. legen zwar Nahe, dass der Kläger sich im Zeitraum seit Juni 2013 in A-Stadt aufhält. Eine Meldeadresse hatte er jedoch nur im Zeitraum vom 15.06.2013 bis 05.06.2014. Seitdem hat er keinen festen Wohnsitz mehr in der Bundesrepublik Deutschland. 

Die Rückausnahme dieser Regelung (§ 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II) greift vorliegend nicht ein; denn der Verlust der Freizügigkeit wurde beim Kläger nicht festgestellt. 
Um dem Interesse des Antragstellers nach Sicherung des Existenzminimums ausreichend Rechnung zu tragen ist eine Interessen- und Folgenabwägung zu treffen, die zugunsten des Antragstellers ausgeht. Existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II liegt eine verfassungsrechtliche Pflicht zugrunde (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG; BVerfG v.12.05.2005, 1 BvR 569/05). Gäbe man den Interessen des Antragsgegners den Vorzug, würden der Antragsteller für einen nicht absehbaren Zeitraum die Leistungen vorenthalten, die sie zur Aufrechterhaltung ihres Existenzminimums und damit für ein der Menschenwürde entsprechendes Leben benötigt. Die damit verbundenen Einschränkungen während des Zeitraumes ohne Leistungen sind auch im Falle einer Nachzahlung bei Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen. Dem ist ein höheres Gewicht beizumessen, als dem rein fiskalischen Interesse an der Vermeidung einer ggf. zu Unrecht erfolgten Leistungsgewährung (vgl. Hessisches LSG v. 04.01.2013, L 9 AS 781/12 B ER). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. 

Rechtskraft
Aus
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